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Symptom Nummer Eins: Wichtige Dinge verlieren
AKA: »Babe, hast du mein Portemonnaie gesehen?«
Geschrieben von Rox
Im Laufe meines Lebens habe ich so viele Dinge verloren. Alle Klassiker: dreizehn Handys, achtzehn Portemonnaies, zwei Pässe. Letzteres zog nicht nur einen verpassten Urlaub nach sich, sondern auch eine schriftliche Mahnung von Ihrer Majestät der Königin persönlich. Britische Pässe gehören dem Königshaus. Wer hätte das gedacht? Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich vor den verschiedenen Häusern stand, in denen ich gelebt habe, mich selbst ausgesperrt hatte, mit meinem Akku bei zwei Prozent den Schlüsseldienst anrufen musste und mich fragte, ob noch genug Geld auf der bis zum Anschlag ausgereizten Kreditkarte war, um wieder hineinzukommen. Eines Abends reichte es nicht, also schlief ich auf der Treppe vor dem Haus.
Was in meinem Körper geschah, wenn mir klarwurde, dass ich etwas Wichtiges verloren hatte, war ein mächtiger Cocktail aus Stress und Scham. Mein Magen fühlte sich an, als würde er sich umstülpen, mein Gesicht brannte und ich spürte, wie ich rot wurde. Ich hatte einen Kloß im Hals und musste meine Tränen zurückhalten, wenn ich begriff, was ich getan hatte. Wieder einmal. Jedes Mal, wenn ich etwas Wichtiges verlor, schimpfte ich mit mir wegen meiner mangelnden Sorgfalt und meiner Dummheit, schrie mich innerlich an in der Hoffnung, dass es mich irgendwie davon abhalten würde, weiterhin Dinge zu verlieren. Natürlich funktionierte es . nicht.
Der traurige Tiefpunkt war ein Brief, den mir meine Mum geschrieben hat, als sie im Sterben lag. Ich habe keine Ahnung, wo genau er mir abhandengekommen ist; wahrscheinlich bei einem meiner Umzüge in meinen Zwanzigern. Der Schmerz, den mir dieser Verlust beschert hat, ist fast unbeschreiblich. Ich hasste mich aus tiefstem Herzen für das, was ich getan hatte - dass ich etwas so Wertvolles verlieren konnte, etwas, das ich niemals wiederbekommen würde. Die letzten Worte meiner Mutter an mich. Was für eine furchtbare, verabscheuenswürdige Tochter ich war. Erst durch meine ADHS-Diagnose war ich in der Lage, den Klammergriff dieses Selbsthasses ein wenig abzuschütteln.
Die Tatsache, dass ich diesen Brief verloren habe, treibt mir nach wie vor Tränen in die Augen. Es macht mich unfassbar traurig. Aber jetzt schreie ich mich nicht mehr innerlich an, sondern atme tief durch, akzeptiere die Traurigkeit und bringe mir Mitgefühl entgegen.
Warum ich diese Geschichte erzähle? Um laut und deutlich zu sagen: »Ich verliere diese Dinge nicht mit Absicht!« Ich habe das Bedürfnis, das herauszubrüllen, um zu beweisen, wie sehr es schmerzt, Dinge zu verlieren, und damit du verstehst, dass ich das wirklich nicht absichtlich tue. Fast mein ganzes Leben lang haben Leute die Augen verdreht und mich als nachlässig, unverantwortlich und rücksichtslos bezeichnet. Deshalb erzähle ich hier von meinem größten Schmerz und hoffe, dass du nachvollziehen kannst, wie das alles passieren konnte. Nicht verstanden, dafür aber verurteilt und ohne jegliches Mitgefühl behandelt zu werden, hat zu den dunkelsten Momenten in meinem Leben geführt. Die Narben, die mich daran erinnern, trage ich auch heute noch auf der Haut.
Als ich von meiner ADHS-Diagnose erfuhr, ließen der ungeheure Selbsthass und die verzweifelten Versuche, mich zu rechtfertigen, etwas nach. Langsam veränderte sich meine innere Erzählung von der einer persönlichen Versagerin zu einer, in der ich Verständnis für mich selbst entwickelte. Moment mal, dachte ich. Ich habe also die Wahrheit gesagt? Ich war also wirklich nicht absichtlich so vergesslich? Es gibt möglicherweise einen Grund dafür? Es war, als wäre ich mein Leben lang kurz vor dem Ersticken gewesen und konnte nun auf einmal wieder atmen. Ich war kein kaputter Mensch. Ich war in Ordnung. Verurteilung oder Beschimpfungen konnte ich nicht mehr gebrauchen; was ich brauchte, war eine Therapie und jede Menge Verständnis. Das war für mich das Wichtigste an der Diagnose: dass ich die lähmende Scham loswurde, die ich mein Leben lang mit mir herumgetragen hatte.
Eine Diagnose kann natürlich nicht zaubern. Ich verwandelte mich durch sie nicht plötzlich von der Königin des Selbsthasses zu einem vollwertigen Mitglied der »Leben, lachen, lieben«-Brigade. Aber die Geschichte, die ich mir selbst erzählte, wenn ich etwas verlor, war nun eine andere. Eine Diagnose bedeutet nicht, dass man nichts mehr verliert. Ich trinke keinen Alkohol mehr, ich bin in einer Beziehung, in der ich sehr unterstützt werde, ich hatte eine hervorragende Therapie - und dennoch verliere ich regelmäßig Dinge. In den vergangenen sechs Monaten beispielsweise habe ich drei Portemonnaies verloren. Das erste, ein wunderschönes, lindgrünes mit Gravur, das Rich mir zu Weihnachten geschenkt hatte, kam mir irgendwo am Bahnhof London Bridge abhanden. Ruhe in Frieden. Rich war lieb und verständnisvoll und kaufte mir eine neue Geldbörse - die ich ein paar Wochen später irgendwo am Bahnhof Kings Cross verlor. Ruhe in Frieden. Wieder war Rich lieb und verständnisvoll. Womit wir bei Portemonnaie Nummer drei wären. Hier ist seine Geschichte.
Ich saß in einem Zug auf dem Weg nach Brighton, wo ich Rich nach der Arbeit treffen sollte, als ein vertrautes Gefühl in mir aufstieg: pure Panik. Am Ausgang des Bahnhofs durchsuchte ich verzweifelt meine Taschen. Mir schlug das Herz bis zum Hals, mein Gesicht wurde heiß, und ich spürte, wie meine Gefühle hochkochten, als mir klar wurde, dass ich wieder einmal eine Geldbörse verloren hatte. Ich brach in Tränen aus und hatte Mühe, ruhig zu atmen. Ich rief Rich an, der, typisch Rich, früh dran war und bereits draußen vor dem Bahnhof auf mich wartete. Mit zittriger Stimme erklärte ich ihm, was passiert war. Er beruhigte mich, kam herein, suchte mich, kaufte mir ein neues Ticket (in Großbritannien muss man sein Ticket vorzeigen, um den Bahnhof zu verlassen!), brachte mich durch die Schranken und hielt mich dann geschlagene zehn Minuten im Arm, während ich an seiner Schulter weinte und in Endlosschleife den Satz Ich bin so dumm, ich bin so dumm wiederholte. Er widersprach mir und versicherte mir zum millionsten Mal, dass alles in Ordnung wäre. Wer dort in Brighton an uns vorbeiging, dachte wahrscheinlich, wir wären dabei uns zu trennen. Keiner konnte wissen, dass so manchmal das Leben mit ADHS aussah.
Nachdem ich mich beruhigt hatte, schlug Rich vor, statt ein weiteres teures Portemonnaie zu kaufen, sollten wir mir diesmal vielleicht ein günstigeres besorgen. Außerdem schlug er vor, dass er die meisten meiner Karten und Ausweise verwahren würde, damit ich, falls ich auch diese Geldbörse verlieren würde, nur meine Bankkarte ersetzen müsste. Gott segne diesen Mann. Er hat mich nie angemotzt, mir nie Schuldgefühle gemacht. Er half mir, mit meiner Scham zurechtzukommen und Strategien zu finden, die es mir in Zukunft leichter machen würden. Während ich dies schreibe, habe ich bereits seit vier Monaten kein Portemonnaie mehr verloren. Jemand sollte dem Guinnessbuch der Rekorde für Menschen mit ADHS Bescheid sagen!
Was helfen kann
Wahrscheinlich kennst du das alles schon: den »ADHS-Check« beim Verlassen des Raums, die Klebezettel an den Türen als Erinnerung daran, was man mitnehmen muss, die für Schlüssel reservierte Tasche . Das Internet ist voller praktischer Tipps, wie man vermeiden kann, Dinge zu verlieren. Für mich hat keiner davon funktioniert. Vielleicht hat es einen Tag lang geklappt, aber dann vergaß ich schnell wieder, was ich tun sollte, und verlor nicht nur Dinge, sondern fühlte mich auch noch schlecht, weil es mir nicht gelang, all die guten Ratschläge zu befolgen! Eine Doppelportion Scham. Nein, danke.
Gehen wir es also anders an. Du hast ADHS. Du wirst Dinge verlieren. Versuchen wir daher dafür zu sorgen, dass es die weniger wichtigen sind. Häufig ist Akzeptanz der Schlüssel dazu, sich besser zu fühlen. Wenn du akzeptierst, dass du Dinge verlieren wirst, kämpfst du nicht gegen dich selbst oder machst dir Schuldgefühle. Weißt du, was dann passiert? Du verlierst weniger Dinge! Zauberei.
Hier einige erprobte Tricks, die tatsächlich funktionieren:
VERGISS DIE SCHAM: Wenn du etwas verlierst, fühlt sich das einfach nur schrecklich an. Besonders wenn es etwas ist, dass dir wichtig war. Der Stress und die Schuldgefühle, die dadurch entstehen, dass du etwas verloren hast, sind schmerzhaft genug. Du solltest dich nicht auch noch bestrafen oder quälen. Und auch sonst niemand. Du hast, was auch immer es war, nicht absichtlich verloren. Es wäre dir viel lieber gewesen, wenn das nicht geschehen wäre, und es fühlt sich furchtbar an. Also . kein Herummeckern. Von niemandem, auch nicht dir selbst. Du hast ADHS. Du verlierst Dinge. Das ist in Ordnung. Du bist kein schlechter Mensch.
VERSUCHE, DEINE EMOTIONEN ZU REGULIEREN: Etwas Wichtiges zu verlieren, kann dazu führen, dass du dich emotional überfordert fühlst und glaubst, mit der Situation nicht fertigwerden zu können. Symptome, wie die einer Panikattacke, sind nicht ungewöhnlich bei einer maximal unter Stress...
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