Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Ein Grenzzaun in der nordmexikanischen Wüste, ein hinfälliger Schuppen in den unwirtlichen Weiten Patagoniens, dazwischen erstreckt sich das andere Amerika, das schon lange nicht mehr das ist, wofür wir es halten. Dieses Amerika ist heute widersprüchlicher, rätselhafter, brutaler, schöner, bizarrer, mit einem Wort: spannender denn je. Und eine ganze Generation von Autoren ist dabei, diesen Kontinent neu zu entdecken, kreuz und quer zu vermessen und zu kartographieren - und zwar in Form von >crónicas<, literarischen Reportagen.
Verdammter Süden ist eine kleine Wunderkammer solcher Reportagen, es sind die preisgekrönten Geschichten namhafter Autorinnen und Autoren. Geschichten von bolivianischen Wrestlerinnen und Herzblatt spielenden peruanischen Gefängnisinsassen, vom Leben und Sterben in Ciudad Juárez, von der brasilianischen Welthauptstadt der Zwillinge, transzendentaler Obdachlosigkeit in Patagonien, sechs Monaten mit Mindestlohn in Medellín, einem argentinischen Dorf, das seine eigene Telenovela produziert, von einem larmoyanten Beerdigungscomedian in der Karibik.
Es sind seltsame, bewegende, abgründige und komische Geschichten - Geschichten, die die Welt zum Leuchten bringen.
Mit crónicas von: Josefina Licitra, Alberto Salcedo Ramos, Martín Caparrós, Andrés Felipe Solano, Fabrizio Mejía Madrid, Alma Guillermoprieto, José Alejandro Castaño, Juan Pablo Meneses, Guido Bilbao, Leila Guerriero, Héctor Pavón, Marcela Turati und Cristian Valencia.
Noch merkte man es ihr nicht an. Das letzte Mal, als sie festgenommen wurde, am 5. Mai, lag Silvina mit ihrem Freund im Bett, schwanger und nackt, aber noch merkte man es ihr nicht an. Das Einsatzkommando überwältigte sie 15 Blocks von Villa Hidalgo entfernt, im Bezirk San Martín, in einem kleinen Haus aus gebleichtem Zement, mit vertrocknetem Garten zur Straße und einem weiteren Anbau nach hinten raus. Silvina hatte sich mit Jorge, einem ihrer Liebhaber, in eins der Zimmer eingeschlossen, und sie vögelten im Wind eines Deckenventilators. In typisch argentinischer Manier stürmte das Kommando das Zimmer und trieb sie unter Fußtritten ins Freie.
»Verfickte Scheiße«, schrie Silvina. Die Männer schlugen härter zu und hinderten sie daran, sich anzuziehen.
»Verdammter Scheißbulle, gib mir die Klamotten, du Penner.«
Sie traten ihr in die Nieren, den Magen, gegen die Beine und in den Hintern. Silvina schrie:
»Nicht in den Bauch! Ich will meinen Anwalt.«
Wenige Tage später titelte Clarín: »Sie ist schwanger, 15 Jahre alt und verdient ihr Geld mit Entführungen.« Sie war im zweiten Monat schwanger. Aber inzwischen?– es sind 60 Tage vergangen, als wir uns an einem geheimen Ort irgendwo in Buenos Aires treffen?– weiß ich, dass sie das Kind verloren hat.
Denn Silvina, das ist schnell klar, ist einer dieser Fälle, bei denen man die Sicherheit im Urteil komplett verliert.
»Ich wollte ein Kind, um irgendwas zu haben«, wird sie mit ihren kleinen, geschwollenen Augen später sagen. Es ist die Art Entzündung, die von Betäubungsmitteln oder Weinen verursacht wird.
An einem Dienstagabend, es ist der 17. Juni, fahre ich auf der Autobahn in Richtung Treffpunkt. Sie ist auf der Flucht. Gestern ist sie zum vierten Mal aus einer Jugendanstalt ausgebrochen, und ihr Anwalt versichert mir, dass sie irgendwo versteckt gehalten wird. Sie ist krank und hat praktisch niemanden. Ihre Eltern, die Großeltern und die meisten übrigen Verwandten sind alle tot. Sie hat keine Freunde, und ihre drei Liebhaber sitzen im Gefängnis. Das Einzige, was Silvina in diesem Moment hat, sind ein entzündeter Uterus nach einer Fehlgeburt und Angst. Sie ist gerade 15 Jahre alt geworden, und es wird ihr vorgeworfen, Anführerin einer Gang von Expressentführern zu sein, die als »Die Zwerge« bekannt sind?– ein Name, den die Polizei sich ausgedacht hat und der sich auf das Alter der Mitglieder bezieht?–, ferner der Diebstahl einiger Autos sowie Kidnapping in mindestens 20 Fällen.
Das Ende?– vorausgesetzt, die Geschichte ist überhaupt schon vorbei?– begann sich im März und April dieses Jahres abzuzeichnen. Innerhalb von nur zwei Monaten entführte die Gang acht Menschen?– darunter Cristos Trasivulidis, einen griechischen Unternehmer und Reeder, den sie für 10000 Dollar Lösegeld wieder freiließen?– und schleppten sie kreuz und quer durch Villa Hidalgo in San Martín: ein undurchsichtiges, anarchisches Straßengewirr mitten im Zentrum von Buenos Aires. In den Zeugenberichten erwähnt ein Entführungsopfer, dass man ihn gezwungen hätte, Hasch zu rauchen. Ein anderes Opfer beklagt sich darüber, dass ihre Entführer sie allein zurückgelassen hatten, als sie Zigaretten kaufen gingen. Und ein drittes Opfer versichert, dass »das Mädchen vor meinen Augen mehrmals mit verschiedenen Typen Sex hatte«. Sie alle sind sich jedenfalls in einem Punkt einig: Die Gang wurde von einer jungen Frau angeführt, und diese Frau hatte rosafarbenes Haar.
Auf Grund dieser Aussagen wurde Silvina am 5. Mai von der Kriminalpolizei San Isidro gestellt, in dem Haus, das früher einmal ihren Großeltern gehört hatte. Jorgito, ein weiteres Gründungsmitglied der Gang, wurde in die Haftanstalt Belgrano eingeliefert. Silvina landete in einer zwei mal zwei Meter großen Zelle im Frauengefängnis von San Martín. Dort besuchten sie eine Tante?– eigentlich die einzige verbliebene Verwandte?– und eine Sozialarbeiterin. Kurze Zeit später wurde sie in die Staatliche Pflegeeinrichtung Ursula Llona de Inchausti verlegt, eine der sichersten Jugendanstalten Südamerikas. Dort blieb Silvina einen Monat, dann wurde sie in einigen Anklagepunkten freigesprochen und in die Anstalt Pelletier in La Plata verlegt. Silvina entkam durch die Tür, durch die die Schmutzwäsche abtransportiert wird.
7. Mai, in der Pflegeeinrichtung.
Vor diesem heimlichen Treffen hatte ich Silvina bloß ein einziges Mal sehen können, nur für zehn Minuten. Die Begegnung fand in der Pflegeeinrichtung Inchausti statt: ein vierstöckiges Gebäude mit Gründerzeitfassade, das sich über die Calle Perón erhebt, im Viertel Once. Auf den ersten Blick mag man es für ein Altenpflegeheim oder für ein Stundenhotel halten, mit einer Bronzeplakette am Eingang. Aber auf den zweiten Blick wirkt das Ganze plötzlich unheilvoll: Die Scheiben sind verspiegelt, die Fenster vergittert.
Drinnen merkt man, dass es sich um garantiert kein Stundenhotel handelt. Man betritt eine kleine Lobby mit zwei alten Sesseln aus grünem Leder, in einem liegt schlafend ein orangefarbener Kater, der alle viere von sich streckt. Er kann sich glücklich schätzen, denn er passt hier als Einziger durch die Gitterstäbe.
Neben dem Kater sind drei Aufseherinnen zugegen, die alle etwas benommen wirken. Sie trinken gesüßten Mate und lassen sich von einem Wachmann bedienen. Der Kontrast zwischen seinen freundlichen Gesten und dem bedrohlichen Schimmern seiner frisch polierten, schwarzen Kampfstiefel, ist augenfällig. Er bietet auch mir einen Mate an, und ich kann nicht aufhören, ihm auf die Füße zu starren.
»Wenn ich heute einen Einstellungstest machen müsste, würde ich schlechter abschneiden als damals, als ich hier angefangen habe.«
Eine der Aufseherinnen hat offenbar eine Anwandlung von Aufrichtigkeit. Sie erzählt, dass derzeit 25 Mädchen in der Einrichtung untergebracht sind, alle sehr impulsiv, und jederzeit müsse man damit rechnen, dass eine ausrastet und ein ganzes Stockwerk in Schutt und Asche legt.
»Einmal haben die den Keller auseinandergenommen. Die Jungs betragen sich ganz okay, aber die Mädels sind fürchterlich. Die bedrohen einen die ganze Zeit, die hören kein Stück auf einen. Die bitten dich um eine Zigarette und dann drücken sie sich die Glut so lange auf die Pulsadern, bis sie bluten. Die machen das, damit sie ins Krankenhaus kommen. Und das Packpapier von den Paketen, die sie kriegen, rollen die so fest ein, dass sie sich damit richtig schneiden können. Die Sache mit den Zigaretten ist echt durchgeknallt«, sagt sie mit einem gedankenvollen Stirnrunzeln und nimmt einen tiefen Zug von ihrer Marlboro. Die Luft ist schlecht, und ich will hier raus. Alle Aufseherinnen haben schwarz gefärbte Haare. Ich frage mich, ob Wella nicht eine »Aufseherinnenschwarz«-Linie auf den Markt gebracht hat, weil die Farbe schlicht einzigartig ist.
Die Direktorin hat die gleiche Haarfarbe. Sie ist eine stämmige Frau mit sehr blauen Augen?– eine gewisse Ähnlichkeit mit der Schauspielerin Mirta Wons ist unverkennbar?– und kommt eine halbe Stunde nach unserer Ankunft in die Lobby, um uns den Weg zu Silvina aufzuschließen. Ich sage ›uns‹, weil ich mit Gustavo Semorile hier bin, einer der beiden Anwälte, die Silvinas Tante engagiert hat. Semorile ist ein großer, hagerer Mann mit offiziösem Auftreten?– stets trägt er Krawatte, einen beigen Mantel und Brille?–, der wider Erwarten empathisch und besonnen wirkt. Er gehört zu denen, die gern im Scherz reden, aber im Ernst, oder im Ernst, aber im Scherz. Diese ständigen Mehrdeutigkeiten können durchaus irritieren, aber ihn selbst scheinen sie gut zu unterhalten. Er stellt mich Mirta Wons als Mitarbeiterin vor. »Weil Journalisten hier keinen Zutritt haben«, flüstert er mir heiter zu.
Es geht in Mirtas Büro hinauf. Die Fahrstuhlkabine ist mit oxidiertem Metall beschlagen, es ist eng darin, viel zu eng, alles hier ist eng, denke ich, und ich denke an die Zellen, an die Gitter vor den Fenstern, an die Zigarettenstummel, den Mate, die Kampfstiefel, und ich will hier raus.
Ich will hier raus.
Der Weg zu Silvana öffnet sich nie: Um zu ihr zu gelangen, muss man sich einsperren.
Mirta ist sympathisch, proper und mütterlich. Aus ihrem Büro und durch das vergitterte Fenster hindurch blickt man auf eine verdreckte Straße, auf wütende Menschen, den zäh fließenden Verkehr. Diese unerträgliche Welt da draußen ist, aus dem Gefängnis betrachtet, ein einziger Garten Eden. Ich mustere Mirta: Sympathische und mütterliche Frauen arbeiten nicht an so einem Ort. Sie widmet mir erwartungsgemäß ein strahlendes Lächeln. Und sagt, dass ihr Anspruch darin bestehe, die Geschichte jeder Insassin kennenzulernen, jede einzelne für die Gesellschaft zurückzugewinnen, zu jeder ein persönliches Verhältnis aufzubauen.
»Es ist ein Jammer, dass ich zu Silvina fast keinen Zugang habe«, sagt sie lächelnd, »weil sie doch sonst mit jedem redet.«
Silvinas Festnahme gründete sich auf zehn Anklagepunkte, aber seit sie hier ist, wird ihr praktisch jeden Tag eine neue Entführung zugeschrieben. Gut möglich, dass es am Ende über 20 werden. Eine Zahl, die im Falle eines 15-jährigen Mädchens nicht ohne weiteres prozessierbar ist. Bei ihrer Festnahme rief die Kriminalpolizei Victoria Camacho Hidalgo an, die zweite Anwältin Silvinas, damit sie den Personalausweis ihrer Mandantin vorlegt: Sie konnten einfach nicht glauben, dass Silvina so jung ist. Vom Gericht wird sie wie eine »minderjährige Erwachsene« (das sind die 16- bis 18-Jährigen) behandelt, es wird also, anders als bei Minderjährigen, regulär gegen sie ermittelt,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.