Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Es gibt die Abschiede und dann das Herausfischen der Leichen - alles dazwischen bleibt Spekulation.
In den Jahren darauf ließ Thi Anh die entsetzlichen Erinnerungen an das Boot und das Lager aus sich herauströpfeln, bis sie nur noch ein Flüstern waren. Diesen letzten Abend jedoch hielt sie mit aller Macht fest, angefangen bei dem Duft von dampfendem Reis in der Küche bis hin zu der Berührung der Haut ihrer Mutter, als sie sie das letzte Mal umarmte.
Ihre Mutter, erinnerte sie sich, kochte gerade ihr Lieblingsgericht, karamellisiertes Schweinefleisch mit Eiern, und summte Tous les garçons et les filles von Françoise Hardy. Zwar hatten die Franzosen Vietnam vor fünfundzwanzig Jahren verlassen, ihre Musik aber war noch immer präsent, Yéyé-Melodien erklangen in den Häusern des Dorfes Vung Tham. Im Zimmer nebenan packte Anh ihren Rucksack und überlegte, was sie mitnehmen und was sie zurücklassen sollte. »Pack nur das Nötigste ein«, hatte ihr Vater gesagt. »Auf dem Boot ist nicht viel Platz.« Sie drückte die Schuluniform an sich, ehe sie sie einsteckte, den Faltenrock und die weiße Bluse mit den Ärmeln, die deutlich zu kurz waren für ihre sechzehnjährigen Arme.
Ihre Brüder Thanh und Minh taten im Zimmer gegenüber das Gleiche, ihre Sachen lagen quer über den Fliesenboden verstreut, und sie hörte, wie sie miteinander stritten. Sie mussten sich einen Rucksack teilen, und Thanh fand, dass Minh weniger einpacken dürfe als er, da seine Kleidung etwas größer ausfiel, weil Minh dreizehn war und er zehn. »Deine Sachen nehmen viel mehr Platz weg. Es ist nur gerecht, dass ich mehr einpacken darf als du.« Ihre Mutter folgte dem Lärm und betrat das Zimmer, im Schlepptau den Geruch von karamellisiertem Fleisch. Als Thanh ansetzte, ihr die Angelegenheit zu erklären, versagte ihm die Stimme; durch den Ärger in ihrem Gesicht verpuffte sein banales Problem. »Tut mir leid«, murmelte er, und Minh grinste triumphierend. »Nicht so wichtig.«
Durch die offene Zimmertür sah Anh ihren jüngeren Bruder Dao, der den Streit von seinem Futon aus verfolgte. Ängstlich nestelte er an seiner Decke, das große blaue T-Shirt viel zu groß für ihn, ein Erbstück von Thanh. Anh wusste, dass er es nicht mochte, wenn sich seine Brüder stritten, aus Angst, eine Seite wählen zu müssen und den anderen zu verärgern. Von allen ihren Geschwistern machte sich Anh um Dao die meisten Sorgen. Sie machte sich Sorgen, wie sein Leben in Amerika aussehen und ob er trotz seiner Schüchternheit Freunde finden würde, wenn sie erst einmal dort wären. In den vergangenen Monaten hatte sie immer wieder versucht, ihn aus seinem Schneckenhaus zu locken, und ihn ermuntert, mit den anderen Dorfkindern am Banyanbaum Murmelspiele zu spielen. »Bitte nicht«, hatte er jedes Mal gesagt und sich halb hinter ihr versteckt. »Ich will lieber bei dir bleiben.« Ihre Mutter zog ihn vom Bett hoch, und mit den ausgestreckten Händen hielt er sich an ihr fest. »Komm, Dao«, sagte sie und nahm ihn auf den Arm. »Deine Brüder müssen noch zu Ende packen.« Gemeinsam verließen sie das Zimmer, und als sie bei Anh vorbeigingen, fragte ihre Ma: »Bist du fertig? Ich könnte deine Hilfe mit dem Abendessen gebrauchen.«
»Ja, Ma«, sagte Anh und stopfte die noch übrigen Kleidungsstücke vom Bett in den Rucksack. Kaum war sie den beiden in die angrenzende Küche gefolgt, setzte ihre Mutter Dao ab. »Kann ich auch helfen?«, fragte er. Die Mutter strich ihm zärtlich die Haare aus dem Gesicht und sagte: »Nein, für kleine Jungen gibt es heute Abend nichts zu tun. Du kannst zu deinem Vater ins Wohnzimmer gehen.« Dao nickte enttäuscht, und nachdem er Anh kurz aus seinen runden Augen angesehen hatte, ging er ins Wohnzimmer. Anh vermutete, dass ihre Mutter kurz allein mit ihr in der Küche sein wollte, um vor dem Aufbruch ihrer ältesten Tochter noch ein paar Augenblicke mit ihr zu erhaschen.
Ihr kleinster Bruder, das Baby Hoang, schlief in seinem Bettchen, beruhigt von den rhythmischen Kochgeräuschen, den scheppernden Pfannen und brutzelnden Ölen. Anh rührte im Schweinefleisch, während ihre Mutter leicht zittrig fermentierten Kohl klein schnitt. Es fühlte sich an wie eine Theaterszene; ein gewöhnlicher Abend unter der Woche, die Küche ihre Bühne, die Töpfe und Pfannen ihre Requisiten. Doch während die beiden in dem engen Raum hantierten, vermieden sie es, sich anzuschauen, und statt ihres üblichen Geschnatters hörte man nur gelegentlich eine Anweisung. »Pass auf, dass du auch die Reste am Boden erwischst«, oder: »Gib noch ein bisschen Nu?c ch?m dazu.« Mehrere Male sah Anh, wie ihre Mutter den Mund öffnete, als wollte sie etwas sagen oder etwas loswerden, das sie bedrückte, doch immer entfuhr ihr nur ein Seufzen.
Ihre jüngeren Schwestern Mai und Van deckten den Tisch und jonglierten vorsichtig Stapel mit Schüsseln und Tellern in den kleinen Händen, ihre langen Haare wehten hinter ihnen her, und das Tapsen ihrer nackten Füße war kaum zu hören. Währenddessen wiederholten sie den Schulstoff des Tages. »Vier mal vier ist sechzehn; vier mal fünf ist zwanzig; vier mal sechs ist vierundzwanzig«, trällerten sie mit Singsangstimmen, bis eine von ihnen einen Fehler machte und die andere sie korrigierte. »Achtundzwanzig, nicht sechsundzwanzig«, sagte Van auf dem Weg zurück in die Küche zu Mai. Anh tat das Fleisch auf, wobei Dampf aus der Pfanne aufstieg, und reichte jeder eine Schale. Van und Mai trugen gern das Essen zum Tisch, denn so konnten sie ein wenig naschen, wie die Krümel auf ihren weißen Westen verrieten. Als sie außer Sichtweite waren, hörte Anh, wie Mai sagte: »Nicht so ein großes Stück«, woraufhin Van nur zischte: »Sei still.«
Hinten im Wohnzimmer saß ihr Vater mit gesenktem Kopf vor dem Familienaltar, während Dao von dem abgewetzten Ledersofa aufmerksam zu ihm hinübersah. Der Altar war mit gerahmten Bildern ihrer Großeltern geschmückt. Auf dem einen standen Ông n?i und Bà n?i mit der frisch geborenen Van im Arm vor ihrem Haus und schauten ernst in die Kamera. Im Hintergrund scharrten die Hühner der Nachbarn in der trockenen dunklen Erde Vung Thams, und zwischen ihrem Küchenfenster und der davor stehenden Palme baumelte die aufgehängte Wäsche. Auf einem anderen posierte Bà ngo?i auf der Hochzeit ihrer Tochter neben einer verzierten Treppe, kleine Absätze am Fuß, einen Dutt im Haar. Und ein drittes zeigte eine Nahaufnahme von Ông ngo?i, auf der er mit den weißen Zähnen und den leicht ergrauten Haaren wie ein alter Hollywoodstar aussah. Nach dem Fall von Saigon und dem Abzug der letzten amerikanischen Soldaten waren die vier in den vergangenen drei Jahren einer nach dem anderen gestorben, als wäre ein Windstoß durch welkes Laub gefahren. Zu diesem Zeitpunkt waren sie schon alt und schwach gewesen, und ihr Tod war nicht überraschend gekommen. Doch das schnelle Ende brachte Anh ins Grübeln, ob der Krieg eine Mitschuld trug und ob die Hoffnung ein Quell des Lebens war und ihr Versiegen ein Vorbote des Todes?
Mit dem Ärmel wischte Anhs Vater den Staub vom Porträt seiner Mutter und untersuchte im Kerzenlicht den Rahmen. Als es ihm schließlich sauber genug erschien, stellte er das Bild vorsichtig zurück zu den anderen und entzündete ein Räucherstäbchen. Er betete mit dem Stäbchen in der Hand, und kurz darauf kam ihre Mutter aus der Küche und kniete sich zu ihm. Auch sie entzündete mit einem Streichholz ein Räucherstäbchen, und während ihre Eltern gemeinsam beteten, hörte Anh, wie sie neben Thanhs und Minhs auch ihren Namen murmelten und um eine gute Reise für sie baten und um eine ruhige See. Dao stand vom Sofa auf, stellte sich neben sie und zog an der Bluse seiner Mutter. »Kann ich auch eins haben?«, fragte er, und sie reichte ihm ihr Räucherstäbchen und nahm sich ein neues. Zaghaft schloss er sich dem Gebet ihrer Eltern an, alle drei auf den Knien, unter den Augen ihrer Vorfahren. Wenig später erhob sich ihr Vater und klatschte in die Hände. »Zeit fürs Abendessen«, sagt er.
Das Abendessen blieb ihr in Erinnerung. Der Mondschein, der das Zimmer in sanftes Licht tauchte, die Gerüche von gedünstetem Kohl und Räucherstäbchen, die sich vermischten. Das aus dem Bettchen dringende leise Schnarchen des kleinen Hoang und ihre Mutter, die wegen seines unruhigen Schlafs immer wieder nach ihm sah. Der Tisch, an dem normalerweise lautes Gelächter und Geschrei herrschte, war in nervöses Schweigen gehüllt. Der matte Blick ihres Vaters ging alle paar Minuten hinunter auf seine Uhr. Ihre Mutter schnitt Daos Fleisch in kleine Stücke und ermahnte ihn, dass er langsam lernen müsse, wie man die Stäbchen richtig benutze. »Du bist kein Baby mehr«, sagte sie, als er den Kopf verlegen senkte.
»Ist schon okay«, flüsterte Thanh ihm zu. »Mit den großen Stücken kämpfe ich auch manchmal.« Mai und Van, die sonst mit Geschichten von ihrem Schultag übersprudelten, schoben das Essen hin und her, tasteten es jedoch nicht an. Auch wenn sie nicht ganz verstanden, was auf dem Spiel stand, verrieten ihnen die angespannten Gesten ihrer Eltern, dass dieser Abend ungewöhnlich und bedrückend war.
Um das Schweigen zu durchbrechen, bat Anh ihren Vater, den Plan ein letztes Mal zu wiederholen, und Minh stöhnte auf. »Noch mal? Den kennen wir doch schon auswendig.« Das stimmte. Es war ein einfacher Plan, den ihr Vater ihnen unzählige Male vorgetragen hatte und den sie sich jeden Abend vorm Einschlafen aufsagte, als würde sie für eine Prüfung lernen. Thanh, Minh und sie würden heute Abend nach Dà N?ng aufbrechen, von wo...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.