Schweitzer Fachinformationen
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MIKE SHANNON:
Bevor ich meine Version der Geschehnisse berichte, möchte ich vorwegschicken, dass alles, wirklich alles hier Geschriebene genauso passiert ist. Bezüge mit realen Personen sind gewollt und extra hervorgehoben. Diese Geschichte ist so wahr, ich kann es selbst nicht glauben.
Und jetzt will ich keine weitere Zeit verlieren. Ich möchte beginnen, zufälligste Ereignisse aneinanderzureihen, die Ihnen helfen sollen, diese letztlich unausweichliche Tragödie besser zu verstehen. Eine Tragödie, dessen schicksalhafter Konflikt ein Streit ist, der dreizehn Jahre zuvor stattfand. Ein Streit zwischen vier besten Freunden, die immer mehr sein wollten. Vier beste Freunde, die sich andere Namen gaben. Die sich ihre Bestimmung selbst auferlegt und mit Masken kostümiert hatten. Sheena. Biggles. Megy. Mike. Masken, hinter denen es bröckelte.
Ende der Nullerjahre. Obama war Präsident geworden. Die Finanzmärkte hatten den härtesten Sturz seit neunzehnhundertneunundzwanzig hinter sich. Deutschland erwachte aus dem Sommermärchen. Saddam Hussein wurde hingerichtet. Wir waren Papst. Pete Doherty und Kate Moss füllten die Boulevardblätter. Die Fratellis liefen in der iPod Werbung. Kings of Leon besetzte zum zweiten Mal in Folge die Nummer eins der deutschen Billboard Charts. Die Arctic Monkeys waren das bestverkaufte Debütalbum in der britischen Geschichte. Das verfilmte Leben von Ian Curtis half uns über den Winter. Razorlight und Eight Legs eröffneten Runway Shows für Dior. Mando Diao kaperte Abend für Abend Antenne Bayern. In jeder Dorfdisco wurde Mr. Brightside gebrüllt. Meine Band The Babyboots war Platz sechs der meistgehörten Künstler ohne Vertrag auf Myspace. Und dort, mitten im schon längst vergessenen Kulturphänomen des Indie Rock & Rolls, beginnt mein Bericht.
Was ich zuvor erwähnen muss, wichtig für die kommenden Ereignisse: The Babyboots. Wie gesagt: Platz sechs der meistgehörten Künstler ohne Vertrag auf Myspace. Meine Band. Mein Ein und Alles. Meine Story:
Ich lernte Biggles in der zehnten Klasse kennen. Eine Begegnung, die alles veränderte. Jetzt waren wir zu zweit eigenartig. Fünfzehn, sechzehn, siebzehn. So alt ungefähr. Pickelige Teenager, eigenwillig gekleidet, schlecht kopiert, irgendwo zwischen Seth Cohen und Marilyn Manson. Wir hörten dieselbe Musik, hatten die gleichen Anti-Vorbilder, lasen dieselben Bücher, begeisterten uns für dieselben Filme. Schon am zweiten Tag hingen wir gemeinsam ab; zusammen mit meinem ältesten Freund Megy. Zu dritt fanden wir heraus, wie man Bier trank, wie man Zigaretten rauchte, wie man kiffte. Meistens in Megys elterlichem Keller; dort stand sein Schlagzeug, ein kleiner, aber feiner Proberaum. Die Drums waren Megys ganzer Stolz. Wenn er nicht bei ihnen war, vermisste er sie, musste immer auf irgendwas trommeln. Megy genoss eine musikalische Ausbildung; wer, wenn nicht wir drei, sollte eine Band gründen. Biggles lernte den Bass. Ich würgte krumm gegriffene Powerchords. Megy steuerte uns durch die Songs. Es reichte, um Nirvana und die Subways zu covern, es reichte, um scheiße zu sein. Scheiße, wie alle jungen Musiker. Die ersten Gehversuche. Wir nannten uns Babyboots.
Die Babyboots gründeten sich in München. Eine Stadt, die niemals aufwachte, deren Musikgeschichte bereits in den Siebzigern erzählt schien. Endlich, nach langer Stille, gedieh Mitte der Zweitausender Widerstand, gesät durch den weltweiten Indie Hype. Plötzlich strandeten die besten Bands aus UK und NYC an der Isar. Jeden Tag ein anderes musikalisches Highlight, manchmal mehrere am selben Abend. Eine Szene blühte auf, in welche wir verwuchsen. Schon bald waren Konzerte, Bier trinken, Zigaretten rauchen und kiffen nicht mehr alles. Wir wollten länger als Mitternacht wegbleiben. Mit den über Achtzehnjährigen feiern. In die Indie Discos der Stadt. Atomic Café. Keller. Backstage. Babalu. 59to1. Wir besorgten uns gefälschte Ausweise, schafften chemische Drogen ran. Wir waren high. Waren besoffen. Jeden Tag unterwegs. Was fehlte: Mädchen. Die hatten uns bislang ignoriert; mit jeder Woche fiel es den alternativen Damen aber schwerer. Auf Rock im Park merkte ich es das erste Mal, spürte es bei jedem Schritt. Wir waren jetzt cool. Hautenge Hosen. Schwarze Lederjacken. Lange Haare. Kaputte Chucks. Im Pit tauchte eine kleine Punkgöre auf. Bei den Hives küsste ich sie. Bei den White Stripes hatte ich bereits meine Finger in ihrem Höschen. Als Die Ärzte spielten, bekam ich in ihrem Zelt vor Aufregung keinen hoch. Ich hätte lieber Die Toten Hosen gesehen. Das Mädchen hieß Sheena. Sie war auf unserer Schule, tat dort lange so, als würde ich nicht existieren. Das war nun vorbei. Genauso wie Nirvana Covers. Wir lernten unsere Instrumente besser kennen. Ich begann eigene Songs zu schreiben. Was sich anfangs nach den Libertines oder The Clash anhörte, wurde irgendwann zu uns. Sheena sah Potenzial. Auf der Toilette der Münchner Freiheit schoss sie Bandfotos. Sheena legte ein Myspace Profil an. Zeichnete ein Logo. Gab uns den letzten Schliff, gab uns das fehlende Puzzleteil, nannte uns The Babyboots. Boom. Platz sechs auf Myspace. Unser Look, Auftreten und Drogenmissbrauch setzten neue Maßstäbe. Das Atomic Café gehörte uns. Die Mädchen suchten unsere Nähe. Wir waren im Internet erfolgreich. Über die Stadtgrenzen bekannt. Jede Woche ein Gig. Erste Plattenlabels kamen im Proberaum vorbei. Man beobachtete die Babyboots mit großem Interesse. Major und Indie.
Doch die alles entscheidende Frage:
»Hast du noch Zeug?«
»Ne man, wir haben am Wochenende alles weggeballert.«
»Scheiße, Mann. Und der Mongole?«
»Hat erst morgen wieder was.«
Ich war bei Biggles. Wir rauchten selbst gedrehte Zigaretten, sahen uns in seiner Wohnung um; so als wären wir hier nicht schon tausend Nächte ohne etwas zu tun gewesen. Ich saß auf splittrigen Europaletten. Genauer gesagt auf einem blauen Futon, der auf splittrigen Europaletten lag. Auf dem blauen Futon lagen Zeitschriften. NME. Rolling Stone. Nylon. INDIE. Vice. Ein antiquierter Reisekoffer mit aufgelegter Glasplatte diente als Wohnzimmertisch. Irgendwie war hier alles nur aufgelegt. Die Glasplatte hatte an der zur Couch gerichteten Seite eine milchig weiße Patina von über Monate immer wieder beim Hacken eingedrücktem Koks und Speed. An den Wänden lehnten mit Öl, Blut und Spraydosen beschmierte Leinwände von befreundeten Künstlern. Ein in die Ecke gerichteter Baustrahler sorgte für Lichtambiente. Aschenbecher wurden wie Schachfiguren versetzt. Gitarren herumgereicht. Aufgedunsene Bücher, überall. Bücher, die sich B aus den stadtverstreuten Bücherschränken angeeignet hat. Es wurde nie ein neues zurückgelegt, weshalb es Diebstahl war. Hier war nichts fest. Nichts hatte einen Platz. Alles immer in Bewegung.
Willkommen in der Abbey.
So nannte Biggles seine Zweizimmer-Wohnung mit Küche Bad. Er hatte als einer der wenigen, die ich kannte, eine eigene Anschrift. B war zu diesem Zeitpunkt zwanzig, ein Jahr älter als ich. Seine Eltern hatten ihn während der Schulzeit ausquartiert. Neuhauser Neubau; einsturzsicher. Genossenschaftswohnung. Wenn man in München die Chance auf so eine hat, muss man rein. Dann lebt man hier billig. Ansonsten lebt man nie alleine. Ich selbst lebte mit meiner Mutter im Hasenbergl. Ich weiß nicht, ob sie mich nicht auch gerne losgehabt hätte.
Wir waren Problemkinder.
»Mach mal Bad Kids von den Black Lips.«
»Ne man, ich muss dir was zeigen.«
Es war das erste Mal, dass ich The Violent Femmes mit Add It Up hörte. Ein Song so düster, brutal, schön und simpel, - als hätten Oscar Wilde und Günter Grass den Text Paul Celan auf einer Opiumpritsche diktiert. Biggles missfiel mein Vergleich. Ich sei ein Trottel, sagte er. Warum, konnte er nicht begründen. Ich glaube, er war eifersüchtig auf meinen Gedankenblitz.
Ich streifte über Bs Plattensammlung. In der Abbey durfte nur Vinyl gehört werden. Biggles ließ keine iPods oder MP3-Player zu. Sie würden die Kunstform eines Long Players zerstören. Wenn wir alle nur noch lose Songs von verschiedenen Künstlern auf unseren MP3-Playern hätten, würden wir uns des Gefühls berauben, sich mit einem Artisten, seiner Idee, seiner gelebten Zeit wirklich auseinandergesetzt zu haben. Er würde schon Anzeichen erkennen, dass Songs immer kürzer würden. Ich hielt das für Schwachsinn. The Doors, The End beschrieb gerade wegen seiner Länge das Gefühl meiner Generation. Blitzkrieg Bop von den Ramones durfte nicht länger als zwei Minuten dreizehn sein. Ich legte Tom Waits mit Heartattack And Vine auf. Das Album hat Tom mit einunddreißig geschrieben. Danach hat Tom dem Whiskey abgeschworen, mit den Zigaretten aufgehört, ausschließlich Rotwein getrunken. Grund war seine große Liebe Kathleen. Das wollte ich auch. Dachte ich.
»Sheena und ich sind nicht mehr zusammen.«
»Ihr wart wieder...
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