Schweitzer Fachinformationen
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Vier Frauen, vier Leben: Charlotte, die alles in Frage stellt, woran sie so lange glaubte. Gesine, die Hilfe braucht und nicht weiß, wie sie darum bitten soll. Sabine, die einsam ist und sich nicht damit abfindet. Und die Dänin Bente, der Freigeist, die Unruhestifterin, die fürchtet, nicht mehr genug Zeit zu haben für das, was sie noch vorhat. Nach vielen Jahren taucht Bente plötzlich wieder in Hamburg auf und wirbelt Charlottes Leben durcheinander. Mit ihrem Humor, ihrer Begeisterung für die Schriftstellerin Karen Blixen und ihrer Abenteuerlust. Vier Frauen, vier Leben. Und doch ist das, was ihnen die Sicht auf Neues verstellt, nur mit vereinten Kräften zur Seite zu schieben.
Auf dem Bildschirm flimmerten bunte Diagramme und Sinuskurven. So wie die Aktienkurse, die Friedrich früher, als es nicht gut um sein Depot stand, mit einer Mischung aus Spannung, Sorge und leichtem Grusel auf dem Computer verfolgt hatte: grüne abgeflachte Kurven, blaue durchgezogene Linien, Nullwachstum. Dazu, wie zur akustischen Bestätigung, ein hoher Pfeifton. Alarm. Zumindest das war anders, dachte Charlotte.
Sie starrte auf den grauen Respirator, der beständig versucht hatte, Luft in Friedrichs schwache Lunge zu pumpen. Ein letztes Mal streichelte Charlotte seine Hand. Langsam versuchte sie aufzustehen, aber ihre Beine hingen wie Eisenstangen an ihr und folgten nur widerwillig ihrem Befehl. Vorsichtig schob sie den Stuhl beiseite, auf dem sie die letzten sieben Stunden steif verharrt hatte. Sieben Stunden, in denen sie immer wieder in Friedrichs Gesicht geschaut hatte, seinem Atem gefolgt war. Ein Atem, der langsam zu einem schnarrenden Rasseln geworden und schließlich ganz verstummt war. Sieben Stunden, in denen das gemeinsame Leben sich ihrer zu vergewissern schien. Zumindest fühlte es sich für Charlotte so an. Als würde Friedrich sie bitten oder gar ermahnen, die gemeinsamen Jahre nicht zu vergessen.
Fünfzig gemeinsame Jahre.
Fast ein ganzes Leben.
Charlotte atmete tief aus. Als sie den Luftzug spürte, kam es ihr so vor, als würde sie jetzt erst wieder selbstständig atmen. Als habe sie es nicht übers Herz gebracht, dem sterbenden Friedrich ihr eigenes Weiterleben entgegenzuhalten.
»Mein Beileid, Frau Holtgreve.«
Ohne eine Reaktion abzuwarten, schaltete die Ärztin das Beatmungsgerät ab, löste die Schläuche und entsorgte die Spritzen. Bevor sie das Zimmer verließ, drehte sie sich noch einmal um.
»Lassen Sie sich gerne Zeit.« Leise schloss sie die Tür hinter sich.
»Lass dir Zeit.« Mit diesen Worten hatte ihre Mutter Charlotte und die beiden anderen Kinder Johannes und Gesine immer beruhigt. Wenn Dinge nicht so vorangingen, wie sie sollten, berufliche Erfolge auf sich warten ließen, Liebesgeschichten unglücklich endeten. »Lass dir Zeit.«
Hier, im dreizehnten Stock des Altonaer Krankenhauses, hatte Charlotte einen guten Blick auf die Hafenanlagen, die vom Sonnenuntergang dieses Sommerabends in ein orange-blaues Licht getaucht wurden. Was wohl in den vielen Containern steckte und wohin diese dann schließlich gebracht würden - immer wieder fragte sie sich das, wenn sie in der Nähe des Hafens war. Als Kind hatte sie ihren Vater stundenlang bekniet, mit ihr die Containerbrücken zu beobachten. Einfach so. »>Kräne gucken< konntest du lange vor >Mama< oder >Papa< sagen«, sagte ihr Vater und lachte. Immer wenn er nach Hause gehen wollte, waren Charlotte neue Fragen eingefallen: Wieso bleiben Bananen so lange grün? Was passiert, wenn man über den Äquator fährt? Ihr Vater hatte auf alle Fragen Antworten gehabt. Ob sie richtig oder falsch gewesen waren, spielte für sie keine Rolle. Hauptsache, sie konnte weiter den Kränen dabei zusehen, wie diese, einer geheimen Choreografie folgend, elegant und effizient zugleich ihre Arbeit verrichteten. »Lass dir Zeit«, flüsterte Charlotte und sah ihr müdes Gesicht schemenhaft in der offenbar länger nicht geputzten Fensterscheibe. Mit einem leisen Knacken öffnete sich hinter ihr die Zimmertür.
»Mutter .« Franziskas Stimme beendete die Stille. »Es tut mir so leid.« Langsam drehte sich Charlotte zu ihr um.
Franziska blieb vor dem Bett stehen und gab ihrem toten Vater einen Kuss auf die Stirn. Dann konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Es war kein lautes Schluchzen. Ein kaum wahrnehmbares Wimmern war Franziskas Art, Abschied zu nehmen.
Charlotte betrachtete ihre Tochter vom Fenster aus. Die mittellangen schwarzen Haare zum Pferdeschwanz zusammengerafft, der dank Pilates und Intervallfasten makellose dreiundvierzigjährige Körper steckte in einem dunkelblauen Kostüm. Charlotte vermutete Chanel oder Prada. Dazu passende beige Pumps. Perfekt platziertes Understatement. Kontrolliert, wachsam. Charlotte mochte Franziskas Energie, ihren Optimismus, ihr Selbstbewusstsein. Letzteres auf jeden Fall ein Erbstück ihres Vaters. Sie war Friedrichs Liebling gewesen, immer schon. Der Zweitgeborenen, seinem Mädchen, ließ er vieles durchgehen. Wenn sie sich zum gemeinschaftlichen Abendessen nicht abmeldete, nahm er das ohne jede Diskussion hin. Als sie mit ihren Freundinnen nach Südfrankreich trampen wollte, fand Friedrich das trotz ihrer fünfzehn Jahre originell. Charlotte war erst beruhigt, als Franziska das Geld für ein Bahnticket von ihr angenommen hatte. Das Kind soll seine Erfahrungen machen, hatte Friedrich immer gesagt. Er sei da schließlich nicht anders gewesen.
Matthias war anders. Gleich nach einem mittelmäßigen Abitur ließ er Hamburg hinter sich. Reiste in den Oman und nach Tansania, studierte in München und Aix-en-Provence. Hauptsache, weit weg von zu Hause. Weg von einem Vater, dem er es noch nie recht machen konnte. Schon als Kind nicht, wenn Matthias bei Dauerregen Stunden im Garten verbrachte, um die Geschwindigkeit von Schnecken zu untersuchen, oder später, als er seinen Vater in selbst gestrickten Pullovern und mit selbst geschnittenen Haaren überraschte. Matthias bot Friedrich immer wieder die perfekte Angriffsfläche für Sticheleien, Streit und Wutausbrüche. Am Anfang hatte er darunter gelitten, hielt dagegen. Irgendwann war es ihm egal. Für seinen Vater war das die größtmögliche Provokation. Matthias empfand es damals als Triumph. Ein Triumph, der jedoch selbst in seinen Augen über die Jahre immer schaler geworden war.
»Ich dachte, er sei auf dem Wege der Besserung?« Franziska schaute ihre Mutter mit glasigen Augen an. Charlotte schüttelte den Kopf, ging auf sie zu und strich ihr sanft über den Kopf. So verharrten sie kurz, bis Franziska ihren Stuhl vom Bett abrückte und sich selbst durchs Haar fuhr, so als habe Charlotte die Dinge dort oben gerade durcheinandergebracht.
»Matthias habe ich noch nicht erreicht. Versuchst du es heute Abend, bitte?« Die Frage ihrer Tochter kam Charlotte wie ein Befehl vor. Sie nickte kurz. Franziska hatte sich wieder im Griff oder versuchte es zumindest. Charlotte sah, wie sie mit zitternden Fingern ihr Handy aus der Handtasche zog.
»Fünf Anrufe in Abwesenheit. Ich muss mal kurz .«
Sie schnäuzte in ihr Taschentuch und rauschte aus dem Krankenzimmer. Charlotte kam sich plötzlich verloren vor, hier zwischen Stille und Tod. Ein letztes Mal streichelte sie Friedrichs inzwischen kühle Wange, bedankte sich beim Personal und verließ die Station. Im Fahrstuhl fiel ihr noch einmal der Satz der Ärztin ein.
»Lassen Sie sich Zeit.«
-
Als Charlotte ihr Fahrrad aufschloss, musste sie an den Tod ihrer Mutter denken. In einem Pflegeheim war Anna gestorben, unweit des alten Pfarrhauses. Eines Morgens war sie nicht mehr aufgewacht. Sie habe nicht gelitten, war sich der Arzt sicher. Sechsundneunzig lange Jahre hatte Anna Klindworth gelebt. Wenn sie nur ein paar der guten Gene ihrer Mutter geerbt hätte, überschlug Charlotte im Kopf, blieben ihr noch zwanzig Jahre, vielleicht ein paar mehr.
Zum ersten Mal an diesem Tag kamen ihr die Tränen. Charlotte war sich nicht sicher, worüber sie weinte. Über Friedrichs Tod, die Erinnerungen an ihre Mutter oder über die verrinnende Zeit, die ihr noch blieb. Zwei Mädchen, die gerade singend neben Charlotte ihre Fahrräder abschlossen, holten sie in die Gegenwart zurück. Die beiden schauten sie an und verstummten abrupt. Erst als sie sich einige Meter entfernt hatten, sangen sie weiter. Charlotte blickte ihnen hinterher, holte ihr Handy hervor und wählte Matthias' Nummer.
»Friedrich ist tot.«
Am anderen Ende blieb es still. Lediglich das aufgeregte Summen von Fliegen oder anderen Insekten drang an ihr Ohr.
»Matthias, dein Vater ist tot.«
Charlotte hörte ein leises Schnaufen, als würde ihr Matthias auf diese Weise mitteilen, dass sie gerade störe. Sie fragte sich, ob er den Schreibtisch verlassen hatte und vor das kleine provisorische Container-Büro aus dunkelgrünem Wellblech getreten war, um den Anruf entgegenzunehmen. Als müsse er Forschungsergebnisse und Familienangelegenheiten strikt voneinander trennen. Vor zwei Monaten hatte Matthias ihr Bilder aus Peru geschickt, sodass Charlotte jetzt einen kleinen Eindruck von seinem Leben auf der anderen Hälfte der Welt hatte. Was sie auf den Fotos gesehen hatte, war ihr unfassbar trostlos vorgekommen. Die schroffe Landschaft voller Sand und Stein, die spärliche Vegetation, ihr Sohn in offenbar viel zu weit gewordenen Hosen, sein Blick, wie er verloren in die Sonne blinzelte.
»Wie geht es dir, Mutter?«, fragte er schließlich mit tonloser Stimme.
»Gestern hatte er einen dritten Herzinfarkt. Davon hat er sich nicht mehr erholt. Dabei war er eigentlich auf dem Weg der Besserung. Aber offenbar war es doch zu viel für sein Herz.« Charlotte presste die Lippen zusammen. Sie spürte, würde sie weiterreden, kämen ihr die Tränen. Das wollte sie nicht, nicht am Telefon.
»Das wäre dann das erste Mal, dass sein Herz überfordert gewesen wäre.«
Charlotte wünschte sich, ihm wäre etwas anderes eingefallen. Etwas Tröstendes, wenn schon nicht für seinen Vater, dann wenigstens für sie. Aber so einfach war das nicht.
»Weiß Franziska schon Bescheid?«, fragte er schließlich.
»Ja, sie war im Krankenhaus.«
»Gut.«
Charlotte atmete tief ein, so als brauche sie für die nächsten Worte einen Vorrat an...
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