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"BAUEN STATT STAUEN" stand wochenlang auf einem Wahlplakat vor unserem Block. Ich hätte dem Esel, der diesen Slogan erfunden hat, gerne alle Autos und Lkws geschenkt, die Tag für Tag, Nacht für Nacht, am Haus vorbeidonnerten. Hätte ihn gerne gequält, mit dem Lärm und dem Gestank. Ich hasse Autos. Ich hasse Straßen. Und ich hasse Politiker. Straßen sind die Lebensadern des Wohlstands! posaunen sie von den Rednerpulten. Würde den Schwachsinn vielleicht sogar glauben, wenn ich nicht an einer gewohnt hätte, die die Hölle war.
Ich wohnte in einer Scheißgegend, ganz im Osten der Stadt, dort, wo es ständig Ärger gab. Meine Cousine Klara sagte mal, hier würde es aussehen wie in Kasachstan, und weil die Jungs das hörten, nannten sie den Stadtteil von nun an nur mehr Kasachstan. Aufgewachsen bin ich aufm Land, in nem kleinen Ort in der Nähe vom Bodensee mit nicht mehr als 1.000 Einwohnern. Dort hab ich mich jahrelang mit meinem Cousin in einer Baumhütte vor den Menschen versteckt, das war die schönste Zeit in meinem Leben. Als ich acht war, zogen wir nach Lindau, eine miefige Kleinstadt, die das unbeschreibliche Glück hat, an einem See zu liegen, aber selbst ohne See wäre sie noch tausendmal besser als Kasachstan, denn Kasachstan ist das Letzte. Kasachstan ist das Scheißhaus Deutschlands. Da wimmelt es nur so von Zuhältern, Kriminellen, Pennern und Kanaken - und so kranken Typen wie mir.
Ich zog mich aus und rasierte mir vor dem Spiegel über dem Waschbecken die Haarstoppel vom Kopf. Die Maschine summte und vibrierte, und ruck-zuck waren die Härchen im Waschbecken, auf dem Boden und meinem Rücken. Ich spielte mit meinen Muskeln. Ey, meine Muckis sind absolut okay. Ich mein, ich hab nie ernsthaft Gewichte gestemmt, war noch nie in meinem Leben auch nur für ne halbe Stunde in nem Fitnesscenter, aber wer wirklich arbeitet, der braucht das auch nicht. Jau, ich bin stark. Ein Skinhead bin ich, ein Krieger, ein Boxer. Keine Schwuchtel, kein Feigling. Ein Krieger.
Ich weiß gar nicht mehr, wie das ist, Haare auf dem Kopf zu haben. Es ist so lange her. Es wird nie wieder sein. Klara sagte immer, eines Tages, spätestens dann, wenn sie mir altersbedingt ausgehen, würde ich bereuen, so viele Jahre mit nem Glatzkopf rumgerannt zu sein. Nein, liebe Cousine, ich bereue all die Jahre, in denen ich Haare hatte. Ich schäme mich für nichts so sehr wie für die Zeit mit Haaren.
Ich sprang unter die Dusche und wusch mir die beißenden Dinger vom Leib, als wären sie Flöhe, in denen all das steckte. Die Leere, die Müdigkeit, die Verzweiflung. Die Zeit, die so viel versprach und doch nichts hielt.
Das Telefon klingelte, aber ich hatte keinen Bock ranzugehen. Ich war schon zu spät dran, außerdem rief eh meistens nur Hausmeister Renz an, weil ich zu laut Oi! hörte oder Schlachtgesänge ausm Stadion grölte. Manchmal drehte er dann einfach den Strom ab. Ich duschte wie immer kalt, trocknete mich ab, schlüpfte in die Kleider, zog meine Bomberjacke, die Doc Martens und meinen Fußballschal an. Mein Messer steckte ich in die rechte kleine Tasche der Jeans. Vor dem Stadion würde ich es in meinem rechten Schuh verstecken. Ohne mein Messer geh ich nirgendwohin. Nicht mal in die Dusche oder ins Bett.
Ich stürmte aus dem Haus und rannte zur Straßenbahnhaltestelle. Die Leute sahen mich an. Den Glatzkopf mit den Docs und der Bomberjacke. Das ist das Geile, wenn du Skinhead bist. Übersehen tut dich keiner mehr. Und wenn dir so n scheiß Penner nicht ausm Weg gehen will, dann remple ihn um, dann lass ihn deine Stahlkappen spüren, damit er weiß, wer du bist. Überall lungerten sie herum, die Zuhälter, die Alkis und Junkies, die verfluchten Kanaken. Der Punkerin vom Nachbarblock, die alle wegen ihrer feuerroten Haare die "Rote Zora" nannten, spuckte ich vor die Füße.
"FICK DICH, DU SCHEISS NAZI!"
"HA! Dich fick ich im Leben nicht! Deine Fotze stinkt ja bis hier nach Fisch!"
Die Rote Zora war der einzige Mensch in der Nachbarschaft, der null Schiss vor uns Glatzen hatte. Das irritierte mich. Angerührt hätt ich die nie. Die hatte sicher nen schwarzen Gürtel in Taek-wan-do oder ne Gaspistole. Und da war auch noch Störtebecker, dieser scheiß Riesenköter, der keine Sekunde von ihrer Seite wich.
"Ey, leckt dich der Köter eigentlich?" fragte ich aus sicherer Distanz. "Oder ekelt er sich vor den roten Schamhaaren?"
Sie streckte die Zunge raus und überquerte mit ihrem Killerhund ohne einen Blick nach links oder rechts die Straße. Die Autos wichen aus oder blieben quietschend und hupend stehen.
Die Straßenbahn war überfüllt. Fußballfans krakelten, kleine Burschen mit geleckten Frisuren und gewaschenen Fußballschals küssten kleine Mädchen mit denselben Schals und grapschten nach ihren Babytitten, andere Kinder brüllten in ihre Handys oder machten lautstark Witze über Türken, Neger und Schwule.
Ich bin FC-Fan, seit mir mein Bruder nen FC-Schal vom Jahrmarkt mitgebracht hat. Ich hab Dutzende von Schals, aber nur für den würd ich killen. Ich weiß immer, wo er gerade liegt oder hängt, und weiß ich es nicht, dann muss ich es auf der Stelle herausfinden, so wie eine Mutter wissen muss, wo ihr Baby ist, wenn sie es nicht gerade in den Händen hält oder hinter dem Haus verscharrt hat.
Mein Bruder und ich, wir sind uns nicht immer grün. Wir kamen als Kinder miteinander aus, aber nachdem das mit Mama passiert war, war alles aus. Wir vermöbelten uns jeden Tag, zerstörten uns gegenseitig Spielsachen und Freundschaften, spuckten uns ins Essen. Manchmal frage ich mich, ob es mir egal wäre, wenn er abkratzen würde, und die Antwort auf diese Frage ist die Liebe zu diesem Schal. Ich glaube, er hätte mir jeden Schal der Welt bringen können. Es konnte für mich nur noch einen Verein in meinem Leben geben. Und es war mir scheißegal, dass er gerade in die Regionalliga abgestiegen war und seine Schals an jeder Ecke verbrannt oder verscherbelt wurden.
Ich stieg eine Haltestelle zu früh aus, um den Umweg über den Einkaufspark zum Stadion zu machen. Alte Gewohnheit, um den Bullen aus dem Weg zu gehen. Als ich am Einkaufszentrum vorbei an den großen Parkplatz kam, sah ich, wie n Penner eine Bierflasche in die Unterführung warf und dabei nur knapp zwei Kinder auf ihren Fahrrädern verfehlte. Die Kinder, ein Mädchen und ein Junge, beide mit Sturzhelm, schauten groß, aber noch viel größer schaute der Penner, als ich ihm zur Strafe einen Arschtritt verpasste und gleichzeitig meine Faust auf sein linkes Ohr knallte, in der Hoffnung, kein Doktor der Welt wäre fähig, ihm das Trommelfell jemals wieder zu flicken. Wie hatte ich sie satt, diese besoffenen, hässlichen Scheißkerle, die Leute anstänkerten, Leute angriffen, überall ihren Dreck und ihren Gestank verbreiteten, dieses verdammte Gesindel, das sich dann wieder kleinlaut und mit Unschuldsmiene in die nächste Ecke kniete, um zu betteln. Ey, ich hab nix gegen Obdachlose, nichts gegen die, die nur saufen und grölen, aber ich hasse die aggressiven unter ihnen, die Stänkerer und Schläger. Vielleicht, weil sie ein bisschen sind wie wir. Nur wilder und schmutziger, nur unberechenbarer und verzweifelter.
Seitdem die Wachstube um die Ecke aus Spargründen geschlossen wurde, gibt's hinter dem Einkaufszentrum Mord und Totschlag. Der private Wachdienst hat die Sache nicht im Griff. Sie können zwar die Autos auf dem Parkplatz und den Platz vor dem Eingang schützen, aber über die Plattform, die hinter dem Gebäudekomplex liegt, haben sie längst jegliche Kontrolle verloren.
Kein Wunder also, dass ich keine zwanzig Meter weiter auf eine Gruppe Halbstarker traf, die ungestört und hemmungslos auf nen Fettwanst in ihrem Alter einprügelten, als wäre er ein Sandsack, den es vom Haken zu schlagen galt. Der Dicke flehte um Gnade.
"HEY!" brüllte ich, als ich mich mit einem Blick zurück vergewisserte, dass der Penner mir nicht folgte. "LASST IHN IN RUHE!"
"Geht dich n Scheiß an, Glatzkopf!" maulte einer, den ich sofort als Anführer ausmachte, aber sein Protest klang halbherzig und nicht sehr überzeugend. Ich hatte schon gewonnen.
"Haut ab, sonst reiß ich euch die Schwänze aus und stopf sie euch in die Ohren!"
Sie ließen von dem Dicken ab. Der plumpste auf den Boden, Tränen kullerten über seine roten Backen. Ich bückte mich, half ihm auf die Beine. Provokant langsam schlenderte die Bande davon.
"Schwanzlutscher!" hörte ich einen von ihnen noch sagen.
"Du musst dich wehren, Kleiner", sagte ich zu dem Dicken. "Du musst dich wehren."
"Sie sind so viele!" schluchzte er.
Ich gab ihm eine Kopfnuss.
"Na und? Mike Tyson hätte sie platt gemacht."
"Ich bin nicht Mike Tyson."
"Dann werde einer, verdammt. Du musst stark sein, Kleiner, sonst bist du schwach. Wenn du schwach bist, bist du der letzte Arsch. Und der letzte Arsch beißt immer als Erstes ins Gras."
Der Mops sah mich mit großen Augen an. Ich sah in ihm den Feigling, der ich einmal war. Der Klassentrottel, über den jeder lachte. Ich gab ihm noch ne Kopfnuss.
"Die Menschen sind böse. Die meisten jedenfalls. Ein Leben lang wollen sie dir nehmen, was dir lieb ist. Ein Leben lang wollen sie dir sagen, was du zu tun hast. Ein Leben lang hast du die Chance, sie zu vernichten."
Er verstand mich nicht. Er sah mich nur mit großen Augen an. Ich ließ ihn stehen. Die Jungs warteten im Stadion.
Als ich kaum hundert Meter weiter war, sah ich, wie die Bande den Dicken jagte, und es blieb mir nichts...