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Mai 1912 Diedenhofen/Thionville Reichsland Elsaß-Lothringen
Das macht die Berliner Luft, Luft, Luft, so mit ihrem holden Duft, Duft, Duft .
Lautstark und beschwingt hallte die populäre Melodie aus einer auf Hochglanz polierten Drehorgel über die Place du Luxembourg, den Luxemburger Platz, welcher sich an diesem Maientag des Jahres 1912 in strahlendem Sonnenschein und unter fast wolkenlosem Himmel zeigte.
Und obgleich man sich nicht in Berlin, sondern in dem über sechshundert Kilometer südwestlich davon entfernt liegenden Thionville befand, im offiziellen Amtsdeutsch Diedenhofen genannt, tat das der guten Stimmung, die dort herrschte, keinerlei Abbruch.
Schaulustige und Passanten flanierten über den Platz, der erst wenige Jahre zuvor durch den Abriss der Festungsumwallung und der dazugehörigen Stadttore entstanden war: einfache Arbeiter in Straßenkleidung ebenso wie vornehme Damen in eng geschnürten Sommerkleidern und mit beeindruckenden Hüten. Ein Grüppchen bayerischer Soldaten überquerte die Bahnschienen, welche den Platz durchschnitten. Kurz darauf fuhr rußend und schnaubend die kleine dampfbetriebene Straßenbahn ein, welche im Volksmund Jaengelchen genannt wurde. Mit lautem Quietschen blieb sie einen Moment stehen, spuckte einige Fahrgäste aus und zuckelte schließlich wieder von dannen.
»Hier war sie aber nicht dabei.«
»Wer?«
»Na, die Neue.«
»Unsinn, sie kommt doch nicht mit der Straßenbahn.«
»Nein, mit dem Au-to-mo-bil.« Das abfällige Augenrollen, mit dem Marthe Gross die vier Silben des letzten Wortes in die Länge zog, machte deutlich, was sie von einem derart unnötigen Luxus hielt.
Das teils begeisterte, teils neidische Aufleuchten in den Blicken ihrer Mitschülerinnen zeigte jedoch, dass sie mit ihrer Meinung ziemlich alleine dastand.
»Wunderbar! Ein eigenes Automobil.« Schwärmerisch legte Ernestine Küppers den Kopf ein wenig schief. »Wie formidabel es doch sein muss, einen eigenen Kraftwagen zu besitzen, fahren zu können, wohin man will.«
»Ferne Länder sehen! Abenteuer erleben!«, stimmte nun auch Brunhilde Klawe ein, und ihrer Miene war anzumerken, dass sie sich bereits wieder in ihrer Fantasie verlor.
»Als ob sie ausgerechnet eine Frau wie dich ans Steuer ließen«, meinte Berthe Haußner, wohl ob der langen Wartezeit ein wenig missgelaunt, und fächelte sich mit der Hand etwas Luft zu. Für Mai war es schon recht warm. »Und außerdem, warum kommt sie dann so sp.«
»Wieso bitte soll denn eine Frau nicht am Steuer sitzen?« Beinahe kämpferisch hatte Ernestine sich vor der Klassenkameradin aufgebaut und schaute sie böse an. »Glaubst du etwa, Männer könnten das so viel besser?«
Berthe, ein wenig verdattert, schob trotzig das Kinn vor. »Besser als du allemal!«
»Meinst du?« Ernestines Gesicht war rot angelaufen. »Wie kommst du .«
»Du calme, mes filles!« Pauline war an das Grüppchen von Streithennen herangetreten und legte Ernestine beruhigend die Hand auf die Schulter. »Selbstverständlich gibt es keinen Grund, dass du nicht eines Tages das Autofahren lernen solltest. Doch selbst diese kontroverse Frage lässt sich gesittet ausdiskutieren, ohne sich gegenseitig an die Gurgel zu springen.«
»Aber sie hat .«, protestierte Ernestine erneut, nickte aber schließlich. »Oui, Mademoiselle.«
Erhitzt strich sich Pauline eine schweißfeuchte Haarsträhne aus der Stirn. Nicht nur die Gemüter der Mädchen bedurften einer Abkühlung. Es war für die Jahreszeit wirklich ungewöhnlich heiß.
Der bunt gekleidete Eisverkäufer, der seinen kleinen Wagen am Rande des Platzes aufgebaut hatte, kam Pauline gerade recht. Beinahe erleichtert kramte sie ihr Portemonnaie hervor und reichte Marthe, welche sie für die Vernünftigste hielt, etwas Geld.
»Hier, kauft euch jede eine Portion Eiscreme davon. Das sollte reichen. Aber benehmt euch anständig, d'accord? Nicht, dass die neue Schülerin glaubt, in einer Horde Barbaren gelandet zu sein.« Falls sie heute noch eintreffen sollte.
Ein allgemeines Aufjuchzen war die Antwort, und schon eilten ein knappes Dutzend Mädchenbeine unter flatternden dunkelblauen Röcken in Richtung des Eisverkäufers, der bei diesen Temperaturen sicher gute Geschäfte machte.
Pauline gönnte ihm diese von Herzen. Gerne hätte sie sich selbst mit einem köstlichen Eis erfrischt, hegte sie doch eine besondere Schwäche für gutes Essen im Allgemeinen und Süßspeisen im Besonderen. Da jedoch jeden Augenblick der Wagen mit der neuen Schülerin vorfahren konnte, hielt sie es für ein wenig unpassend, dieser als Institutsleiterin und zukünftige Lehrerin schleckend und schluckend entgegenzutreten. So stellte sie einmal mehr ihre persönlichen Bedürfnisse zurück, während sie nicht ganz ohne Neid den Mädchen hinterherblickte, die sich um den Eiswagen scharten.
Elf Schülerinnen beherbergte derzeit ihr kleines, gepflegtes Pensionat, welches sich hier ganz in der Nähe befand. Die aus Rosenheim stammende Josefa hatte das Institut zu den letzten Sommerferien verlassen, da ihr Vater, ein bayerischer Offizier, der hier in Lothringen stationiert war, zurück in die Heimat beordert worden war. Bereits während des vorherigen Schuljahres waren zwei Mädchen von der Schule gegangen, sodass es drei freie Plätze gab.
Diese waren nach den Sommerferien im letzten September von Neuankömmlingen besetzt worden: der rothaarigen Barbara Andre aus Saarlouis sowie Katharine und Gudrun Eisele, zwei Schwestern aus Stuttgart, deren Vater der württembergischen Armee angehörte, welche ebenfalls Garnisonen im Reichsland Elsaß-Lothringen unterhielt.
Den großen Paukenschlag hatte es indes gegeben, als Albertine im Dezember des vergangenen Jahres verkündet hatte, nach den Weihnachtsferien nicht in die Schule zurückzukehren. Nach langem, zähem Ringen hatte sie ihre Eltern davon überzeugt, ihr den Eintritt in einen Orden nicht länger zu verwehren und sie zukünftig die Mauern des Pensionats gegen die eines Klosters tauschen zu lassen.
Obgleich Pauline es sich nicht so recht erschloss, warum man mit diesem entscheidenden Schritt nicht auch bis zum Schulabschluss hätte warten können, legte sie Albertine in diesem Punkt keine Steine in den Weg. Bestand ihr erklärtes Ziel doch darin, die Schülerinnen zu bestärken, ihren eigenen Weg für ihr späteres Leben zu finden und diesen mit Entschlossenheit zu verfolgen. Wenn Albertine also für die Abgeschiedenheit des Ordenslebens berufen war, würde Pauline das respektieren.
Außerdem, dachte sie mit einem Anflug von Verbitterung, lebte sie selbst nicht ebenfalls fast wie eine Nonne? Gesellschaftlich abgeschieden, ohne Mann, ohne Familie, stets darauf bedacht, die Grenzen des Erlaubten nicht zu überschreiten. Selbst dann, wenn der Hunger nach Liebe sie, die bereits über 34 Lenze zählte, bisweilen mit einer Heftigkeit anflog .
»Bonjour, Mademoiselle.« Eine tiefe Stimme ließ Pauline sich umwenden. »So ganz alleine bei dem schönen Wetter?«
Pauline spürte, wie sich ihr Mund zu einem Lächeln verzog, als sie Erich von Pliesnitz erkannte, einen hier in der preußischen Garnison stationierten Hauptmann, dessen Bekanntschaft sie etwa zwei Jahre zuvor gemacht hatte, als eine ihrer Schülerinnen sich mit einem seiner Offiziere in Schwierigkeiten gebracht hatte.
Trotz der anfänglichen Spannungen, die zunächst zwischen ihnen geherrscht hatten, war er seither ihrer Schule sehr verbunden . und ihrer Person.
Und so wurden Paulines Wangen noch eine Spur wärmer, als sie den Gruß erwiderte und einen Schritt näher an ihn herantrat.
»Keineswegs, mon capitaine. Tatsächlich bin ich zusammen mit meinen Schülerinnen hier.« Vage wies sie in Richtung des Eiswagens. »Doch habe ich ihnen bei der Hitze eine kleine Erfrischung erlaubt. Dort hinten wird die Meute gerade abgefüttert.«
Ein Ausdruck des Erstaunens trat in von Pliesnitz' ernstes Gesicht. »Und Sie selbst gönnen sich nichts?«
Mit einem bedauernden Lächeln strich sich Pauline über das cremeweiße und vanillegelbe Kleid. »Malheureusement. Ich erwarte die Ankunft einer neuen Schülerin, die mir für diese Stunde angekündigt ist und von ihrem Vater im Automobil hergebracht werden soll. Da wäre es doch unschicklich, diese .«
»Mit einer Eiswaffel in Händen zu begrüßen«, vollendete der Hauptmann den Satz.
Pauline nickte. »Oder mit Flecken von Eiscreme auf dem Kleid.«
»Eine Nachlässigkeit, die ich mir bei Ihnen nicht wirklich vorstellen kann, Mademoiselle.« Der Hauch eines Lächelns huschte über seine Züge, was ihn für einen Moment beinahe freundlich wirken ließ.
Dabei war von Pliesnitz in der Garnison für seine unerbittliche Strenge bekannt, was ihm bei seinen Männern den zweifelhaften Titel »Hauptmann Gnadenlos« eingebracht hatte.
»Ich nehme Ihre Worte als ein Kompliment.« Pauline hob den Kopf.
»So waren sie auch gedacht.« Er deutete eine Verbeugung an, und erneut stahl sich ein Lächeln auf Paulines Gesicht.
Trotz seines Rufs als harter Vorgesetzter war sein Verhalten ihr gegenüber stets tadellos und zuvorkommend zu nennen. Mehr noch, eine tiefe Freundschaft verband den wortkargen Hauptmann aus Posen und die junge Directrice aus dem französischen Metz, obgleich das preußische Militär für Pauline all das verkörperte, was sie verabscheute. Eigentlich .
Allerdings...
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