Schweitzer Fachinformationen
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»So, und das hier bringst du zur Post. Es soll an verschiedene Zeitungen gehen.« Pauline hielt dem Jungen einen Stapel Briefumschläge hin, die alle in ihrer ebenmäßigen Handschrift adressiert waren. »Und nicht trödeln, mon garçon. Es ist eilig, ja?« Mit gespielter Strenge ahmte sie Fräulein Hildebrandts typische Handbewegung nach, indem sie mahnend mit dem erhobenen Zeigefinger wackelte.
»Dir kënnt eech op mech verloossen, Joffer«, gab Thomas im tiefsten Diedenhofener Platt zurück und gab grinsend die Zahnlücke frei, wo ihm seit einer Prügelei auf der örtlichen Kirmes ein seitlicher Schneidezahn fehlte. »Ich bring dat so schnell zur Post, datt Se gar nicht merken, datt ich weg war, wenn ich wieder hier bin.«
»Das ist mal ein Wort.« Pauline lächelte, als sie sich erhob und dem Jungen wohlwollend die Hand auf die Schulter legte. »Ich danke dir.«
Sie hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da war er bereits durch die Tür ihres Bureaus verschwunden.
Amüsiert schüttelte sie den Kopf, bevor sie wieder an ihrem Schreibtisch Platz nahm. Seit sie die Schule übernommen hatte, besserte Thomas Engel das Einkommen seiner Familie auf, indem er für sie Besorgungen und Gelegenheitsarbeiten verrichtete. Sein Vater war Hüttenarbeiter bei der Firma Röchling gewesen, auf der Carlshütte, und vor einigen Jahren bei einem der zahlreichen Arbeitsunfälle ums Leben gekommen. Seitdem arbeitete seine Mutter als Wäscherin und verdiente kaum das Nötigste. Sein kleines Zubrot war eine willkommene Ergänzung zum Lebensunterhalt. Dabei stellte sich der nun Siebzehnjährige sehr willig, wenn auch nicht immer geschickt an. Doch hatte Pauline keinerlei Bedenken, ihn mit dieser wichtigen Aufgabe zu betrauen. Nach dem unerwarteten Ausscheiden von Fräulein Hildebrandt drohte der geregelte Tagesablauf im Pensionat mit Unterrichtsstunden am Vormittag und Nachmittag zusammenzubrechen, sodass schnellstmöglich Ersatz gebraucht wurde. Sie hoffte, durch Anzeigen in mehreren regionalen und überregionalen Tageszeitungen rasch Abhilfe zu schaffen. Am besten, bevor die Schülerinnen, allen voran ihre Nichte Suzette, damit begannen, ihr auf der Nase herumzutanzen.
Erschöpft lehnte sie sich zurück. Derzeit kam sie wenig zum Schlafen, da sie gezwungen war, sich alle Unterrichtsverpflichtungen mit der einzig noch verbliebenen Kollegin Eleonore Schmitt zu teilen. Dabei hatte sie so schon genug zu tun mit der Verwaltung der Schule und ihren eigenen Fächern. Gut nur, dass der Religionsunterricht durch die örtlichen Geistlichen der beiden Konfessionen erteilt wurde.
Sie rieb sich die Stirn und begann, die Arbeiten ihrer Schülerinnen zu korrigieren, eine Aufgabe, der sie üblicherweise mit großem Interesse nachkam, zeigten die Ergebnisse ihr doch, was die Mädchen gelernt hatten.
Heute aber . Lag es an der Müdigkeit oder an den Sorgen, die ihr im Kopf herumgingen? Irgendwie gelang es ihr nicht, sich darauf zu konzentrieren, was die Schülerinnen über das Verständnis von Vergangenheit und Gegenwart in den Romanen Victor Hugos zu sagen wussten. Und das, obwohl Hugo zu ihren persönlichen Lieblingsschriftstellern zählte und seine Werke einen Ehrenplatz in ihrem Regal einnahmen.
Ein Klopfen ließ sie aufblicken. Der mit roter Tinte getränkte Federhalter verharrte schwebend über dem Blatt, als sie »Herein!« rief.
Lisbeth stand vor der Tür, ein wenig schuldbewusst, da sie wusste, dass Pauline während ihrer Arbeit nicht gerne gestört wurde.
Pauline nickte. »Oui?«
»Ein Bewerber, Mamsell«, sagte die Elsässerin. »Jemand, der an Ihrem Institut eine Arbeit sucht. Was soll ich ihm sagen?«
»Das ging aber schnell.« Pauline war irritiert. Thomas war doch erst vor wenigen Minuten losgerannt. Umso neugieriger war sie, wer da unten im Eingang stehen mochte.
Ihr schlechtes Gewissen meldete sich, als sie den Blick auf den Stapel mit den Arbeitsheften richtete. Nun, die mussten sich gedulden.
Seufzend steckte sie den Federhalter wieder zurück in seinen Ständer und stand auf.
»Lass ihn draußen warten, Lisbeth. Und sag ihm, dass ich gleich unten bin.«
*
Vincent hatte sich das anders vorgestellt. So viel musste er sich eingestehen.
An die Stelle des Optimismus, den er bei seiner Ankunft in Diedenhofen verspürt hatte, war rasch Ernüchterung getreten.
Obgleich ihn nun Hunderte von Kilometern und mehrere Tagesreisen von jener Vergangenheit trennten, vor der er geflohen war, hatte er den Eindruck, dass sie ihn eingeholt hatte. Denn Diedenhofen - oder Thionville, wie auch immer man es nennen mochte - war eine Festungsstadt, in der, wie im Reichsland Elsaß-Lothringen durchaus üblich, preußische und auch bayerische Truppen stationiert waren.
Vincent konnte nicht verhindern, dass er beim Anblick blau uniformierter Offiziere noch immer zusammenzuckte und den verhassten Drang verspürte, strammzustehen. Trotz der verträumten Silhouette des lothringischen Moselstädtchens, über dem meist der Ruß aus den Hochöfen der ortsansässigen Eisenhütte hing, stieg in ihm das ungute Gefühl auf, erneut in die Falle getappt zu sein.
Aber noch hatte er einen Trumpf im Ärmel, eine letzte Karte, die er ausspielen konnte. Vorausgesetzt, er stellte sich geschickt an und es gelänge ihm, gewisse Begebenheiten seiner Vergangenheit unerwähnt zu lassen.
Der Anblick des Pensionats hatte etwas Respekt einflößendes an sich. Ein dreistöckiges, hell verputztes Gebäude, dessen sichtbares Mauerwerk aus dem für diese Region typischen goldgelben Kalkstein bestand. Ebenso die Umrandungen der Sprossenfenster, die gleichmäßig über alle Stockwerke verteilt waren und mit ihren geöffneten Läden ihn wie durchdringende Augen zu mustern schienen. Über dem Hauptportal wölbte sich ein halbrunder, schön geschwungener Halberker der dem fast klassisch streng gehaltenen Gebäude einen verspielten Zug verlieh.
Trotz des milden Wetters schwitzte er in seiner einfachen, aus grobem Leinen und Wollstoff bestehenden Kleidung, die sich noch immer fremd anfühlte. Mit einem Mal fragte er sich, was ihn zu diesem wahnwitzigen Plan verleitet hatte, der ihm sicher nur neuen Ärger einbringen würde.
Dessen ungeachtet zwang er sich, ruhig stehen zu bleiben und die von der etwas fülligen Haushälterin in breitem Elsässer Akzent angekündigte Ankunft der Besitzerin abzuwarten. Zu lange war er weggelaufen, zu lange vor sich selbst und dem Erlebten geflohen. Und wenn er seine Schuhe höchstpersönlich an diesem Pflaster festnageln müsste, er würde hier nicht fortgehen. Zumindest nicht, ehe er das getan hatte, weshalb er sich auf den langen Weg über die Grenze des Reichslandes gewagt hatte.
Der Anflug eines schlechten Gewissens überkam ihn. Er hasste es, Menschen zu täuschen. Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit waren ihm mit in die Wiege gelegt worden.
Schritte näherten sich der Tür, dann öffnete sich diese und gab den Blick frei auf eine junge Frau in einem tadellos sitzenden, pfirsichfarbenen Kleid, mit aufgestecktem kastanienbraunem Haar und bernsteinfarbenen Augen, die ihn interessiert musterten.
Vincent spürte, wie seine Muskeln sich verkrampften. Nun lag es an ihm, seine Chance zu nutzen.
Der Mann, der an der Treppe vor der Tür stand, mochte Anfang oder Mitte zwanzig sein, so genau konnte Pauline es nicht sagen, denn der Schirm einer Schiebermütze warf einen Schatten über seine Züge. Seine Kleidung wirkte zwar sauber, aber einfach und bereits ein wenig abgetragen.
»Bonjour, Monsieur. Kann ich Ihnen helfen?«
Ein Hauch von Herausforderung und Trotz lag in seiner Körperhaltung, als er zu ihr aufsah und sie sein Gesicht sehen konnte, dessen untere Hälfte von einem Bartschatten bedeckt und das von der Sonne leicht gebräunt war. Das helle Haar trug er ein wenig länger als gemeinhin üblich, im Nacken berührte es fast den Kragen seiner beigefarbenen Wolljacke. Doch das Auffälligste an ihm waren seine Augen. In ihrem klaren, tiefen Blau wirkten sie wie ein unbestimmter Widerspruch zu seiner übrigen Erscheinung.
Einen kurzen Moment lang stockte Pauline. Etwas an diesem Mann kam ihr vage bekannt vor, ohne dass sie zu sagen vermochte, woher dieser Eindruck rührte. Waren sie sich schon einmal begegnet?
»Guten Morgen, Mademoiselle.« Trotz seines jungen Alters klang seine Stimme sonor, fast ein wenig rau. »Ich bin auf der Suche nach Arbeit, und wollte nachfragen, ob .«
»Bitte entschuldigen Sie.« Fragend zog Pauline die Brauen zusammen. »Kennen wir uns von irgendwoher?«
Für einen Augenblick meinte sie den Ausdruck des Erschreckens in den Augen des Mannes zu lesen. Dann aber wirkten diese wieder so ruhig und klar wie die Oberfläche eines Sees.
Er senkte den Kopf. »Nein, Mademoiselle. Nicht, dass ich wüsste. Es ist nur .« Kurz schien er unsicher, was er sagen sollte, dann schaute er sie direkt an. »Ich brauche dringend eine Anstellung, und bei einem Institut wie dem Ihren fällt sicher jede Menge Arbeit an. Da hinten beispielsweise .« Er wies mit dem Finger auf die entsprechende Stelle. »Da scheint ein Fensterladen ein wenig aus den Angeln geraten zu sein, und hier oben .« Er machte einige Schritte rückwärts und legte den Kopf in den Nacken. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist dort ein Dachziegel locker. Nicht, dass er noch jemandem auf den Kopf fällt.«
Ein wenig überrumpelt folgte Pauline seinem Blick, konnte aber nichts erkennen.
»Sicher verfügt diese Schule auch über einen Garten.« Noch immer sah er sie...
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