Schweitzer Fachinformationen
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Am späten Nachmittag desselben Tages glich das vornehme Pensionat für höhere Töchter einem Taubenschlag. Die Türen der Schlafzimmer in der zweiten Etage standen offen, und die elf Schülerinnen, die diese meist zu zweit bewohnten, waren dabei, ihre Koffer für die dreitägige Exkursion nach Sarreguemines zu packen. Eine bedeutende Industriestadt an der Grenze zwischen Lothringen und der preußischen Rheinprovinz, welche in Deutschland und Frankreich gleichermaßen für ihre gehobene Faïence-Kunst bekannt war.
Pauline, deren erklärtes Ziel es war, ihre Schützlinge zur Selbstständigkeit zu erziehen, bemühte sich, bei den Reisevorbereitungen der Mädchen so wenig wie möglich einzugreifen, und würde sich lediglich zum Abschluss vergewissern, dass nichts Wichtiges fehlte. Dennoch blieb sie in der Nähe, lugte hin und wieder in einen der Räume und gab hilfreiche Ratschläge.
»Packt nicht zu viel ein. Wir sind ja nur wenige Tage dort. Die wahre Kunst besteht nicht darin, die Koffer vollzustopfen, sondern geschickt auszuwählen. Vorab zu überlegen, was man wirklich gebrauchen kann.«
Nachdenklich fiel ihr Blick auf den großen Spiegel, der sich an einer Wand im Flur befand. Sie betrachtete die schlanke, wohlproportionierte Figur, die sie darin sah, in einem knöchellangen altrosa Rock, mit einer weißen, eng auf Figur geschneiderten Bluse darüber. Ihr kastanienfarbenes Haar war zu einer schlichten Frisur aufgesteckt. An einer dünnen Goldkette um ihren Hals schimmerte ein zierliches Doppelkreuz, ein sogenanntes Lothringer Kreuz, eines der Wahrzeichen ihrer Heimat.
»Ich weiß gar nicht, was ich einpacken soll!«, jammerte Charlotte. »Ich glaube, ich habe nichts Richtiges anzuziehen. Schon gar nichts, was für dieses Provinznest, in das wir fahren werden, passend wäre.«
Langsam wandte sich Pauline von ihrem Spiegelbild ab und betrat das Zimmer, welches Charlotte von Schwegat mit ihrer Mitschülerin Esther David bewohnte. »Eine Einstellung, die ich leider nicht teilen kann. Die wahre Dame von Welt weiß stets, wie sie aufzutreten hat. Ganz gleichgültig, wo sie sich gerade befindet.«
Statt einer Antwort rollte Charlotte nur abwehrend mit den Augen und fuhr dann fort, den Inhalt ihres Kleiderschranks zu durchforsten.
»Und du, Esther, bist du froh, so bald nach den Weihnachtsferien wieder nach Hause zu kommen?« Die Angesprochene, ein aufgewecktes dunkelhaariges Mädchen, welches Pauline von Beginn an durch eine interessante Mischung aus Schüchternheit und messerscharfem Verstand aufgefallen war, strahlte. »Oh ja, Mademoiselle. Eine schöne Überraschung. Besonders, da ich ja diesmal in den Osterferien nicht heimfahren kann, weil meine Eltern dann in Thüringen sind, bei Mutters Cousine, die ihr Kind erwartet.«
Ebenfalls lächelnd legte Pauline Esther die Hand auf die Schulter. »Wie schön, das freut mich für dich.«
Esthers Familie lebte in Sarreguemines und betrieb dort einen kleinen, aber sehr erfolgreichen Laden für Faïence, Porzellan und andere Haushaltswaren. Um das Selbstbewusstsein des Mädchens zu stärken, hatte Pauline es dazu aufgefordert, zusammen mit Fräulein Schmitt, die unter anderem Geografie an der Schule unterrichtete, eine kleine Führung auszuarbeiten, bei der die Schülerinnen das Wichtigste dieses an der Mündung von Blies und Saar gelegenen Städtchens erleben konnten.
Und obgleich derartige schulische Exkursionen immer mit sehr viel Arbeit und Vorbereitungen verbunden waren, freute sich Pauline darauf. Es war ihr wichtig, dass ihre Schützlinge ihren Horizont erweiterten und zudem das Land, in dem sie lebten, besser kennenlernten: das wunderschöne, wenn auch zutiefst zerrissene Lothringen.
Ein Knarren von der Treppe her ließ Pauline sich umwenden, und sie erkannte, dass ihre jüngere Kollegin auf dem Weg zu ihr nach oben war. Eleonore Schmitt war eine große Stütze in ihrem Pensionat, eine junge Frau, die sie von Tag zu Tag mehr zu schätzen lernte. Auch wenn sie mit den streng zurückgekämmten, schmucklos am Hinterkopf zusammengesteckten dunkelblonden Haaren, den stets dunklen Kleidern und der schwarz umrandeten Brille auf den ersten Blick wie eine spröde alte Jungfer wirkte, verbargen sich dahinter ein wacher Geist und ein ausgeprägter, trockener Humor.
»Ich hoffe, es geht gut voran mit dem Packen, Mademoiselle«, sagte sie mit einem Lächeln, als sie die oberste Etage erreicht hatte und das allgemeine Treiben begutachtete. »Wenn Sie möchten, kann ich Sie hierbei für eine Weile ablösen. Lisbeth braucht unten in der Küche Ihre Hilfe. Es geht um Fragen für den Reiseproviant, die sie gerne mit Ihnen geklärt hätte.«
»Oh ja, vielen Dank.« Erleichtert, für einen kurzen Moment dem allgemeinen Trubel entkommen zu können, schritt Pauline Richtung Treppe. »Die neue Kollegin, Miss O'Meally, ist gerade in der Stadt, um noch einige Dinge für die Reise zu besorgen. Ich überlasse die Meute hier dann so lange Ihrem wachsamen Auge.«
Ein kurzes Auflachen war die Antwort, und schon war Pauline die beiden Etagen nach unten ins Erdgeschoss geeilt, wo auf der einen Seite die Salle de Classe, der Klassenraum, sowie die hauseigene Bibliothek, auf der anderen Seite der Hauswirtschaftstrakt mit der Küche lagen.
Bereits von Weitem schlug ihr der Geruch von gerösteten Zwiebeln, Butter und gebratenem Fleisch entgegen, und Pauline spürte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief.
»Es duftet wieder einmal wunderbar, Lisbeth«, sagte sie statt einer Begrüßung, als sie die Küche betrat. Die bereits grauhaarige, etwas korpulente Elsässer Köchin stand mit vorgebundener Schürze und aufgekrempelten Ärmeln am Herd und schmeckte gerade mit einem großen Löffel die Sauce ab. Das Hausmädchen Camille, in schwarzem Kleid, weißer Schürze und gestärktem Häubchen, war derweil damit beschäftigt, die fertig zubereiteten Speisen in Schüsseln, Schalen und Terrinen umzufüllen, bevor diese dann im Speisesaal, im Réfectoire, in der ersten Etage serviert werden würden.
»Jesses Maria, so viel Arweit!«, schnaubte Lisbeth, als sie mit dicken Topflappen den schweren Bräter vom Feuer zog und Camille Anweisung gab, das Fleisch herauszunehmen und in dünne Scheiben zu schneiden.
»Nach dem Abendessen werden Camille und ich damit beginnen, den Reiseproviant vorzubereiten. Sicher brauchen Sie ein paar belegte Brote für die hungrige Meute.«
Pauline, die nicht verhindern konnte, dass beim Anblick all dieser Köstlichkeiten ihr Magen zu knurren begann, besonders als sie einen Schokoladenpudding entdeckte, üppig verziert mit eingelegten Kirschen und einem Sahnehäubchen, stimmte ihr zu. »Vielen Dank, das kann nicht schaden.«
Camille schickte sich bereits an, die erste Schüssel nach oben zu tragen, und mit einem Lächeln hielt Pauline ihr die Tür auf.
»Merci, Mademoiselle«, sagte diese schüchtern, doch hatte Pauline den Eindruck, dass das junge Mädchen, das sie vor etwa zwei Jahren mehr aus Mitleid eingestellt hatte, weniger verhuscht und ängstlich wirkte als noch vor einem halben Jahr. Auch schien sie nicht mehr ganz so mager zu sein, ihre Wangen wirkten fülliger und rosiger. Und während sie aus dem französischsprachigen Teil des annektierten Lothringen stammte, aus der Nähe von Château-Salins, und bei ihrer Ankunft hier in der Schule fast nur Französisch gesprochen hatte, wiesen auch ihre Deutschkenntnisse in letzter Zeit merkliche Verbesserungen auf.
»Gut, und wie macht sich die Neue?«, fragte Lisbeth, während sie vorsichtig mit einem Schaumlöffel perfekt geformte Kartoffelklöße aus dem Topf in eine Schüssel füllte. »Ich hoffe ja wirklich, Mamsell, dass Sie auf diese Art ein wenig Entlastung finden. Die ganze Arbeit nur auf vier Schultern verteilt .« Sie schüttelte den Kopf.
»Nun, um ehrlich zu sein, hatte ich bisher noch keine Gelegenheit, sie wirklich kennenzulernen. Eine weit gereiste, durchaus selbstbewusste junge Frau, würde ich sagen. Und da sie zudem nicht nur Englisch, sondern auch Musik unterrichtet, kann das nur von Vorteil sein.«
Es kostete Pauline Mühe, ihren Blick von den beiden Blechen abzuwenden, auf denen frisch gebackene Apfelkuchen zur Abkühlung standen.
»Von ihren pädagogischen Fähigkeiten werde ich mich allerdings erst nach unserer Rückkehr überzeugen können. Ab morgen sind wir ja ein paar Tage weg, und danach .«
Ihr Blick ging durch das Küchenfenster, das in den Garten führte. »Wo wir gerade von ihr sprechen, dahinten scheint sie von ihren Erledigungen zurückzukommen. Zumindest ist sie pünktlich, das muss man ihr lassen. Bien .« Pauline rieb sich die Hände. »Dann können wir gleich mit dem Abendessen beginnen, ich lasse die Mädchen rufen.«
*
Es quietschte leise, als Rhona das schmiedeeiserne Tor öffnete, welches von der Rückseite in den Garten führte. Tatsächlich hatte sie Mademoiselle Martins Rat befolgt und in der Stadt noch rasch einige Besorgungen für die morgige Exkursion erledigt. Leider war ihr dabei zu wenig Zeit geblieben, um mehr als einen ersten flüchtigen Eindruck von ihrer neuen Wirkungsstätte zu bekommen. Aber dazu wäre nach ihrer Rückkehr aus Saargemünd sicher ausreichend Gelegenheit.
Der stramme Marsch durch die Stadt hatte die Februarkälte aus Rhonas Knochen vertrieben, trotzdem war sie froh, bald wieder im Warmen zu sein.
Feine Atemwölkchen bildeten sich um ihren Mund, als sie eilig den Garten durchquerte, der um diese Jahreszeit noch im Dornröschenschlaf lag und recht kahl aussah.
Dennoch konnte man bereits jetzt sehen, dass...
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