Schweitzer Fachinformationen
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Louise Kahan, auch bekannt als Annette Hollander Sinclair, sah in der Diele ihrer Wohnung die Post durch. Ein Luftpostbrief aus Paris. »Deine Tante Gloria hat dir geschrieben«, rief sie Kay zu, die sich in ihrem Zimmer eingeigelt hatte und Swing hörte, angeblich Schularbeiten machte, aber in ihren klebrig-verschwitzten Gedanken nur den Jungens nachhing. Louise kannte die Symptome, hatte aber nie ein Heilmittel dagegen gefunden, nicht bei sich selbst und schon gar nicht bei ihrer Tochter. Kay antwortete nicht; vermutlich hörte sie nichts über dem Stampfen aus dem Radio.
Ein Stapel Privatpost für Mrs. Louise Kahan. Familienkram, Einladungen. Gelegentlich ein Fauxpas, gerichtet an Mr. und Mrs. Oscar Kahan. Wo wart ihr eigentlich die letzten zwei Jahre? Dann die Post für Annette Hollander Sinclair in zwei Häufchen: eins für Geschäftsbriefe über Rechte, Rundfunkbearbeitungen, ein Vertrag mit Doubleday von ihrem Agenten Charley für den Sammelband mit Erzählungen unter dem Titel Was ihm verborgen blieb. Vorträge, Clubansprachen, ein Interview am Mittwoch.
Der zweite Stapel für Annette war Fanpost, zu fünfundneunzig Prozent von Frauen. Schließlich ein paar Sachen für die schlichte Louise Kahan: ihr Daily Worker, Nachdrucke von einem Masses and Mainstream-Artikel, den sie über den Streik der Docker in Baltimore geschrieben hatte, von International Publishers ein Buch über Fabrikarbeiterinnen, das sie besprechen sollte, und William Shirers Berliner Tagebuch.
In dem Stapel waren auch die Nachmittagszeitungen. Die griff sie sonst zuerst auf, aber sie konnte sich heute nicht dazu durchringen. Europa war von einem Ende bis zum anderen von den Nazis besetzt, ein einziges riesiges Gefängnis. Überall wurden gute Menschen und alte Freunde an die Wand gestellt, in Kellern gefoltert, in Lager verschleppt, über die Gerüchte umgingen, die langsam mehr zu sein schienen als Gerüchte.
Sie lehnte sich an die Wand und sammelte Kraft, um ihr Leben fortzusetzen, das gefühlsgeladene Minenfeld zu betreten, in das sich ihre Beziehung zu Kay in letzter Zeit verwandelt hatte. Die Diele war der dunkelste Raum der Wohnung, denn das Wohnzimmer, ihr Büro und Kays Zimmer hatten Aussicht auf den Hudson River, ihr eigenes Zimmer und das Esszimmer blickten auf die Zweiundachtzigste Straße. Sie hatte die Diele mit ein paar geschickt platzierten Spiegeln aufgehellt und mit einer Lampe eigens auf den großen, kühnen Miró, den sie jetzt auf der Suche nach Heiterkeit, Esprit und Licht betrachtete.
Der Vortrag, vor zwei Stunden von ihr gehalten, hatte sie gelangweilt, wiewohl nicht ihr Publikum. Wenn sie an den flittergeschmückten Läden vorbeikam, fand sie Weihnachten schwerer zu verkraften als sonst. Die Welt verbrannte zu Knochen und Asche, und ihre Landsleute dachten an nichts als Donald Duck im Weihnachtsmannkostüm. Sie musste eigentlich bald die Stadt zur East Side durchqueren, um Lekvar für eine Süßigkeit zu besorgen, die sie gern zu Chanukka buk, eine ungarisch-jüdische Leckerei aus der Küche ihrer Mutter, aber der Laden, der das führte, lag im deutschen Yorkville. Sie musste in kampflustiger Stimmung sein, um den offen zur Schau gestellten Hakenkreuzen die Stirn zu bieten, den Nazifilmen in den Kinos, Sieg im Westen, dem Deutsch-Amerikanischen Bund, der antisemitische Pamphlete an den Ecken verteilte.
Neben der Post lag eine Liste der Telefonanrufe, hingekliert, wenn Kay sie entgegengenommen hatte: Ed von der Vortragsvermittlung hat angerufen. Du sollst morgen Vormittag zurückrufen. Hat wohl Ärger.
Eine Verrückte hat angerufen, sie will, dass du ihre Lebensgeschichte schreibst.
Papi hat angerufen.
Die Notizen ihrer Haushälterin Mrs. Shaunessy und ihrer Sekretärin Blanche waren ordentlicher:
Mr. Charles Bannermann, 11:30. Er möchte wissen, ob die Verträge angekommen sind.
Mr. Kahan, 14:30. Er ist in seinem Büro in der Columbia.
Mr. Dennis Winterhaven, gegen 15:00, er ruft noch mal an.
Miss Dorothy Kilgallen hat angerufen wegen eines Interviews mit Ihnen am 12. Dezember.
Oscar hatte zweimal angerufen. Sie versuchte, das als bedeutungslosen Zufall zu behandeln, aber nichts zwischen ihnen würde sich je auf eine emotionslose Ebene hinunterschrauben lassen, das wusste sie inzwischen. Allein bei der Aussicht, ihn zurückrufen zu müssen, erhöhte ihr Herz merklich den Durchfluss, verflixte verräterische Pumpe. Sie erledigte zuerst die geschäftlichen Anrufe, klärte ihren Terminplan, schaute die Verträge durch, setzte ihre Paraphe, wo sie sollte, unterschrieb mit vollem Namenszug, wo sie sollte. Das Geld konnte sie wahrlich brauchen.
Sie beschloss, mit Kay zu reden, bevor sie sich auf ihren geschiedenen Ehemann einließ. Sie klopfte an. Mit fünfzehn hatte sie sich nach eigener Privatsphäre mit einer Heftigkeit gesehnt, an die sie sich noch erinnern konnte. Sie gewährte Kay die Unantastbarkeit ihres Zimmers, obwohl das Beherrschung kostete. Louise kannte sich als ängstliche Mutter. Sie wollte Kay gern wieder näher sein, so nah, wie sie sich gewesen waren, als Kay noch kleiner war, auch wenn sie wusste, dass Kay ihre Unabhängigkeit behaupten musste. Irgendwo lag der richtige Ton, die richtige Stimme, die richtige Geste, um das gegenseitige Wundgeriebensein zu lindern.
»Schau, schau, ein Annette-Hut!«, sagte Kay. Sie lümmelte auf dem Fußboden, ganz Beine und Ellenbogen und überzählige Gelenke in einem Faltenrock, der rasch seine Falten verlor, und einer übergroßen Hemdbluse, in der sich ihr kaum entwickelter Körper verlor, als habe er sich aufgelöst. Sie drehte automatisch das Radio leiser, als Louise hereinkam.
Louise berührte den Hut: ein Wagenrad in Schwarz und Rosa mit einem kleinen Schleier über den Augen. »Ich habe in Oyster Bay einen Vortrag vor einem literarischen Club gehalten.«
»Literarisch?«, kreischte Kay. »Was wollten die dann von dir?«
»Sie nennen sich so, aber sie lesen nicht Thomas Mann.« Sie löste die Hutnadeln, nahm den Hut ab und ließ ihn auf zwei Fingern kreisen. Sie schlüpfte aus ihren hochhackigen Pumps und sank in den Schaukelstuhl, um sich die müden Füße zu massieren. »Hat dein Papi gesagt, was er wollte, Kay?«
Kay kicherte. »Ich habe ihm von meinem Aufsatz erzählt, und er hat ihn praktisch am Telefon für mich geschrieben.«
»Das war bestimmt sehr hilfreich«, sagte Louise und schmeckte dabei den Essig in ihrer Stimme. »Was hatte er sonst noch zu bieten?«
Kay zuckte die Achseln. Offensichtlich war sie unwillens, die Reichtümer eines trauten Vater-Tochter-Gespräches zu teilen.
Louise fiel es wieder ein. »Für dich ist ein Brief da von deiner Tante Gloria.«
Gloria, Oscars Schwester, hatte der Kriegsausbruch in Paris überrascht. Gloria war Kays Lieblingstante, die Glanzgestalt, die Andere, die sie so sehnsüchtig sein wollte: eine elegante, schwarzhaarige Schönheit, die als freie Korrespondentin in amerikanischen Zeitschriften über französische Mode berichtete. Gloria war wie Oscar in der Stahlstadt Pittsburgh geboren, doch das einzig Stählerne an ihr war ihr Wille. Louise bewunderte die Willenskraft und den Stil ihrer Schwägerin, obwohl Gloria außer Opportunismus keinen politischen Standpunkt besaß und einen nichtssagenden Franzosen mit mehr Geld als Verstand und mehr Stolz als Geld geheiratet hatte.
Gloria nahm ihre Tantenpflichten ernst. Sie war kinderlos, denn ihr etwa zwanzig Jahre älterer französischer Mann hatte bereits Kinder, denen es offenkundig lieber war, dass er keine weiteren in die Welt setzte. Während Kay durch die Wildwasser ihrer Pubertät paddelte, schickte Gloria ihr unpassende Geschenke (entweder zu kindliche Teddybären oder zu damenhafte perlenbesetzte Pullover) und anekdotische Briefe, die Kay heiß und innig liebte.
Nun raffte Louise sich seufzend auf. Sie streifte einen Kuchenkrümel vom Rock ihres rosaroten Wollkostüms und betrachtete sich in Kays Spiegel.
»Du siehst schick aus, Mami. Warum bist du immer noch so angezogen? Gehst du noch mal aus?«
»Nein, Liebling, keinen Schritt. Ich wollte mich nur bei dir melden.« Sie sah wirklich recht gepflegt aus, der Teint rosig über dem rosaroten Kostüm, das Haar gut geschnitten, eng anliegend an den Seiten des ovalen Gesichts, dessen bestes Merkmal die fein geschnittenen Züge waren und dessen zweitbestes die großen grauen Augen, betont vom rotbraunen Haar. Louise war es immer selbstverständlich gewesen, auf Männer attraktiv zu wirken; etwas Gegebenes, über das sie nicht nachzudenken brauchte, ein Vorteil, auf den sie sich verlassen konnte. Jetzt prüfte sie kritisch ihr Aussehen, wie sie es jeden Monat mit ihrem Bankkonto tat. Die Ausgaben waren hoch für ihren vaterlosen Haushalt, und die Lebenshaltungskosten konnten sich auf dem Gesicht einer Frau von achtunddreißig rasch niederschlagen. Wenig Eitelkeit war im Spiel. Sie vertrat die Ansicht, wenn ein Vorteil dahin war, so tat man gut daran, das zu berücksichtigen. Doch der Spiegel versicherte ihr, dass sie attraktiv geblieben war, falls das irgendetwas nutzte.
Wenn sie daran dachte, wieder zu heiraten, dann tauchte die Frage auf, wo sie mit dem Mann überhaupt hinsollte. Nachdem Oscar entschwunden war, hatten sie und Kay und Mrs. Shaunessy und ihre Sekretärin Blanche den Platz rasch ausgefüllt. Sie war nicht bereit, auf ein Büro für ihre Arbeit zu verzichten und sich je wieder mit einem zierlichen Damenschreibtisch hinter einem Wandschirm in einer Ecke des Schlafzimmers zu begnügen. Sie lächelte dem Spiegelbild, das sie schon gar nicht mehr...
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