Schweitzer Fachinformationen
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Auf der Fahrt stellte Toni die Musik so laut, dass sie fast alles übertönte. Nur die Bierwerbung an einer Bushaltestelle drang zu ihm durch. Ein markanter unrasierter Mann stand in einer Dünenlandschaft. In seiner Hand hielt er eine grüne Flasche. Das endlose Wattenmeer versprach Weite und Freiheit. Nur ein Schluck aus der Pulle, dachte Toni, und alle Probleme sind gelöst. Leider wusste er viel zu gut, dass es nicht so einfach war.
Nach einer halben Stunde erreichte er den Havelport, einen Binnenhafen in Wustermark. Im Schritttempo rollte er durch das offene Tor. Vorbei an den Containerbüros, einem Kipplader und einem Lkw mit Schüttgut fuhr er bis zum Schiffsanleger vor und parkte neben einem Kran.
Als er seine Beine aus dem Peugeot hievte, entdeckte er Oberkommissarin Gesa Müsebeck, die mit einem uniformierten Beamten zusammenstand und Anweisungen erteilte. Mit ihrer dunklen Kurzhaarfrisur, den schmalen Hüften und den festen schwarzen Schnürschuhen sah sie von hinten aus wie ein Mann. Im Kommissariat kursierte das Gerücht, dass sie lesbisch war. Toni war immer für Toleranz und Gleichberechtigung gewesen, aber in diesem Moment brandete ein solcher Hass auf alle Homosexuellen in ihm an, dass er aus dem Auto sprang und die Tür zuknallte.
Es war ihm scheißegal, ob er Aufsehen erregte. Mit geballten Fäusten stapfte er an die Kaikante. Eine kräftige Böe blies ihm ins Gesicht und brachte ihn zum Schwanken. Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen und schaute nach unten, wo der Havelkanal gegen die rostige Mauer schwappte - Welle auf Welle.
Wasser war schon immer sein Element gewesen und hatte eine starke Wirkung auf ihn ausgeübt. Er erinnerte sich, wie er es als Kind liebte, unter die Oberfläche zu sinken und sich mit ausgebreiteten Armen treiben zu lassen. Es fühlte sich an wie Schweben. Keine störenden Geräusche drangen zu ihm durch; es war absolut still.
»Du siehst blass aus«, sagte Gesa, die neben ihn getreten war.
Erneut wurde Toni von seiner Wut überrollt. »Das geht dich überhaupt nichts an«, platzte er heraus und durchbohrte sie mit seinem Blick.
»Oh, da hat wohl jemand einen schlechten Tag erwischt«, sagte Gesa. »Dann gehen wir wohl besser gleich an Bord. Da kannst du dir selbst ein Bild machen.«
Die Kriminaloberkommissarin reichte ihm einen weißen Plastikanzug und Überzieher. Nachdem Toni sich hineingezwängt hatte, folgte er Gesa. Sie machte ein paar Schritte, stützte sich mit einer Hand an der Kaikante ab und sprang hinab auf das Frachtschiff, das längsseits festgemacht hatte. Über die Schulter schaute sie zurück und berichtete: »Wir haben einen männlichen Leichnam. Nach Auskunft des Bootsmanns handelt es sich um den sechzigjährigen Jürgen Seitz. Er ist Berufsschiffer und Partikulier.«
»Partikulier?«, fragte Toni. Hinter seinen Schläfen ließ das Pochen nach. Auf dem schmalen Gang zwischen Frachtraum und Reling hallten seine Schritte wider. Von Zeit zu Zeit musste er über einen weißen Kreidekreis treten, wo die KTU rötlich braune Fußspuren markiert hatte. Links neben ihm, im offenen Laderaum, tauchten sperrige Maschinenteile auf, die in eine Folie gewickelt waren. Ganz hinten stand ein alter Opel Corsa, der mit einem Kran an Land gehievt werden konnte.
»Das sind selbstständige Schiffseigner, die für eine Reederei oder einen sonstigen Befrachter fahren«, erwiderte Gesa. »Die MS >Beate< gehörte ihm.«
»Und der Bootsmann?«
»Angeblich hat er während des tödlichen Angriffs geschlafen«, antwortete Gesa und passierte das Ruderhaus. »Er hat gestern Nacht gezecht und war wohl ziemlich fertig. Nach dem Losmachen hat er sich hingelegt und ist nur aufgewacht, weil er pinkeln musste. Er wollte nach dem Rechten sehen und hat seinen toten Chef gefunden. Das Schiff trieb im Havelkanal. Er hat einen Notruf abgesetzt und die >Beate< zum Havelport gefahren.«
»Ist er glaubwürdig?«
»An seinen Händen und der Kleidung haben wir Blutspuren gefunden, aber er hat sich neben den Leichnam gekniet und nach Lebenszeichen gesucht. Ansonsten roch er bei der Befragung nach Alkohol und machte einen verzweifelten Eindruck. Auch hat er mich mehrmals gefragt, wer ihn in seinem Alter noch einstellen soll.«
»Wir dürfen ihn nicht ausschließen. Selbst wenn er harmlos wirkt, kann er mit drinstecken«, sagte Toni und blieb im Heck des Schiffes stehen.
Einige Spurensicherer untersuchten den toten Kapitän. Fotos wurden geknipst und Proben genommen. Mittlerweile hatte Toni sich wieder unter Kontrolle und konnte klar denken. Seine Eheprobleme waren kein Grund, um seine liberalen Überzeugungen über den Haufen zu werfen. Ob und mit wem Gesa Sex hatte, war ihre Privatsache und mit Sicherheit kein Anlass, um ihr distanziert, zornig oder mit Vorurteilen zu begegnen. Ganz im Gegenteil. Auf die Kollegin war immer Verlass gewesen. In ihrem dreiköpfigen Ermittlerteam war sie die Pragmatikerin, die nie den Überblick verlor. Im zwischenmenschlichen Umgang war sie korrekt und verbindlich. Zu ihrer Bodenständigkeit passte, dass sie in der Region aufgewachsen war und durch ihre sechs Brüder und deren Familien in beinahe jedes Dorf des Havellandes verwandtschaftlich vernetzt war. Davon hatten die Ermittlungen schon häufig profitiert. Eine solche Behandlung hatte sie nicht verdient.
»Es tut mir leid, dass ich dich so angeblafft habe«, sagte Toni. »Bitte entschuldige.«
»Was ist denn los?«, erwiderte Gesa. »So kenne ich dich gar nicht.«
Toni presste nur die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Das Verhältnis zu seinen Teammitgliedern war so gut, dass er es nicht durch seine privaten Probleme belasten wollte. »Wie ist Seitz ums Leben gekommen?«, fragte er.
»Du willst nicht darüber reden«, sagte Gesa. »Das ist dein gutes Recht. Solltest du es dir anders überlegen, hab ich ein offenes Ohr.«
»Danke.« Toni wusste bereits, dass er nicht auf ihr Angebot zurückkommen würde, aber ein solches zu erhalten, war auch schon was wert. »Lass uns weitermachen.«
Gesa sah ihn prüfend an und nickte. »Als wir Seitz fanden, hielt er in seiner rechten Hand eine Signalpistole, die er kurz zuvor abgefeuert hatte. Den Leuchtsatz haben wir im Bug des Schiffes gefunden. Er ist gegen eine Metallwand geprallt und auf das Deck gefallen. Seitz weist auf der Rückseite des rechten Beins eine tiefe Stichverletzung auf, die auch den Blutverlust erklärt. Außerdem ist ihm das Genick gebrochen worden.«
»Wie bitte?«
»Ja. Anhand der Spurenlage gehen wir von folgendem Tathergang aus: Seitz wird angegriffen. Er feuert die Signalpistole auf den Täter ab und verfehlt ihn. Seitz will fliehen und rennt Richtung Heck davon. Ein Stichwerkzeug, vermutlich ein Wurfmesser, trifft ihn hinten am Bein, und er fällt nach vorne. Der Täter holt ihn ein, kniet sich auf seinen Rücken und bricht ihm das Genick.«
»Er hat ihn also in seine Gewalt gebracht und dann kurzen Prozess gemacht«, sagte Toni. »Das war eine Hinrichtung.«
»Sieht so aus«, erwiderte Gesa.
»Der Täter kann mit einem Wurfmesser umgehen und mit bloßen Händen töten. Über solche Fähigkeiten verfügen nicht viele Menschen. Das schränkt den Kreis der Verdächtigen deutlich ein.«
»Wir suchen jemanden, der möglicherweise im Nahkampf ausgebildet ist«, sagte Gesa. »Der Bootsmann macht keinen sehr fitten Eindruck. Auch der Modus Operandi passt nicht zu ihm. Zwar fuhr er erst seit zwei Jahren mit Seitz, aber sie kennen sich schon länger. 1974 haben beide in der Binnenschifffahrtsschule der DDR eine Lehre zum Matrosen begonnen. Seitdem waren sie befreundet und hatten auch beruflich miteinander zu tun.«
»Ich stimme dir zu. Unser Täter ist eher ein Killer als ein langjähriger Freund, aber er kann trotzdem beteiligt sein. Sonst noch was?«
»Der Mörder ist nach der Tat auf dem Schiff herumgerannt, wie die blutigen Schuhspuren belegen. Er hatte es wohl eilig.«
»Sind Profil und Größe mit dem Schuhwerk des Bootsmannes abgeglichen worden?«
»Keine Übereinstimmung. Der Bootsmann hat Schuhgröße einundvierzig, der Täter trug Nike-Sneakers, die vier Nummern größer ausfallen. Er war zuerst im Ruderhaus, um die Maschine mit dem Notausschalter zu stoppen, dann im Büro, in den Wohnräumen und in der Kombüse. Überall hat er Schränke aufgerissen und Schubladen herausgezogen.«
»Dann hat er etwas gesucht! Mal angenommen, der Bootsmann hat nichts mit der Sache zu tun: Warum hat der Täter ihn nicht geweckt und unter Druck gesetzt? Warum hat er ihn verschont?«
»Seine Kajüte liegt auf dem Vorschiff. Wenn man sie nicht kennt, findet man sie nicht so leicht. Er kann Glück gehabt haben. Wenn du willst, zeige ich dir die Unterkunft.«
»Vielleicht später«, sagte Toni und schaute auf die andere Seite des Kanals. Gegen die Sonneneinstrahlung beschirmte er seine Augen mit der Hand. Auf dem Uferweg beobachteten ein Jogger, ein Spaziergänger mit einem Hund und ein Mann mit einer Kapuzenjacke das Geschehen. In ihrem Rücken erstreckten sich Wiesen und Felder, auf denen Windräder und Hochspannungsmasten standen. Vereinzelte Wolken zogen über die Landschaft. »Werden Fotos von den Schaulustigen gemacht?«
»Ja, ich hab vorhin einem Kollegen eine Kamera in die Hand gedrückt. Er steht vorne im Bug.«
»Gut. Wir sollten uns später .« Toni unterbrach sich. Er schaute erneut zur gegenüberliegenden Kanalseite, wo jetzt nur noch der Spaziergänger mit Hund und der Jogger standen. Wo war der dritte Mann?
»Ja?«, fragte Gesa.
»Ach, ich wollte nur sagen, dass wir uns später die Fotos genauer ansehen sollten.«
»Das...
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