Schweitzer Fachinformationen
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Potsdam, 1942
An der Station Babelsberg-Ufastadt sprang Lydia aus dem S-Bahn-Waggon. Auf sandigen Wegen hastete sie zwischen Kiefern zu dem berühmten Eingangstor, an dem sich schon zahlreiche Schicksale entschieden hatten. Ihr Herz schlug bis zum Hals, als sie sich mit ihrem Namen vorstellte. Glücklicherweise war der Pförtner informiert worden und führte sie zu einer Holzbank. Hier sollte sie warten, bis jemand sie abholen würde.
Nach und nach trafen die Stars in ihren schicken Cabriolets ein, um sich zu den Dreharbeiten in die Ateliers zu begeben. Produktionsassistenten schleppten Manuskriptstapel, ein Techniker stürmte mit einem Scheinwerfer unter dem Arm vorbei und verschwand in einem Gebäude. Ein beleibter Maskenbildner stieß wütend einen kleinen Rollwagen mit Schminkdöschen vor sich her.
Lydia verfolgte das Treiben fasziniert und saugte alle Eindrücke in sich auf. Dabei hielt sie den Brief, den sie von Dr. Rudolf Langen-Albrecht, dem Ufa-Nachwuchschef, zugeschickt bekommen hatte, wie einen Berechtigungsschein in der Hand. Mit diesem Schreiben konnte sie nachweisen, dass sie einen Grund hatte, sich hier aufzuhalten. Sie kannte den Wortlaut auswendig:
Sehr geehrte Frau Bugalle,
Herr Dr. Unstrut von der Nachwuchsabteilung der Bavaria-Filmkunst München hat mir die Stummtestaufnahmen geschickt, die dieses Jahr von Ihnen gemacht wurden. Bei einem Telefonat berichtete er mir, dass Sie demnächst die Aufnahmeprüfung an der Staatlichen Schauspielschule absolvieren möchten. Vorher würde ich Sie gerne zu Probeaufnahmen hier haben und Ihre Fotogenität prüfen.
Sollte es uns gelingen, Ihre Leinwandeignung nachzuweisen, würde ich mich freuen, Sie in unsere Filmakademie aufnehmen zu dürfen. Unsere Schüler werden von den besten Lehrern des Reiches unterrichtet und erhalten ein Stipendium in Höhe von 400 RM monatlich.
Bitte teilen Sie mir auf telegrafischem Wege mit, ob ich Ihr Interesse wecken konnte. Fahrtkosten in der zweiten Klasse werden Ihnen ersetzt, wenn Sie die Belege mitbringen.
Heil Hitler!
Dr. Rudolf Langen-Albrecht
Ufa Filmkunst G.m.b.H.
Nachwuchsabteilung
Mittlerweile war Lydia einundzwanzig Jahre alt, und sie wusste, dass diese Probeaufnahmen ihre vielleicht letzte Chance waren, im Filmgeschäft Fuß zu fassen. Schon früher hatte es Interessenten gegeben. Während sie mit den Hiller-Girls in verschiedenen Städten gastiert hatte, war sie von Intendanten, Regisseuren, Agenten und Talentsuchern angesprochen worden. Sie alle zeigten sich von ihrem blendenden Aussehen und ihrer Bühnenpräsenz beeindruckt. Trotzdem verloren sie nach einem ersten Treffen das Interesse und meldeten sich nicht mehr.
Lydias Enttäuschung war riesengroß, doch sie stellte Fragen und ließ nicht locker, bis sie eine Erklärung gefunden hatte. Die Wahrheit war niederschmetternd.
Wenn ihr jemand von Shakespeare vorschwärmte, dachte sie allen Ernstes, er rede von einem Leinwandhelden. Wenn jemand Goethe zitierte, hielt sie die Weisheit für einen Kalenderblattspruch. Und wenn sie selbst länger sprach, wurde in jedem Satz deutlich, dass sie aus einfachsten Verhältnissen stammte.
In der Kneipe ihres Vaters und als Tänzerin hatte ihre Erscheinung genügt, aber anspruchsvolle und feingeistige Gesprächspartner konnte sie nicht fesseln. Sie war eine dumme Gans.
Nachdem sie zu dieser Einsicht gelangt war, erwachte ihr Kampfgeist. Lange überlegte sie, wie sie Abhilfe schaffen konnte. Eine Frau sollte nicht klüger als ein Mann erscheinen. Einen höheren Schulabschluss musste sie daher nicht nachholen, aber einfältig durfte sie auch nicht bleiben.
So studierte Lydia Tageszeitungen, den Völkischen Beobachter und Zeitschriften wie »Die junge Dame«, um sich bei Gesprächen interessant zu machen. In Antiquariaten kaufte sie sich Klassiker, von denen alle redeten und die man kennen musste. Zum Lesen hatte sie nie Zeit gehabt, und am Anfang fiel es ihr schwer, einen Wälzer mit mehreren hundert Seiten zu beenden, aber die Fortschritte stellten sich schnell ein. Ihr Wortschatz vergrößerte sich, und sie drückte sich bald gewählter aus.
Regelmäßig unterhielt sie sich mit Traute, die aus dem Raum Hannover stammte und Hochdeutsch sprach. Lydia imitierte die Betonung, und mit der Zeit gelang es ihr, den starken sächsischen Dialekt abzumildern.
Ihre Gage sparte sie eisern, um Unterricht im Benimm, im Gesang und in Sprechtechnik zu nehmen. Die Anleitung durch eine Lehrerin war nur im Urlaub oder an freien Tagen möglich. Wenn sie auf Tournee war, musste sie allein zurechtkommen.
Dann stand sie im Hotelzimmer vor dem Spiegel und absolvierte ihre Stimmübungen: »ha-he-hi-ho-hu« und »ma-me-mi-mo-mu«. Sie rezitierte Verse mit dem Explosivlaut »k«. Ihre Freundin Vreni lachte sie jedes Mal aus. Aber Lydia ließ sich nicht beirren und sang noch die Dur-Tonleiter »do-re-mi-fa-so-la-ti« in verschiedenen Tempi hinterher.
Da rief Vreni vom Bett herüber: »Du solltest lieber mal was Richtiges singen. Hör mal, das habe ich gestern auf einem Zettelchen gelesen, den ich in der Straßenbahn gefunden habe: >Zehn kleine Meckerlein, die saßen einst beim Wein, der eine machte Goebbels nach, da waren's nur noch neun. Neun kleine Meckerlein, die haben nachgedacht, dem einen hat man's angemerkt, da waren's nur noch acht. Acht kleine Meckerlein, die haben was geschrieben, der eine hat's veröffentlicht, da waren's nur noch sieben. Sieben kleine Meckerlein -<«
Lydia stand der Mund sperrangelweit offen. Sie brauchte ein paar Sekunden, um die Schockstarre zu überwinden. »Hör sofort auf damit«, zischte sie, sprang auf die Füße und öffnete die Zimmertür. Sie schaute nach links und rechts. Glücklicherweise war der Hotelgang leer. »Hast du den Verstand verloren? Wenn du so weitermachst, landen wir noch unterm Fallbeil.«
Vreni zuckte mit den Achseln und griff nach einer Packung JUNO. Sie klopfte eine Zigarette heraus, zündete sie mit einem Streichholz an und inhalierte den Rauch tief.
Lydia musterte sie wütend. Eigentlich nutzte es nichts, ihr ins Gewissen zu reden. Eine Stunde später würde sie alle Mahnungen in den Wind schlagen und den nächsten lebensgefährlichen Unsinn plappern. Sie war unbelehrbar, ein hoffnungsloser Fall. Trotzdem startete Lydia einen weiteren Anlauf: »Wenn du noch einmal so einen Quatsch redest, suche ich mir eine neue Zimmergefährtin. Nur, damit du es weißt. Lore und Hanne würden sich freuen, wenn ich sie frage.«
»Die beiden sind so transusig. Du würdest dich zu Tode langweilen.«
»Aber sie sind unpolitisch.«
»Das bin ich auch«, sagte Vreni verschmitzt. Sie sog an ihrer Zigarette und blies einen schönen Rauchring. »Du bist eine treue Seele. Das hab ich schon bei unserer ersten Begegnung gemerkt. Du würdest mich niemals auf die Straße setzen.«
Das stimmte vielleicht, aber Vreni übersah, dass Lydia auch eine Verantwortung gegenüber ihren Geschwistern trug. Sie schickte regelmäßig Geld nach Leipzig, damit sie etwas aus sich machten. Außerdem hatte sie noch Großes vor; sie wollte ein Star werden und nicht wegen irgendwelcher Blödeleien in einem Lager landen.
»Reiß dich gefälligst zusammen«, sagte sie und beendete das Gespräch, indem sie sich von Vreni abwandte und ihre Gesangs- und Sprechübungen fortsetzte.
Zu ihrer großen Erleichterung zeigte sich, dass sie Takt und Melodie halten konnte. Ihre Stimme hatte eine raue Färbung, die sich dem Zuhörer einprägte. Auch Herrn Hiller blieb ihr Talent nicht verborgen, und er überlegte, ein Lied für sie in das Programm einzubauen, wozu es allerdings nicht mehr kommen sollte.
1941 verließ Lydia die Hiller-Girls, weil nach Ausbruch des Krieges die militärisch anmutenden Tanznummern beim Publikum nicht mehr so viel Beifall fanden. Sie erhielt ein Engagement am Gärtnerplatztheater in München, wo sie eine Rolle in der >Fledermaus<-Inszenierung übernahm. So blieb ihr endlich genügend Zeit für regelmäßigen Schauspielunterricht.
Nachdem sie über drei Jahre lang hart an ihrer Allgemeinbildung, ihrem gesellschaftlichen Auftreten und ihren künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten gearbeitet hatte, wurde sie von einem Regisseur der Bavaria Filmkunst gesichtet, der sie zu Stummtestaufnahmen einlud. Diese fielen so erfolgversprechend aus, dass er sie unverzüglich an seine Kollegen in Potsdam schickte, die ständig auf der Suche nach unverbrauchten Gesichtern waren. Wenige Tage später saß Lydia hier, auf dem Ufa-Gelände, am Ziel ihrer Träume.
Mittlerweile hatte sie mit genügend Filmleuten gesprochen, um die Bedeutung von Probeaufnahmen einschätzen zu können. Mit ihnen prüfte man die Eignung und Ausstrahlung eines Kandidaten. Ihr finanzieller und zeitlicher Aufwand war erheblich. Deshalb wurden sie mit außerordentlicher Achtsamkeit durchgeführt. Sie konnten der erste Schritt zu Rollenangeboten sein oder alle Träume zerplatzen lassen. Heute würde sich entscheiden, ob Lydia eine Zukunft als Darstellerin hatte oder Tänzerin bleiben würde.
»Komm mal mit, Mädchen!«, sagte ein Mann, der sich breitbeinig vor ihr aufbaute. Er hatte weit auseinanderstehende Augen, die ihren Körper abtasteten. Auf seinem Hemd klebten Reste der letzten Mahlzeit.
»Sind Sie Herr Langen-Albrecht?«, fragte Lydia erstaunt. Am Telefon hatte sich der Ufa-Nachwuchschef viel kultivierter angehört. Sie erhob sich und wollte ihm das Schreiben reichen.
»Lass mal stecken«, sagte der Mann und grinste. Dabei zeigte er gesunde, kräftige Zähne. »Ich...
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