Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Zwölf Stunden später
1
Neustädter Havelbucht, Potsdam
Während Toni Sanftleben seine Frau im Rollstuhl zum Bootsanleger schob, atmete der Vierzigjährige die frische Mittagsluft tief ein. Nach Auflösung der Nebelschwaden hatte sich die Sonne durchgesetzt, und die Meteorologen kündigten einen goldenen Herbst an. Von den Trauerweiden im Uferbereich rieselten längliche Blätter. Am Himmel zogen Graugänse in der typischen V-Formation vorüber.
Toni umschloss die Handgriffe fester und blickte liebevoll auf seine Frau herab. Sofies Haare schimmerten kupferrot. Manchmal konnte er kaum fassen, dass sie wieder bei ihm war.
1998 waren sie mit ihrem kleinen Sohn gerade von einer zweieinhalbjährigen Weltreise zurückgekehrt, als Sofie beim Baumblütenfest in Werder spurlos verschwand. In der Nacht badete sie in der Havel und kehrte nicht mehr zurück. Sechzehn Jahre hatte er nach ihr gesucht. Sein ganzes Leben hatte er dem Ziel untergeordnet, sie zu finden. Er, der Globetrotter und angehende Sprachenstudent, wurde sogar Kriminalpolizist, um mehr Handlungsspielraum zu haben. Er legte ein umfassendes Archiv an und verfolgte jede noch so geringe Spur, bis er sie vor elf Monaten aufspürte. Zwar war sie in schlechter körperlicher Verfassung, aber sie lebte - und das war die Hauptsache. Noch heute litt sie unter Gedächtnislücken, sodass sie nicht wusste, was damals passiert war.
Vor ihrem Verschwinden war die Welt groß und weit für Toni gewesen. Alles schien ihm möglich zu sein. Mittlerweile näherte er sich diesem Gefühl wieder an, was sich auch in seinem Stil ausdrückte. Er hatte seine dunklen Locken länger wachsen lassen und trug die Muschelkette, die ihm einst ein französischer Althippie am Strand von Goa geschenkt hatte. Trotzdem war er ein anderer geworden. Die Vergangenheit hatte Spuren hinterlassen. Er wagte nicht, zu weit nach vorn zu blicken, und er übte sich in der Kunst der kleinen Schritte.
Mit dem Handrücken rieb er sich über die Nase und dachte an gestern. Trotz ihrer Geldsorgen war er in ein Reisebüro gestiefelt und hatte einen Urlaub auf La Gomera gebucht, wo die Wassertemperaturen in zwei Wochen noch so hoch sein würden, dass sie im Meer baden könnten. Heute wollte er Sofie mit den Flugtickets überraschen und hoffte, dass die Sonne, der Strand und das Wellenrauschen dazu beitragen würden, dass sie sich auch körperlich wieder näherkamen.
Zärtlich legte er die Hand auf ihre Schulter und spürte sofort, wie sie sich verspannte. Er wollte sie nicht bedrängen und zog seinen Arm zurück. Die aufkommende Enttäuschung verdrängte er. Es gab keinen Grund, ihre Stimmung zu dramatisieren. Die Rehabilitation verlangte ihr viel ab. Für jede Verbesserung ihrer Koordinationsfähigkeit musste sie hart arbeiten. Nicht selten gab es Rückschläge. Vermutlich beschwerte es sie auch, dass sie ihm noch keine vollwertige Partnerin sein konnte.
Toni war so sehr in seine Überlegungen vertieft, dass er leicht zusammenzuckte, als sich plötzlich eine schlanke blonde Frau in sein Blickfeld schob. Sie blieb mitten auf dem Kiesweg stehen und schaute ihm ins Gesicht. Offenbar hatte sie auf ihn gewartet.
Ihr feines Halstuch, der taillierte Mantel und die weiße Bluse kontrastierten mit der ausgewaschenen Jeans und den hellbraunen Stiefeletten. Obwohl sie in einem lässigen Schick gekleidet war, machte sie einen erschöpften Eindruck. Ihr Gesicht wirkte grau und teigig, ihre Bewegungen muteten überhastet an.
Toni hatte sie das letzte Mal bei einer Lesung getroffen, die im Rahmen des Literaturfestivals Potsdam stattfand. Sie war in Begleitung des Staatsanwalts Pascal Legrand gewesen, den Toni ebenfalls aus dem Justizzentrum kannte. Er hatte sich gewundert, weil die beiden Kollegen waren und Legrand eine Familie hatte, aber er hatte nicht weiter darüber nachgedacht und die Begegnung bald vergessen.
»Das ist Staatsanwältin Caren Winter«, sagte Toni zu seiner Frau. »Wir hatten beruflich miteinander zu tun. Sie war mir bei der Suche nach dir sehr behilflich.«
»Hallo«, sagte Sofie und nickte freundlich.
»Hallo«, erwiderte Caren. »Ich freue mich sehr, dass wir uns kennenlernen.« Die Staatsanwältin rang sich ein Lächeln ab, aber in ihrer Stimme schwang ein Unterton mit, der ihre Aufgewühltheit verriet. Sie sah zu Toni auf. »Es tut mir leid, dass ich dich so überfalle, aber ich muss mit dir sprechen. Allein. Es ist . dienstlich.«
Toni ersparte sich die Bemerkung, dass er beurlaubt war, und sagte: »Dann komm mit aufs Boot!«
Anscheinend hatte auch Sofie die Anspannung gespürt, denn sie enthielt sich jeden Kommentars. Gemeinsam bewegten sie sich über den eisernen Steg und gelangten über die Rampe auf das Deck des Hausboots. Toni parkte den Rollstuhl neben einer Tonne mit Fendern, betätigte die Feststellbremse und öffnete die knarzende Stahltür, die in den Salon führte. Er streckte die Arme aus, um seine Frau hochzuheben und sie nach unten zu tragen, aber Sofie wehrte ihn ab.
»Redet nur«, sagte sie. »Das schaffe ich auch alleine.«
»Sicher?«, fragte Toni. »Du hattest gerade eine ziemlich harte Gymnastikstunde. Es ist doch keine große Sache und dauert nicht lange.«
Sofie griff nach seiner Hand, küsste seine Finger und sah ihm eindringlich in die Augen. »Ich möchte es gerne alleine schaffen«, sagte sie. »Geht nur.«
»Okay. Wie du willst!«
Toni trat einen Schritt zurück, aber er blieb in der Nähe, um bei einem drohenden Sturz eingreifen zu können. Vermutlich will sie sich vor Caren keine Blöße geben, dachte er und beobachtete, wie sich Sofie hochstemmte, wie sie leicht schwankend zum Handlauf ging und wie sie die schmalen, glatten Stufen hinunterstieg. Ihrer linken Körperhälfte fehlte es noch an Kraft und Geschicklichkeit. Ein Knochenbruch wäre zum jetzigen Zeitpunkt fatal und würde sie um Monate zurückwerfen. Vielleicht sollte er sich endlich um eine ebenerdige Wohnung kümmern, aber es fehlte ihnen an allen Ecken und Enden an Geld. Nach der Buchung des Urlaubs sowieso. Endlich hatte sie es nach unten geschafft und fasste nach dem Gehstock, der dort für sie bereitstand und ihr Stabilität geben würde.
»Klopf einfach gegen die Decke, wenn du mich brauchst«, rief Toni und führte Caren am Ruderhaus vorbei zum Heck des Bootes, wo zwei Liegestühle standen. Toni ließ sich nieder, verschränkte die Hände über dem Kopf und streckte die Beine aus. Caren zog es vor, an der Reling stehen zu bleiben. Eine Schar Möwen flog über sie hinweg, schwärmte kreischend aus und ließ sich auf der glitzernden Wasseroberfläche nieder. Ein Hausboot, das aussah wie ein hölzerner Schuhkarton, legte vom Nachbarsteg ab und nahm Kurs auf die Havel.
»Deine Frau ist schön«, sagte Caren.
»Danke«, erwiderte Toni. »Das werde ich ihr ausrichten. Das wird sie aufmuntern. Sie hat schon Riesenfortschritte gemacht . Aber du bist bestimmt nicht gekommen, um über Sofie zu sprechen. Was führt dich her?«
Caren streckte den Rücken durch. »Du hast mir damals gesagt, dass du da bist, wenn ich dich brauchen sollte. Weißt du noch?«
Toni erinnerte sich an ein Mittagessen bei einem Italiener in der Lindenstraße, an das beide unterschiedliche Erwartungen geknüpft hatten und das für beide anders verlaufen war, als sie sich erhofft hatten. »Natürlich.«
»Jetzt ist es so weit. Ich brauche deine Hilfe. Mein Sohn Alexander ist letzte Nacht nicht nach Hause gekommen.«
Toni zog die Beine an und setzte sich so aufrecht hin, wie das in einem Sonnenstuhl möglich war. »Ich verstehe deine Sorge, Caren, aber du weißt doch, wie Jungs in diesem Alter -«
»Nein, nein«, unterbrach sie ihn sofort. »Entschuldige. Ich habe mich missverständlich ausgedrückt. Es ist sehr ernst. Sein bester Freund Hendrik hat ihn gestern Abend abgeholt. Anscheinend sind sie zur Sacrower Heilandskirche gefahren. Dort wurde Hendrik heute Morgen aufgefunden. Erschossen! Und Alexander ist verschwunden und meldet sich nicht. Sein Handy ist ausgeschaltet. Ich mache mir solche Sorgen.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, liefen aber noch nicht über. Trotzig streckte sie das Kinn vor.
Das klingt allerdings ernst, dachte Toni. Er stellte sich neben sie an die Reling und fragte behutsam: »Weiß man schon Genaueres?«
»Die Kollegen tun, was sie können, aber ich frage mich die ganze Zeit, was die beiden Jungs so spät dort wollten. An einem so abgelegenen Ort? Ich kann leider nicht viel zur Aufklärung beitragen. Alexander ist sechzehn. In diesem Alter sprechen Söhne nicht mit ihren Müttern. Überhaupt sind sie schwer zugänglich.«
»Das stimmt wohl«, sagte Toni.
»Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden«, sagte Caren entschlossen. »Seit der Trennung von meinem Mann vor knapp zwei Jahren ist Alexander immer introvertierter geworden. Einerseits habe ich mich gefreut, dass er sich mit einem älteren Jungen angefreundet hat, andererseits war dieser Hendrik auch krass und hatte ein Autoritätsproblem. Wegen Brandstiftung ist er vorbestraft und nur auf Bewährung auf freiem Fuß. Ein Freund der Familie hat den Fall verhandelt. Deshalb weiß ich gut Bescheid.«
»Hattest du kein Problem damit, dass Alexander einen vorbestraften Kumpel hatte?«
»Natürlich hab ich mir Sorgen gemacht. Du weiß ja selbst, was schlechter Umgang bewirken kann. Deshalb wollte ich den Jungen auch kennenlernen. Auf mich machte Hendrik einen anständigen, einen sensiblen Eindruck. Außerdem kommt er aus einem guten Elternhaus. Ich hatte gehofft, dass er einen einmaligen Fehler begangen hat, den er aufrichtig bereut. Jeder hat eine zweite Chance verdient. Oder findest...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.