Schweitzer Fachinformationen
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Toni zeigte seinen Dienstausweis vor, passierte die Polizeiabsperrung und fuhr die Ketziner Straße hinunter. Nur über sie war der Fähranleger mit dem Auto erreichbar. Während er an landwirtschaftlichen Betrieben vorbeikam, freute er sich über das leuchtende Grün der Bäume. Es war Anfang Mai, und der Frühling hatte das Tempo angezogen. Wo man auch hinschaute, präsentierte sich die Natur von ihrer schönsten Seite.
Der Fähranleger auf der Schmergower Seite war ein friedlicher Ort, der inmitten einer märchenhaften Flusslandschaft lag. Hier fand sich normalerweise eine überschaubare Anzahl von Autos, Fahrradfahrern und Spaziergängern ein, die auf die andere Seite übersetzen wollten. An diesem Morgen herrschte jedoch ein unübersichtliches Treiben.
Die Feuerwehr war mit einem Mannschaftstransporter, einem Einsatzleitwagen, einem Tauchgerätevehikel und einem Rüstwagen angerückt. Am Straßenrand parkten Fahrzeuge der Polizei, des Notarztes, der Gerichtsmedizin und der Kriminaltechnik. Zwei Dutzend Personen in Uniformen, Neoprenanzügen und Zivilkleidung liefen durcheinander und riefen Kommandos.
Toni stieg aus dem Peugeot und schaute sich mürrisch um. Tatorte, an denen es so hektisch zuging, bargen Gefahren: Manchmal sah man den Wald vor lauter Bäumen nicht, und manchmal wurden Spuren vernichtet.
Endlich entdeckte er Oberkommissarin Gesa Müsebeck. In dem dreiköpfigen Ermittlungsteam war Gesa die Pragmatikerin, die das Notwendige zuverlässig erledigte und bodenständige Standpunkte vertrat. Mit ihrer dunklen Kurzhaarfrisur, dem kräftigen Oberkörper und den stämmigen Beinen machte sie einen tüchtigen und zupackenden Eindruck.
Sie war auf einem Wiedereinrichterhof in Brandenburg aufgewachsen und stammte aus einer kinderreichen Familie. Ihre Brüder lebten auf verschiedene Dörfer im Havelland verstreut und erfreuten sich an zahlreichen Töchtern und Söhnen. Nur Gesa hatte keinen Nachwuchs. Toni fragte sich manchmal, ob sie darunter litt.
Die Kollegin beendete gerade das Gespräch mit einem Feuerwehrmann und verabschiedete ihn mit einem Händeschütteln.
»Morgen«, sagte Toni.
Gesa blickte von ihrem Notizblock hoch, in den sie eben noch etwas eingetragen hatte. »Morgen«, erwiderte sie. »Das war der Wehrführer.«
Toni wandte blitzschnell den Kopf ab und wusste einen Augenblick lang nicht, wo er hinsehen sollte. Er musste sich erst sammeln.
Normalerweise mied Gesa jeglichen Schmuck oder Zierrat, der weiblich anmutete. Heute sah sie verändert aus. Sie hatte nicht nur Wimperntusche und Wangenrouge, sondern auch einen kirschroten Lippenstift aufgelegt, der beinahe grotesk an ihr wirkte.
Das war zumindest Tonis erster Eindruck gewesen. Jetzt fragte er sich, ob er nicht übertrieb. Vielleicht war er nur überrumpelt gewesen, weil er es nicht gewohnt war, dass sie sich als Frau zurechtmachte.
»Nur gucken, nicht anfassen«, sagte die Kollegin und zwinkerte ihm zu. Offenbar war sie davon überzeugt, dass sie an Attraktivität gewonnen hatte. »Ich kann dir einen kurzen Überblick geben, wenn du willst.«
»Äh, ja«, erwiderte Toni. »Schieß los.«
»Über Nacht liegt die Fähre >Charlotte< drüben in Ketzin und nimmt den Betrieb um fünf Uhr dreißig auf. Heute früh wartete auf der Schmergower Seite ab fünf Uhr fünfzehn ein Herr Eilers, der seinen Pkw verließ, um sich die Beine zu vertreten. Dabei entdeckte er etwas hell Schimmerndes und Kantiges im Wasser.«
»Das Auto?«
»Richtig. Herr Eilers war besorgt und rief den Fährkapitän mit dem Handy an, um ihn darüber zu informieren, dass ein Hindernis die Zufahrt blockiere. Der Fährkapitän erstattete daraufhin dem Wehrführer von Ketzin Bericht; außerdem funkte er die Wasserschutzpolizei an, die sich vor Ort ein Bild machte. Der Alarm >Pkw im Wasser< ging bei der Tauchergruppe der Potsdamer Berufsfeuerwehr um sechs Uhr eins ein.«
»Wer hat die tote Frau entdeckt?«
»Die Taucher. Sie trafen zügig nach der Alarmierung ein, legten ihre Ausrüstung an und stapften ins Wasser. Das Fahrzeug hatte sich ungefähr zehn Meter vom Ufer entfernt und blockierte in einer Tiefe von zwei Metern fünfzig das Führungsseil der Fähre. Der Leichnam befand sich angeschnallt hinter dem Lenkrad. Die Taucher schlugen den Pkw an, und der Rüstwagen der Freiwilligen Feuerwehr Götz zog ihn an Land. Der Notarzt stellte den Tod fest. Die Taucher suchten noch die Umgebung ab, konnten aber keine weiteren Personen oder Gegenstände ausmachen.«
»Suizid?«
»Das ist die große Frage. Der Zündschlüssel steckte im Schloss und stand auf der Stellung ACC. Die Gangschaltung befand sich im Leerlauf, und die Handbremse war gelöst.«
»Das könnte bedeuten, dass der Wagen nicht in die Havel gefahren, sondern gerollt ist.«
»Das war auch mein erster Gedanke.«
»Okay, dann lass uns davon ausgehen, dass der Schlüssel auf ACC stand, damit das Lenkradschloss nicht einrastet. Rollt der Wagen von alleine ins Wasser, oder muss er angeschoben werden?«
»Eine Schranke gibt es hier nicht. Wenn ein Auto hinter der Stopplinie steht, dürfte das Gelände abschüssig genug sein, damit es sich ohne weiteres Zutun in Bewegung setzt.«
»Gut, nehmen wir mal an, dass sie eine suizidale Absicht hatte. Warum ist sie dann nicht mit laufendem Motor in die Havel gefahren?«
»Vielleicht hat sie zunächst angehalten, um nachzudenken. Hinterher sprang der Wagen nicht an - aus welchem Grund auch immer. Sie löst die Handbremse, und alles nimmt seinen Lauf.«
»Das ist eine Möglichkeit. Und wenn ich darüber nachdenke, kann ich mir auch weitere Konstellationen vorstellen, die in eine ganz andere Richtung gehen.«
Gesa nickte. »Die Umstände sind verdächtig. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir eine Dritteinwirkung nicht ausschließen. Jemand hätte sie genauso gut mit einer Tötungsabsicht hinters Lenkrad setzen können.«
»Dann muss sie wehrlos oder bewusstlos gewesen sein. Weist ihr Leichnam Kampf- oder Fesselspuren auf? Was sagt die Gerichtsmedizinerin?«
»Durch die konstante Wassertemperatur konnte sie den Todeszeitpunkt exakt auf zwei Uhr dreißig in der Früh festlegen. Ansonsten sollen wir die Obduktion abwarten.«
Toni ertappte sich dabei, dass er seitlich an Gesa vorbeischaute, um ihr grell geschminktes Gesicht nicht zu sehen. Er musste endlich seine Irritation überwinden. Zwar bevorzugte er das Natürliche und Dezente, aber das Schönheitsempfinden unterschied sich von Mensch zu Mensch. Wenn sie ihren Typ verändern wollte, war das ihr gutes Recht.
»Mir fällt gerade noch eine Möglichkeit ein«, sagte er. »Vielleicht handelt es sich um einen Unfall. Vielleicht hatte die Frau gestoppt und nur den Fuß auf dem Bremspedal stehen. Sie verlor das Bewusstsein, ihr Fuß kippte zur Seite, und das Auto rollte in die Havel.«
»Könnte auch sein«, bestätigte Gesa. »An dieser Stelle gab es schon früher Unglücke. 2012 schlitterte ein Opel auf glatter Fahrbahn ins Wasser. Der Fahrer konnte sich durch das geöffnete Seitenfenster retten. Im Jahr darauf fuhr ein Skoda Octavia ungebremst hinein. Der Fahrzeugführer hatte einen Moment nicht aufgepasst und konnte ebenfalls ans Ufer schwimmen. Die Hergänge unterscheiden sich vom aktuellen Sachverhalt, aber das muss nichts heißen.«
»Außerdem müssen wir uns fragen, warum sie mitten in der Nacht diesen Ort aufsuchte. Was wissen wir über die Frau?«
»Komm mit«, sagte Gesa und ging auf eine schmale Landzunge voraus, die im rechten Winkel auf den Fluss hinausführte und mit Bäumen und Gräsern bewachsen war. Neben einem Stumpf stand ein durchsichtiger Plastikkasten, in dem mehrere Tüten steckten. Sie enthielten einen Schlüsselbund, Fahrzeugpapiere, einen Rucksack und andere Gegenstände. »Die KTU hat ihre Sachen eingesammelt und nummeriert. Ein Handy fehlt. Auf viele Spuren dürfen wir nicht hoffen. Das Wasser hat kaum was übrig gelassen. Wenigstens wissen wir, dass sie Melanie Berndt hieß, vierunddreißig Jahre alt war und in der Nähe von Rathenow wohnte.«
»Erst vierunddreißig«, murmelte Toni und ließ seinen Blick über die friedliche Flusslandschaft streifen. Er atmete tief ein. Es war einer dieser hellen Tage, die die Nähe des Todes etwas erträglicher machten. Die Sonne kletterte über die Baumwipfel und strebte dem Zenit entgegen. Auf dem sanft gewellten Strom glitzerten silberne Lichtpunkte. Am anderen Ufer lag die Fähre »Charlotte«. Gleich daneben befand sich das Restaurant und Café »An der Fähre«, das märkische Küche anbot. Auf der Terrasse konnte man stundenlang sitzen und den Booten hinterherschauen.
»Okay«, sagte Toni und wandte sich wieder Gesa zu. Dabei fiel ihm ein rosa Kuschelschwein auf, das zwischen Gräsern und Gestrüpp auf dem Boden lag. »Was ist das?«, fragte er. »Wieso hat das niemand eingesammelt? Das Stofftier ist trocken und schmutzfrei. Es kann noch nicht lange hier liegen. Verdammt noch mal, wenn hier so viel los ist, übersehen die Jungs die Hälfte.«
»Ist ja gut«, sagte Gesa und stülpte eine Beweismitteltüte drüber. »Die Kollegen handeln nach den Einsatzrichtlinien. Unser kleiner Freund wandert zu den anderen Sachen in die Kiste. Ich werde später die Kriminaltechniker über den Fund informieren. Zufrieden?«
Toni gab ein Schnauben von sich. »Unter diesen Umständen sollten wir die Ermittlungen aufnehmen. Vielleicht haben wir Glück, und die Obduktion bringt schon Klarheit, ob wir es mit einem Unfall, einem Suizid oder einem Tötungsdelikt zu tun haben. Du fährst zurück ins Kommissariat und stimmst dich mit dem Staatsanwalt ab. Er wird unserer Empfehlung folgen. Teile die Recherchen so auf, wie du es für sinnvoll...
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