Schweitzer Fachinformationen
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Das erste, was der Friedhofsgärtner sah, als er sich um den kleinen Friedhof hinter St. Sebastian kümmern wollte, war die Leiche, die jemand zu begraben vergessen hatte.
Sie lag längs auf einem Grab, den Kopf an den Grabstein gelehnt und die Arme über dem Bauch gekreuzt. Sie war fast so bleich wie die sieben verwitterten Granitsteine um sie herum. Der Friedhofsgärtner atmete tief durch, ließ seinen Spaten fallen und bekreuzigte sich. Er schlich sich an die Leiche heran, beugte sich vor und legte seinen Schatten über sie.
Irgendwo über ihm schrie eine Möwe, und im selben Augenblick schlug die Frau die Augen auf. Der Friedhofsgärtner fuhr herum und rannte durch das eiserne Tor auf die lärmerfüllten Straßen von Los Angeles hinaus.
Die Frau blinzelte in den Himmel. Sie wußte nicht, wo sie war, aber es war ruhig; und da ihr der Schädel dröhnte, war sie dankbar dafür. Sie versuchte sich zu erinnern, wie sie hierhergeraten war.
Sie setzte sich auf, betastete den Grabstein und kniff die Augen zusammen, weil die Buchstaben vor ihren Augen tanzten und verschwammen. Sie zog sich langsam hoch und stützte sich auf den Stein, um nicht wieder umzufallen. Dann beugte sie sich vor und würgte, eine Hand auf den Magen gepreßt und mit Tränen in den Augen, als ihr der Schmerz in die Schläfen schoß.
»Eine Kirche«, sagte sie laut. Der Klang ihrer Stimme ließ sie zusammenfahren. »Das ist eine Kirche.«
Sie ging ans Tor und sah Autos und Busse vorbeifahren. Sie hatte schon drei Schritte auf die Straße hinaus gemacht, als sie merkte, daß sie nicht wußte, wohin sie gehen sollte. »Denk nach«, befahl sie sich. Sie legte sich die Hand auf die Stirn und spürte klebriges Blut.
»Himmel«, sagte sie. Ihre Hand zitterte. Sie suchte in ihrer Jackentasche nach einem Taschentuch. Es war eine abgetragene Bomberjacke; sie konnte sich nicht daran erinnern, sie gekauft zu haben. Statt des Taschentuchs förderte sie eine Tube Lippenpomade und zwei Dollar vierundzwanzig Kleingeld zutage. Sie ging zurück in den Friedhof und suchte hinter den Grabsteinen nach einem Notizbuch, einem Rucksack, irgendeinem Hinweis.
»Ich bin überfallen worden«, sagte sie und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Ich bin bestimmt überfallen worden.« Sie lief zum Pfarrhaus und hämmerte mit der Faust gegen die Tür, aber die war verschlossen. Sie kehrte zum Tor zurück. Am besten würde sie zur nächsten Polizeiwache gehen und dort erzählen, was passiert war. Sie würde ihre Adresse angeben, und dann würde sie anrufen …
Wen würde sie anrufen?
Sie starrte auf einen Bus, der an der Haltestelle an der Straßenecke seufzend zum Stehen kam. Sie wußte nicht, wo sie war. Sie wußte nicht, wo die nächste Polizeiwache war.
Sie wußte nicht einmal, wie sie hieß.
Sie begann, auf einem Fingernagel zu kauen, und trat hinter das Tor zurück, wo sie sich sicherer fühlte. Sie kniete neben dem Grab nieder, auf dem sie gelegen hatte, und ließ ihre Stirn gegen den. kühlen Grabstein sinken. Vielleicht kam ja der Priester bald zurück, dachte sie. Vielleicht würde jemand vorbeikommen und ihr helfen. Vielleicht sollte sie einfach hierbleiben.
In ihrem Kopf begannen Paukenschläge zu dröhnen, die ihr den Schädel zu spalten drohten. Sie sank zu Boden, lehnte sich wieder an den Grabstein und zog ihre Jacke zu, weil der Boden kalt war. Sie würde warten.
Sie öffnete die Augen, hoffte auf eine Antwort, aber sie sah nichts als die Wolken, die den Himmel wie Narben überzogen.
Es gab zuwenig Platz in Kalifornien.
Wie ein Hämmern tief in der Kehle spürte er die Klaustrophobie. Der zischende Asphalt unter seinen Reifen und die viel zu dicht gedrängten Apartmentblocks ließen ihm keine Luft zum Atmen. Deshalb fuhr er immer weiter nach Westen, um den Ozean zu finden, und das möglichst noch vor Einbruch der Dämmerung. Er hatte ihn noch nie gesehen. Er kannte ihn nur von Bildern und von den Erzählungen seiner Mutter und seines Vaters.
Ihm fielen Geschichten ein, die ihm sein Vater erzählt hatte und die er damals nicht geglaubt hatte: von Indianern im letzten Jahrhundert, die man eingesperrt hatte und die über Nacht gestorben waren, weil sie die Enge nicht ertrugen.
Ihm fielen die Statistiken des Büros für Indianische Angelegenheiten ein, denen zufolge sechsundsechzig Prozent aller Indianer, die ihr Reservat verließen, zurückkehrten, weil sie nicht in der Stadt leben konnten. Natürlich war er kein richtiger Sioux. Aber er war auch kein richtiger Weißer.
Er roch ihn, bevor er ihn sah. Der Wind trug ihm den Salzwassergeruch zu. Er parkte den rostigen, gebrauchten Pick-up am Straßenrand und rannte die Dünen hinunter. Er hörte erst auf zu laufen, als seine Turnschuhe unter Wasser waren und die Gischt seine Jeans wie mit Tränen befleckte.
Eine Möwe kreischte.
William Flying Horse stand mit ausgebreiteten Armen im Wasser, die Augen fest auf den Pazifik gerichtet, aber was er sah, waren die gestreiften Ebenen und sanften Hügel Dakotas, die ihm nie eine Heimat gewesen waren.
Im Pine-Ridge-Reservat in South Dakota nahm man die Route 18, wenn man in den Ort fuhr, und wenn man irgendwo anders hinwollte, orientierte man sich an natürlichen Wahrzeichen oder an verrosteten Autoskeletten, da es sonst kaum Straßen gab. Aber Will war erst seit drei Tagen in Los Angeles und mußte sich noch zurechtfinden.
Er hatte ein kleines Reihenhaus in Reseda gemietet, nah genug am Los Angeles Police Department, um nicht lang pendeln zu müssen, und weit genug, um nicht das Gefühl zu haben, an seinen Job gefesselt zu sein. Er brauchte erst morgen anzufangen – den Papierkram hatte er brieflich erledigt –, und er hatte vorgehabt, die freie Zeit zu nutzen, um L. A. kennenzulernen.
Will schlug mit der Faust auf das Lenkrad. Wo zum Teufel war er? Er tastete unter dem Vordersitz nach der Karte, die er vor ein paar Minuten auf den Boden gefegt hatte. Er kniff die Augen zusammen, um die winzigen roten Sträßchen zu erkennen, aber die Innenbeleuchtung im Pick-up war mit als erstes ausgefallen, deshalb lenkte er den Wagen unter eine Straßenlaterne und hielt an. Im Halbdunkel stierte er auf die Karte. »Scheiße«, sagte er. »Beverly Hills. Hier war ich vor einer Stunde.«
Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wünschte er sich, er hätte mehr indianisches Blut.
Er gab seinem wasicu?-Erbe die Schuld an seinem mangelhaften Orientierungssinn. Sein Leben lang hatte man ihm Geschichten vom Vater seines Großvaters erzählt, der die gottverdammten Büffel schon bei der leisesten Brise riechen konnte. Und als die Frau, die sein Vater liebte, ihn ohne ein Wort verlassen hatte, war er da nicht meilenweit geritten, allein von seiner Eingebung geleitet, bis er sie gefunden hatte? Verglichen damit konnte es doch nicht so schwer sein, den San Diego Freeway zu finden!
Einmal, als Will noch ein Kind gewesen war, war er seiner Großmutter in die Wälder gefolgt, um Wurzeln und Blätter für ihre Medizin zu sammeln. Er hatte die Pflanzen gepflückt, auf die sie deutete, Zeder und Kalmus und wildes Süßholz. Er hatte ihr nur kurz den Rücken zugedreht, da war seine Großmutter verschwunden. Eine Weile war er im Kreis gelaufen, hatte versucht, sich ins Gedächtnis zu rufen, was ihm sein Vater über Fußspuren auf trockenem Laub, geknickte Zweige und dem Gespür für winzige Regungen in der schweren Luft erzählt hatte. Nach Stunden hatte seine Großmutter ihn gefunden; frierend kauerte er unter einer knorrigen Eiche. Wortlos hatte sie ihn an der Hand genommen und heimgezogen. In Sichtweite der kleinen Holzhütte war sie stehengeblieben und hatte Will am Kinn gepackt. »Du«, hatte sie geseufzt. »So weiß.«
Er war erst zehn gewesen, aber von diesem Augenblick an hatte er begriffen, daß er nie wie seine Großeltern sein würde. Für sie und für alle anderen würde er immer ein iyeska, ein Mischblut, bleiben. Die nächsten fünfundzwanzig Jahre hatte er sich so weiß wie nur möglich benommen. Wenn er nicht zum Volk seines Vaters gehören konnte, hatte er sich überlegt, dann schloß er sich eben dem seiner Mutter an. Er lernte wie besessen, um später aufs College gehen zu können. Er sprach ausschließlich Englisch, selbst bei seinen Großeltern, die beide Lakota sprachen. Er nickte, wenn seine weißen Bosse die Sioux als faule Säufer bezeichneten, und wenn es ihn bei solchen Bemerkungen eiskalt überlief, dann hüllte er sich in seine Gleichgültigkeit wie in einen Mantel.
Jetzt war er also weiß. Er war nicht mehr im Reservat, er hatte nicht vor, dorthin zurückzukehren, und um aus Beverly Hills herauszufinden, würde er das gleiche tun wie jeder andere Weiße: Er würde an einer Tankstelle halten und sich den Weg erklären lassen.
Will legte den Gang ein, steuerte den Pick-up wieder auf die Straße und fuhr weiter. Er staunte über den Reichtum in Beverly Hills – die schmiedeeisernen Tore und die rosa Marmorbrunnen, die blinkenden Lichter in den großen venezianischen Fenstern. In einem der Häuser fand eine Party statt. Will fuhr langsamer, um dem lautlosen Ballett der Kellner und Gäste zuzuschauen. Erst nach einer Weile bemerkte er die kreisenden Lichter des Streifenwagens, der hinter ihm angehalten hatte.
Kollegen, dachte er und stieg aus dem Pick-up, um nach dem Weg zu fragen. Es waren zwei Beamte. Einer war blond – mehr konnte Will nicht feststellen, bevor der Mann Wills Kopf gegen die Kabine des Pritschenwagens rammte und ihm den Arm auf den Rücken zog.
»Schau mal einer an, Joe«, sagte er. »Schon wieder so ein verdammter Scheißlatino.«
»Moment mal«, hörte Will sich...
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