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1. März 2000 Salem Falls, New Hampshire
Am zweitschlimmsten Tag in Addie Peabodys Leben gaben sowohl das Aggregat im Kühlraum als auch die Spülmaschine ihren Geist auf, wie ein altes Liebespaar, bei dem sich keiner vorstellen konnte, ohne den anderen zu existieren. Im Leben eines jeden Menschen wäre das eine echte Prüfung gewesen, doch für sie als Betreiberin des »Do-Or-Diner« kam es einer Katastrophe gewaltigen Ausmaßes gleich. Addie stand da, die Hände an die stählerne Kühlraumtür gepreßt, als könne sie sein Herz durch Wunderheilung wieder zum Schlagen bringen.
Sie wußte nicht, was verheerender war: die Verstöße gegen die Bestimmungen der Gewerbeaufsicht oder der zu erwartende Einkommensverlust. Zwanzig Pfund Trockeneis, die größte Menge, die sie hatte auftreiben können, reichten nicht. Binnen Stunden würde Addie die Vorratseimer mit Bratensoße, Eintopf und Hühnersuppe, alles frisch am Morgen zubereitet, wegwerfen müssen. »Ich denke«, sagte sie nach einer Weile, »ich gehe einen Schneemann bauen.«
»Jetzt?« fragte ihre Köchin Delilah, deren verschränkte Arme so dick waren wie die eines Schmiedes. »Weißt du, Addie, ich hab es ja nie geglaubt, wenn die Leute hier in der Gegend gesagt haben, du wärst verrückt, aber –«
»Den stell ich dann in den Kühlraum. Vielleicht rettet er ja das Essen, bis der Mechaniker hier ist.«
»Schneemänner schmelzen«, sagte Delilah, aber Addie sah ihr an, daß sie sich den Gedanken durch den Kopf gehen ließ.
»Dann wischen wir alles auf und bauen einen neuen.«
»Und die Gäste sollen sich wohl selbst versorgen, was?«
»Nein«, sagte Addie. »Die sollen mir helfen. Holst du bitte Chloes Stiefel?«
Der »Diner« war für zehn Uhr morgens spärlich besucht. Von den sechs Tischen waren nur zwei besetzt: An einem saß eine Mutter mit einem kleinen Mädchen, am anderen ein Geschäftsmann, der gerade Muffinkrümel von seinem Laptop fegte. Zwei ältere Stammkunden, Stuart und Wallace, hockten an der Theke, tranken Kaffee und debattierten über die Schlagzeilen der Lokalzeitung.
»Ladies und Gentlemen«, verkündete Addie. »Ich freue mich, den Beginn des ›Do-Or-Diner‹-Winterfestes bekanntgeben zu dürfen. Als erstes findet ein Schneeskulpturenwettbewerb statt, und wenn Sie sich jetzt alle hinters Haus begeben würden, kann es gleich losgehen –«
»Es ist bitterkalt draußen!« rief Wallace.
»Ja, das ist mir klar. Ansonsten würden wir ja ein Sommerfest veranstalten. Der Gewinner kriegt … einen Monat lang sein Frühstück gratis.«
Stuart und Wallace zuckten die Achseln, ein gutes Zeichen. Das Mädchen hüpfte auf der Sitzbank herum wie Popcorn im Topf. Nur der Geschäftsmann schien nicht überzeugt. Als die anderen durch die Tür schlurften, ging Addie zu ihm an den Tisch. »Hören Sie«, sagte der Geschäftsmann. »Ich will keinen Schneemann bauen, klar? Ich bin hier, um zu frühstücken.«
»Tja, wir bedienen zur Zeit aber nicht. Wir sind kreativ.« Sie schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln.
Der Mann schien perplex. Er warf eine Handvoll Kleingeld auf den Tisch, nahm seinen Mantel und seinen Computer und stand auf. »Sie spinnen ja.«
Addie sah ihm nach. »Ja«, murmelte sie. »Das sagen einige.«
Draußen schnauften Stuart und Wallace schon kräftig durch ihre Schals, während sie ein ansehnliches Gürteltier zustande brachten. Delilah hatte aus Schnee ein Brathähnchen gestaltet sowie eine Lammkeule mit Stangenbohnen. Das kleine Mädchen lag in seinem Schneeanzug auf der Erde und fächerte Engel in den Schnee.
Chloe hatte einmal gefragt: Ist der Himmel über oder unter dem Ort, wo der Schnee herkommt?
»Du hast wirklich Glück im Unglück«, sagte Delilah zu Addie. »Was würdest du machen, wenn wir jetzt keinen Schnee hätten?«
»Seit wann liegt hier im März kein Schnee? Und außerdem ist das kein Glück. Glück ist, daß ich einen Mechaniker aufgetrieben habe, der einen Tag früher kommen kann.«
Wie auf Kommando rief genau in diesem Moment eine Männerstimme: »Jemand zu Hause?«
»Wir sind hier hinten.« Addie war leicht enttäuscht, als nicht der Mechaniker, sondern ein junger Polizist um die Ecke kam. »Hi, Orren. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«
»Äh, nein, Addie. Ich bin dienstlich hier.«
War es möglich, daß der Geschäftsmann so schnell beim Gewerbeaufsichtsamt Meldung gemacht hatte? War ein Polizeibeamter befugt, ihren Laden vorübergehend dichtzumachen? Doch dann sagte Orren errötend: »Es geht um Ihren Vater. Er ist festgenommen worden.«
Addie stürmte mit solchem Schwung ins Polizeirevier, daß die Doppeltür heftig zurückschlug und eine kalte Windbö hereinließ. »Allmächtiger«, sagte der diensthabende Sergeant. »Ich hoffe, Courtemanche hat ein gutes Versteck gefunden.«
»Wo ist er?« fragte Addie.
»Ich kann nur raten. Vielleicht in einem leeren Spind.«
»Ich rede nicht von Officer Courtemanche«, sagte Addie durch zusammengebissene Zähne. »Ich meine meinen Vater.«
»Ach so, Roy sitzt in der Arrestzelle.« Er zuckte zusammen, als er an irgend etwas denken mußte. »Aber wenn Sie hier sind, um ihn rauszuholen, müssen Sie trotzdem mit Wes reden, der hat ihn nämlich einkassiert.« Er griff zum Telefonhörer. »Setzen Sie sich doch, Addie. Ich sag Ihnen Bescheid, wenn Wes frei ist.«
Addie blickte finster. »Ich bin sicher, das merke ich auch so. Ein Stinktier riecht man Meilen gegen den Wind.«
»Aber, Addie, so redet man doch nicht über den Mann, der deinem Vater das Leben gerettet hat.«
In seiner blauen Uniform, an der das Rangabzeichen wie ein drittes Auge funkelte, sah Wes Courtemanche so gut aus, daß manche Frauen in Salem Falls davon träumten, ein Verbrechen zu begehen. Addie jedoch warf einen Blick auf ihn und dachte – nicht zum ersten Mal –, daß manchen Männern ein Verfallsdatum aufgedruckt werden sollte.
»Einen Fünfundsechzigjährigen festzunehmen ist in meinen Augen etwas anderes, als ihm das Leben zu retten«, schnaubte sie.
Wes faßte sie am Ellbogen und führte sie ein Stück den Flur hinunter. »Dein Vater ist wieder alkoholisiert gefahren, Addie.«
Hitze stieg ihr in die Wangen. Daß Roy Peabody trank, war in Salem Falls ein offenes Geheimnis, doch letzten Monat war er zu weit gegangen, als er mit dem Wagen die Statue von Giles Corey gerammt hatte, dem einzigen Mann, der der Hexenjagd der Puritaner zum Opfer gefallen war. Roys Führerschein war eingezogen worden. Zu seiner eigenen Sicherheit hatte Addie den Wagen verschrotten lassen. Und ihr Mazda stand sicher geparkt am »Diner«.
»Er war auf dem Standstreifen von der Route 10 unterwegs, auf seinem Rasenmähertraktor«, sagte Wes.
»Seinem Rasenmähertraktor«, echote Addie. »Wes, das Ding schafft nicht mal zehn Kilometer pro Stunde.«
»Fünfundzwanzig, aber darum geht’s gar nicht. Entscheidend ist, er hat keinen Führerschein. Und den braucht man, wenn man auf öffentlichen Straßen ein Kraftfahrzeug fährt.«
»Vielleicht war es ja ein Notfall…«
»Das wird’s gewesen sein, Addie. Wir haben nämlich auch eine volle Flasche Wodka beschlagnahmt.« Wes stockte. »Er kam von dem Getränkeladen in North Haverhill und war auf dem Weg nach Hause.« Er betrachtete Addie, die sich die Schläfen massierte. »Kann ich irgendwas für dich tun?«
»Ich denke, du hast schon genug getan, Wes. Herrje, du hast einen Mann festgenommen, der eine Spritztour auf einem Rasenmäher gemacht hat. Du kriegst bestimmt einen Orden oder so, weil du dich so heldenhaft für die öffentliche Sicherheit einsetzt.«
»Jetzt aber mal halblang. Ich hab mich tatsächlich für die Sicherheit eingesetzt … und zwar für Roys. Was, wenn ein Laster die Kurve zu eng genommen und ihn überfahren hätte? Was, wenn er am Steuer eingeschlafen wäre?«
»Kann ich ihn jetzt bitte mit nach Hause nehmen?«
Wes musterte sie nachdenklich.»Klar«, sagte Wes. »Komm mit.«
Er führte sie einen Gang hinunter in einen Raum im hinteren Teil des Polizeireviers. Sie sah einen breiten Schreibtisch, an dem ein weiterer Officer saß, eine hohe Theke mit Stempelkissen für Fingerabdrücke und ganz hinten im Dunkeln drei winzige Zellen. Wes berührte sie am Arm. »Ich werde keinen Bericht über ihn schreiben.«
»Du bist ein echter Märchenprinz.«
Er lachte und ging zu einer Zelle. Sie hörte die Gittertür aufgleiten wie ein Schwert, das aus der Scheide gezogen wird. »Raten Sie mal, wer hier draußen auf Sie wartet, Roy.«
Jetzt war die Stimme ihres Vaters zu hören, zäh wie Honig: »Meine Margaret?«
»Leider nein. Margaret ist schon seit fünf Jahren tot.«
Sie kamen um die Ecke. Wenn Wes ihn nicht gestützt hätte, wäre ihr Vater gestürzt. Roy Peabody war ein Charmeur, das Haar weiß und voll, und in seinen blauen Augen lag stets etwas Geheimnisvolles. »Addie!« krähte er vergnügt, als er sie sah. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«
Er fiel ihr um den Hals, und Addie taumelte. »Komm, Dad. Wir bringen dich nach Hause.«
Wes hakte den Daumen im Gürtel ein. »Soll ich helfen, ihn ins Auto zu verfrachten?«
»Nein danke. Wir kommen schon klar.« In diesem Augenblick fühlte ihr Vater sich schmächtiger und unwirklicher an als Chloe. Sie gingen unsicher, wie Teilnehmer an einem Drei-Beine-Rennen.
Wes hielt die Tür auf. »Ach je, Addie. Tut mir leid, daß ich dich an deinem Geburtstag herkommen lassen mußte.«
Sie ging unverdrossen weiter. »Heute ist nicht mein Geburtstag«, sagte sie und führte ihren Vater hinaus.
Um halb sieben am selben Morgen hatte Gillian Duncan ein Streichholz angezündet und ein...
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