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Wozu um alles in der Welt hatte er vier Koffer bei sich? Ein einzelner Reisender auf einer abgelegenen Insel! Hatte er vor, sich im Turm niederzulassen? Skeptisch beobachtete Mary, wie Mr Plummer sein Gepäck neben den albernen Wagen stellte, mit dem er vom kaum fünf Kilometer entfernten Flughafen »angereist« war. Natürlich brauchte so ein Mensch, dem täglich der Lärm und die Hektik einer Millionenmetropole um den Kopf schwirrten, eine Auszeit im Nirgendwo. Aber mit einem französischen Cabrio? Dass sie so was am Jersey Airport überhaupt vermieteten, amüsierte Mary schon. Dass der Gast aus Birmingham glaubte, es auf der Insel zu brauchen, ließ sie kurz den Kopf schütteln.
»Schön, dass Sie da sind!«, sagte sie so überzeugend wie möglich. Andererseits: Hey! Endlich ging es los! Sie war am Ziel ihrer Bemühungen, in diesem Moment erfüllte sich nicht weniger als ihr Lebenstraum. Zugleich seufzte sie innerlich: Ihre eigene Auszeit war mit Ankunft dieses ersten Gastes allerdings auch vorbei.
Wobei sie nicht lange gedauert hatte, die Erholungsphase zwischen der Fertigstellung des Corbière Lighthouse Hideaway und der Eröffnung. Gefühlt waren die zehn Tage wie ein Wochenende vergangen. Selbst die Schmerzen in allen Gliedern waren noch nicht ganz abgeklungen. Doch Mary war auf jeden Muskel, der zwickte, und auf jeden Knochen, der knackte, stolz. Schließlich hatte sie den größten Teil der Arbeiten an dem alten Leuchtturm an den Südwestklippen der Insel entweder selbst ausgeführt oder doch zumindest tatkräftig unterstützt. Und dort, wo sie tatsächlich nichts hatte beitragen können, wie etwa bei den Ausbesserungsarbeiten am Fundament, hatte sie für die Arbeiter Kuchen gebacken, Sandwiches zum Mittag gemacht oder auch mal ein schottisches Lied zum Besten gegeben, um die Männer zu unterhalten, die nicht nur einen aufregenden, sondern auch einen gefährlichen Job hatten. Verglichen mit den wettergegerbten Gesichtern und den braun gebrannten Oberkörpern dieser Macher gehörte der Ankömmling geradezu zu einer anderen Spezies. Wobei Mary durchaus gelernt hatte, jede Sorte Mensch zu schätzen und das Besondere in jedem zu sehen.
»Was für eine Weltreise!«, klagte Mr Plummer und deutete auf die Koffer, weil er offenbar erwartete, dass man sie ihm aufs Zimmer brachte. »Zuletzt war ich nicht sicher, ob ich nicht auf dem Mond landen würde.« Er ließ den Blick über die karstigen Felsen schweifen und nickte, als wollte er sagen, dass es wohl letztlich tatsächlich der Mond geworden war. »Nun, immerhin werde ich hier ein wenig zur Ruhe kommen.«
Mary lachte. »Ja, das werden Sie.« Und sie würde es ihm so schön und gemütlich machen wie nur möglich, und dafür ihre eigene Ruhe opfern. Aber das war nun einmal das Los einer Hotelbesitzerin. Und sie war nicht nur irgendeine, sondern die jüngste Hotelbetreiberin auf ganz Jersey und den umliegenden Kanalinseln. Die ehrgeizigste. Und gewiss auch die am meisten belächelte. Aber sie würde es den Schlaumeiern schon zeigen, die dachten, eine junge Frau, die nicht einmal hier aufgewachsen war, könnte eine solche Herausforderung nicht bestehen. »Darf ich Ihre Koffer nach oben tragen? Ich habe Ihnen den Sailor's Room reserviert, Sir. Es ist das Zimmer mit der besten Aussicht. Sie können bis Guernsey blicken und werden die schönsten Sonnenuntergänge erleben, die es auf der Erde gibt.«
Wie alles hier hatte sie auch den Sailor's Room hingebungsvoll ausgestattet: Alte Schiffsplanken, frisch abgeschliffen und geölt, bedeckten den Boden, an der Decke hing die Galionsfigur eines Schoners, der vor vielen Jahren eine Meile nordwärts an den Klippen gekentert und gesunken war (die barbusige Nixe mit dem verwitterten blauen Haar war von Marys Großvater am nächsten Tag als Strandgut unter dem Leuchtturm gefunden worden). Das Fenster war mit Vorhängen aus alten Leinensegeln bedeckt. Als Bett diente eines der prächtigen Ruderboote, die früher zum Anlanden der Inselbesucher genutzt wurden, allerdings nur der vordere Teil, weil ein solches Boot niemals in Gänze in einen der oberen Räume des Leuchtturms gepasst hätte. Mary hatte den Kahn persönlich weiß gestrichen und ihm sogar einen Namen gegeben: Luna. Auf dass die Gäste gut schlafen mochten.
Licht spendeten zwei alte Schiffslaternen, und auf dem gemütlichen Bettzeug waren Anker und Rettungsreifen abgebildet. Am liebsten hätte Mary sich selbst hineingelegt - und um der Wahrheit die Ehre zu geben: Das hatte sie schon etliche Male gemacht. Obwohl ihr der ganz oben gelegene Kartenraum das liebste Zimmer im Turm war. Weshalb sie ihn auch bis auf Weiteres bezogen hatte, allen Vorsätzen zum Trotz.
»Hm«, brummte Mr Plummer. »Direkt weitläufig ist das hier ja nicht.«
»Sir? Wir befinden uns in einem Leuchtturm. Was Sie hier nicht an Quadratmetern haben, bekommen Sie an Aussicht.« Sie zog die Vorhänge etwas weiter zurück und ließ dem Gast den Vortritt ans Fenster.
Der Gentleman aus Birmingham warf einen gnädigen Blick nach draußen, nickte, was wohl als Einverständnis zu deuten war, und wandte sich dann dem Bett zu. »Was für eine absurde Idee«, bemerkte er. »Ich hoffe, ich werde ein Auge zutun können.«
»Keine Sorge, Sir«, versicherte ihm Mary. »Sie werden schlafen wie . Nun, Sie werden bestens schlafen. La Corbière ist wie eine Einladung für gute Träume.«
»Na, Sie werden es wohl wissen«, erwiderte Mr Plummer, wobei er wenig überzeugt klang.
»Für den Check-in bräuchte ich noch Ihren Ausweis, Sir. Und Sie müssten mir bitte für die örtliche Behörde ein Meldeformular unterschreiben.«
»Können wir das später machen?« Auf einmal wirkte der Gast müde.
»Aber selbstverständlich«, versicherte Mary. »Dann lasse ich Sie jetzt allein.« In der Tür wandte sie sich noch einmal um: »Wissen Sie schon, wann Sie frühstücken möchten?«
»Am besten nach dem Aufstehen.« Selbstgefällig hob der Gast eine Augenbraue. »Scherz beiseite. Sagen wir acht Uhr.«
»Acht Uhr? Sehr gerne. Bei schönem Wetter servieren wir das Frühstück auf unserer kleinen Terrasse mit Seeblick. Sollte es regnen, decke ich einen Tisch für Sie in der Lobby.«
In der Lobby. Wie das klang. Die »Halle« war nur wenige Quadratmeter groß und beherbergte neben einem Tisch mit sechs Stühlen noch drei marineblaue Sessel, zwischen die Mary zwei Beistelltische platziert hatte - und natürlich die Empfangstheke. Sie lag in einem kleinen, quaderförmigen Anbau direkt neben dem Leuchtturm. Um in das eigentliche Lighthouse zu kommen, musste man noch einmal ein Dutzend Stufen nehmen, die zu einem Umlauf und zu der einladend dunkelgrün gestrichenen Tür führten, hinter der Marys Zauberreich begann. All dies war entzückend, aber es war nun einmal eng.
»Wir werden versuchen, uns in allem nach Ihren Wünschen zu richten«, erklärte Mary. »Erlauben Sie mir aber trotzdem, Sie auf einige Dinge hinzuweisen - zu Ihrer eigenen Sicherheit.« Sie deutete auf eine alte Fotografie an der Wand, die den Leuchtturm in stürmischer See zeigte, den Wellen trotzend, doch von wütender Gischt umtost. »Wir befinden uns auf einem Felsen im Meer. La Corbière ist absolut sicher. Dennoch möchte ich Sie bitten, bei Sturm nicht nach draußen zu gehen.«
»Ist denn Sturm vorhergesagt?«
»Im Augenblick nicht, Sir.«
»Nun, dann sollte mich das nicht besonders beschäftigen, finden Sie nicht?«
»Das Wetter kann sich jedoch schnell ändern. Aber die Gezeiten, Sir, auf die sollten Sie in jedem Fall achten!« Mary wies auf eine Tafel auf dem kleinen Beistelltisch. »Hier können Sie jeden Tag ablesen, wann Ebbe und Flut sind. Bei Flut ist unser Felsen von der Insel abgeschnitten.«
Mr Plummer warf einen nachlässigen Blick auf die Tafel, die in Marys schönster Handschrift mitteilte:
Heute
Hochwasser: 11:32, 23:56
Niedrigwasser: 5:49, 18:15
»Auch wenn kein Sturm ist, können einzelne Wellen sehr hoch sein, und die Gischt sorgt dafür, dass die Terrasse, die Wege und die Stufen feucht werden. Bitte achten Sie darauf, damit Sie nicht ausrutschen.« Mary klatschte in die Hände. »Das war's auch schon. Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Aufenthalt.«
»Hm«, brummte Mr Plummer wieder und verzichtete auf eine Erwiderung, worauf Mary sich diskret zurückzog und hinunterging.
Am Empfang lag aufgeschlagen das Rezeptionsbuch. Voller Stolz betrachtete sie den Eintrag: Plummer, Henry. Birmingham. 12. Juni. Gast Nr. 1.
Ihr erster Gast.
Mary Euna McTarr stammte von einer anderen Insel, der schottischen Isle of Skye, deren raue Schönheit mit nichts zu vergleichen war, wenn man sie fragte. Auch die Kanalinseln kannten Sturm und schwere See, auch hier gab es wilde Natur und Einsamkeit. Aber im Vergleich zu Skye wirkte vor allem Jersey wie ein Bilderbuchidyll. Die Vegetation der Kanalinseln war lieblich, die Orte waren adrett und gepflegt, eine gewisse Heiterkeit umgab Land und Menschen. Und sogar das Meer wirkte harmloser, jedenfalls an den meisten Tagen. La Corbière jedoch, der Felsen und der Leuchtturm, waren häufig umtost von schwerer See. Bei Orkan spritzte die Gischt bis hinauf zur Laterne, und die Betonmauern des Bauwerks bebten. Mary liebte diese Ereignisse. Für andere mochte eine Nacht im sturmumtosten Leuchtturm beängstigend sein, sie fühlte sich geborgen, ja geradezu wie eine Verbündete der Elemente. Eine Eigenschaft, die sie vermutlich von ihrem Großvater mütterlicherseits geerbt hatte, der der letzte Leuchtturmwärter der Insel gewesen war, bis die Automatisierung auch ihn überflüssig gemacht...
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