Schweitzer Fachinformationen
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Es scheint in der menschlichen Natur zu liegen, sich an Dinge zu erinnern, die man nicht erlebt hat. Erste Küsse etwa (weil es sich meist nicht um etwas gehandelt hat, das die Bezeichnung »Kuss« verdient hätte). Glückliche Kindheitstage (wessen Kindheit ist schon glücklich?). Oder den Schnee einstiger Winter. Die Winter waren früher schon schmutzig und grau, anstatt glänzend und weiß. Zumal in London. Wobei Charlotte Williams ja nicht wirklich aus London kam, sondern aus einem kleinen Vorort im Nordosten, wo es allerdings auch kaum je geschneit hatte. Nicht in ihrer Kindheit, nicht in ihrer Jugend und schon gar nicht in den Jahren bis zum Studium an der London School of Graphic Arts. Dort allerdings hätte sie den Schnee (wenn es denn welchen gegeben hätte) gewiss kaum bemerkt. Denn ein Studium, das man damit zubringt, seiner größten Leidenschaft nachzugehen, absorbiert einen völlig. Charlotte zumindest war absorbiert gewesen. Von den aufregenden Aufgaben, den anregenden Diskussionen mit Kommilitonen. Und von Leach Wilkins-Puddleton, der ihr nicht nur im Hörsaal sehr schnell zur Inspiration wurde, sondern auch . Aber darüber mochte sie aus guten Gründen lieber nicht mehr nachdenken, weshalb wir diesen Punkt hier zurückstellen.
Schnee also. Wer könnte mit Fug und Recht behaupten, einen weißen Winter oder gar eine weiße Weihnacht in der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs in den letzten Jahren oder Jahrzehnten erlebt zu haben? Charlotte konnte es jedenfalls nicht. Umso erstaunter war sie, als ihr beim Öffnen der Haustür unvermittelt ein Schneeschauer entgegenstöberte, so prickelnd-kalt und wirbelnd, dass sie nach einem kurzen Aufschrei nicht anders konnte, als zu lachen.
So fing der Tag, der auch ihr Leben einigermaßen durcheinanderwirbeln sollte, unerwartet fröhlich an. »Den Independent ?«, fragte George vom Kiosk und griff schon nach dem Blatt, während Charlotte nickte und in ihrer Tasche nach dem Geld wühlte. »Hübsches Wetterchen heute, was?«
»Hatte das irgendwer vorhergesagt?«, fragte Charlotte.
George zuckte mit den mächtigen Schultern. Seine weißen Zähne blitzten in dem dunklen Gesicht. »Ich dachte schon, es gäbe hier nie Schnee.«
»Da sind wir schon zwei«, bemerkte Charlotte und lachte. Sie mochte George. Der riesige Mann aus Jamaika passte gerade eben in die kleine Blechhütte, die auf allen Seiten mit Zeitungen und Zeitschriften gepflastert war.
»Jedenfalls bin ich froh, dass ich das noch hier erleben darf«, erklärte George und hob die buntbestrickte Hand zum Gruß.
»Na, wer weiß«, meinte Charlotte. »Vielleicht gibt es das jetzt öfter in London! Es heißt, der Klimawandel wird noch manche Überraschung bringen.«
»Ja, vielleicht. Aber an Schnee auf Jamaika glaube ich eher nicht.«
Den Gesichtsausdruck, mit dem er das sagte, kannte Charlotte noch nicht. »Sie haben doch nicht etwa vor, wieder in Ihre Heimat zurückzugehen?«
»Wenn Sie mich fragen, ich würde gerne bleiben«, erklärte George. »Aber wenn Sie die Regierung fragen .« Er hob erneut die Schultern.
Charlotte erinnerte sich, in den Nachrichten gehört zu haben, dass das neue Aufenthaltsgesetz beschlossen sei. Danach würde die Person, die sich ohne dauerhafte Erlaubnis im Land befand, nur in Ausnahmefällen eine Verlängerung bekommen. Systemrelevant musste man sein, um in Zukunft als Ausländer im Vereinigten Königreich leben zu dürfen. Also Pfleger, Kindergärtnerin oder Banker. Gewiss nicht als systemrelevant eingestuft wurden Kioskverkäufer, selbst wenn sie für die Verbreitung der täglichen Nachrichtenlage (und damit für die Stabilität der Demokratie) so bedeutend waren wie George. Abgesehen davon hatte der mächtige Mann aus der Karibik für jeden seiner Kunden ein offenes Ohr, stets einen netten Spruch parat und verbreitete neben Nachrichten jederzeit gute Laune.
»Ich hoffe, Sie sind nicht von dem Unsinn betroffen, George«, erklärte Charlotte.
Der Zeitungsverkäufer lachte und nickte. »Ja, das hoffe ich auch. Und meine Kinder. Sie wollen ihre Freunde nicht verlieren.«
Doch wie er es sagte, zeigte Charlotte deutlich, dass er nicht daran glaubte. Was für eine Schande! Systemrelevanter konnte George mit seiner aufmunternden Art gar nicht sein. Gerade in letzter Zeit brauchte sie mehr Zuspruch denn je. Die zurückliegenden Monate waren wenig erquicklich gewesen. Und das hatte nicht nur mit ihrer Trennung von Leach zu tun (die vielleicht in Wahrheit eine Trennung Leachs von ihr gewesen war), sondern auch mit einem Mangel an Aufträgen, schwierigen Kunden - und natürlich mit dem Tod ihres Vaters, der sich entschlossen hatte, mit siebenundsiebzig Jahren von der Leiter zu fallen und nicht mehr aufzustehen. Nun mag man sagen, siebenundsiebzig, das ist doch ein schönes Alter. Und ein schneller Tod ist eine dankbare Angelegenheit. Aber Charlotte hatte an ihrem Vater gehangen. Und wer schon einmal einen geliebten Menschen zu Grabe getragen hat, der weiß, dass jedes Alter zu früh und jeder Tod zu schnell ist.
Nachdem also bei der verunglückten Pflaumenernte auch Peter Paul Williams geerntet worden war, hatte sich Charlotte mehrere Wochen lang zurückgezogen - buchstäblich und im übertragenen Sinne. Es war eine harte Zeit gewesen. Doch weil das Leben weitergeht, selbst wenn es nicht die Musik spielt, die man sich gewünscht hat, hatte sie sich schließlich durchgerungen, wieder mitzuspielen. Und nun das: Schnee in London! Glückliche Kindheitserinnerungen (wenn auch womöglich trügerische)! Stau! Gut, der war nichts Besonderes, den schafften die Londoner sogar ohne Schnee. Danach ein kleiner Spaziergang vom Kiosk nach Hause, bei dem man am liebsten stehen geblieben wäre, um Schneebälle zu werfen!
Hier könnte sich die kleine Erheiterung nach einem Intermezzo mit zwei Jungs auf der anderen Straßenseite und einem Bobby mit erhobener Augenbraue im weiteren Verlauf eines belanglosen Vormittags auflösen, der geprägt sein würde von der Aussicht auf Änderungswünsche an ihren Bildern, Telefonaten mit den Behörden, um Nachlassfragen zu klären, und der Post, in der sich wie beinahe jeden Tag Rechnungen befanden. Zu große, um sie zu bezahlen, zu kleine, um sie zu ignorieren. Doch der Tag hatte sich entschlossen, mehr als eine Überraschung für Charlotte Williams bereitzuhalten, mehr als eine positive Überraschung!
Zwischen dem Üblichen fand sich ein Umschlag, der so elegant herausstach, dass er kaum das zu sein schien, was man so Post nennt. Früher einmal, vor vielen Jahren, eher Jahrzehnten, mochte man Briefe auf solchem Papier und mit solcher Schrift geschrieben haben. Für diese Art nahezu kalligrafischer Gestaltung hatte doch kein Mensch mehr Zeit. Was offensichtlich aber nicht stimmte: Einer zumindest schien sie zu haben. Unwahrscheinlich, dass ausgerechnet diese Person an eine junge Kinderbuchillustratorin in London geschrieben haben sollte. Und doch stand auf dem Umschlag in fein geschwungener Handschrift:
Ms Charlotte Williams
London
Ebenso ratlos wie entzückt drehte Charlotte den Brief um und las als Absender nur rätselhafte Ziffern und Lettern:
24 CS
Okay. Also war es Werbung. 24 CS, das klang schließlich wie ein hipper Laden in Notting Hill oder ein eleganter Showroom in Knightsbridge. Und wer zur Zielgruppe gehörte, der wusste Bescheid und konnte diese Kennung zuordnen. Anders als Charlotte. Ihr sagte 24 CS nichts. Doch das sollte sich bald ändern.
Eigentlich hatte Charlotte vorgehabt, das Haus gleich wieder zu verlassen, nachdem sie Zeitung und Post nach oben gebracht hatte. Denn wie oft erlebte man in dieser Stadt schon ein so herrliches Schneegestöber! Aber dann hatte im Kampf zwischen Spieltrieb und Neugier die Neugier obsiegt, und sie hatte sich den Brieföffner (ein Geschenk von Leach und geschmacklich überaus fragwürdig - nicht anders als der Schenker) vom Schreibtisch geschnappt und den ominösen Werbeumschlag aufgeschlitzt. Nun wollte sie doch wissen, wer sich so exquisite PR leistete. Immerhin war die Adresse mit Federhalter und Tinte mit der Hand geschrieben worden. Kaum auszurechnen, was das in einer Stadt wie London kostete. Fast hätte Charlotte gelacht, dass irgendjemand offenbar glaubte, sie wäre dieses Geld wert! Nichts wäre weiter entfernt von der Wahrheit gewesen. Wollte man sich eine denkbar schlechte Kundin ausmalen, sie wäre dafür perfekt geeignet: wenig Geld, hohe Schulden, überzogenes Bankkonto und seit der Trennung von Leach auch noch mit einer miserablen Bewertung bei den Kredithaien. Bei ihr war definitiv nichts zu holen. Und dann noch feinstes Büttenpapier!
Sie zog eine Karte in einem geschmackvollen Lachsrosa aus dem Umschlag und klappte sie auf (das war der Augenblick, in dem auch ihr Unterkiefer aufklappte). Nach der Lektüre - nur ein paar Zeilen, aber dennoch sehr schwer zu begreifen - legte sie die Karte auf den Schreibtisch, blickte ins Schneegestöber vor dem Fenster, fand, dass die Wetterlage sehr gut wiedergab, wie sie sich gerade fühlte, und machte sich erst einmal eine Tasse Tee.
Es dauerte noch zwei weitere Lektüren, ehe sie beschloss, dass nicht sein konnte, was da behauptet wurde. Einerseits. Andererseits war der Gedanke an sich so bestechend und mitreißend, dass sie es nicht über sich brachte, diesen Wunschtraum einfach zu begraben, statt ihn ein süßes letztes Mal für ein paar Atemzüge zu genießen. Also las sie ein viertes (und ja: noch ein fünftes) Mal, was da behauptet wurde:
Dear Ms...
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