Schweitzer Fachinformationen
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Zischend öffneten sich die Türen des Schnellzugs aus Edinburgh, und ein eisiger Wind erfasste die Reisenden, die ihren Fuß auf die Insel setzten, genauer: auf die Isle of Skye, dieses so geheimnisvolle wie bezaubernde Eiland zwischen Schottland und Irland, das - aber das wusste zu dem Zeitpunkt noch niemand - durch die Ankunft des Zugs noch um einige Geheimnisse reicher wurde.
»Portree! Endstation!«, verkündete der Schaffner und lief an den Waggons entlang, seinen Hinweis mehrmals wiederholend, während weit vorne aus einer der ersten Türen eine junge Frau sprang, deren Äußeres man ohne Übertreibung als untypisch für die Fahrgäste auf dieser Verbindung bezeichnen konnte. Weil ihr kalt war, zog sie ihre Lederjacke etwas enger um die hochgezogenen Schultern. Sie spuckte ihren Kaugummi in die Gleise und blickte sich um. Ein trostloses Kaff, so viel war klar. Aber wer aus Glasgow stammte, war an Trostlosigkeit einiges gewöhnt.
Von hinten kamen jetzt eine Menge Reisender den Bahnsteig entlang, sie sollte sich beeilen, wollte sie nicht riskieren . Nun, sie beeilte sich. Als sie auf den Ausgang zusteuerte, bemerkte sie einen jungen Mann in Uniform ein Schild hochhalten: Ms Tourée.
»Sie holen mich ab?«, fragte sie und blickte auf den Wagen, der neben dem Chauffeur stand. Es handelte sich um ein Gefährt, das so alt war, dass sie nicht einmal die Marke kannte, vom Modell ganz zu schweigen. John hätte seine Freude an dem Ding gehabt. Aber der war nicht da, sondern schraubte im East End an seinen Autos herum. »Aber nicht mit dem, oder?«, fragte sie.
»Doch, Ma'am«, entgegnete der Chauffeur, vielleicht nur irritiert, vielleicht sogar ein wenig gekränkt. »Wenn Sie erlauben?«
»Okay. Ab und zu ein Abenteuer schadet nicht, was?« Sie stieg ein, schneller als ihr der junge Mann den Wagenschlag aufhalten konnte. Zumindest war er rechtzeitig bei ihr, um ihn standesgemäß wieder zu schließen. Er ging um die Motorhaube herum, stieg auf der Fahrerseite ein und legte seine Kappe auf den Beifahrersitz. »Hatten Sie eine gute Anreise, Ma'am?«
»War okay.«
»Sie haben Glück«, erklärte der Chauffeur, nachdem sie offenbar nicht mehr zu sagen beabsichtigte. »Eigentlich war ein Sturm angekündigt. Es hätte richtig ungemütlich sein können.«
»Das ist nicht ungemütlich?« Die junge Frau blickte auf die Landschaft, die in Ocker- und Brauntönen vorüberzog. Das bisschen Gestrüpp, was den Weg zierte, wurde vom Wind zerzaust, und immer wieder packte eine Böe den Wagen, dass es sich anfühlte, als hätte er einen Stoß von der Seite bekommen. Im Übrigen fuhr dieses altertümliche Vehikel allerdings ruhiger und schneller, als man hätte erwarten dürfen. Dabei war die Strecke durchaus eine Herausforderung. Denn es ging unablässig auf engsten Kurven die Küstenstraße entlang, und immer wieder folgte Gefälle auf Steigung und Steigung auf Gefälle. »Hat was von einer Achterbahn«, stellte die junge Frau fest und spielte mit einem ihrer zahlreichen Ohrringe. Der Chauffeur beobachtete sie im Rückspiegel - freilich so dezent, wie es dem Mitarbeiter eines der Ersten Hotels angemessen war. Denn nichts anderes war er. »Ich bin übrigens Nick«, erklärte er und lächelte nach hinten.
»Oh. Hi, Nick.«
»Ähm, hi«, erwiderte er und räusperte sich. »Ms Tourée.«
»Hm.«
Es kam keine weitere Konversation auf dieser Strecke zustande. Aber das machte auch nichts, denn wenige Augenblicke später rollte der Wagen - es war übrigens ein Vauxhall Light Six, also ein Fabrikat aus einer anderen, selbstverständlich weitaus besseren Zeit - über die Auffahrt zu einem Anwesen, das so entzückend vor malerischer Küste lag, dass die junge Frau im Fonds sich unvermittelt in einem Weihnachtsfilm wähnte.
»Wow!«, sagte sie. »Netter Kasten.«
»Ich bin auch jedes Mal wieder hingerissen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf«, sagte der Chauffeur und setzte rasch seine Kappe auf - und kam dann doch zu spät, um die Wagentür wieder zu öffnen. Denn sein Fahrgast war bereits selbst ausgestiegen.
»War mir ein Vergnügen, Ma'am«, murmelte er und blickte ihr hinterher, wie sie in dem Gebäude verschwand, den kleinen schwarzen Rucksack über der Schulter.
»Miss Tourée!«, rief der Portier und strahlte sie an, als wäre sie der Weihnachtsmann persönlich. »Wir freuen uns, Sie im 24 Charming Street begrüßen zu dürfen!«
Der Schnellzug aus Edinburgh ist neben dem New Caledonian Sleeper, der die Insel von London her ansteuert, die wichtigste Bahnverbindung zwischen Großbritannien und der Isle of Skye. Wobei sie natürlich für die kleine Hauptstadt Portree ungleich bedeutender ist als für die große schottische. Es verschlägt nicht viele Geschäftsreisende dorthin, Urlaubsgäste sind in den Wintermonaten rar, und alte Damen, die sich mit zwei unpraktischen Handkoffern abmühen, sieht man am Bahnsteig des Fischerdorfs nur höchst selten.
»Darf ich Ihnen helfen, Ma'am?«, fragte ein freundlicher Herr, der eigentlich schon an ihr vorübergehastet war, sich aber dann doch eines Besseren besonnen hatte.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, wäre es sehr nett, Sie würden einen meiner Koffer nehmen«, erklärte die Reisende, deren federgeschmückter Hut zum Erstaunen ihres Helfers dem heftigen Wind standhielt (woher sollte er, also der Helfer, auch wissen, dass man früher Hüte mit langen Nadeln im Haar festzustecken pflegte, also zu Zeiten, zu denen man solche Hüte noch trug).
»Sicher, Ma'am. Es ist mir ein Vergnügen.« Der Herr packte nicht nur einen der Koffer, sondern beide, und war Gentleman genug, damit nicht voranzuschreiten und seine Pflicht möglichst schnell hinter sich zu bringen, sondern begleitete die alte Dame in angemessenem Tempo zum Bahnhofsgebäude, wo sie ihn mit einem Lächeln verabschiedete, um sich einen Moment auf eine Bank zu setzen, ehe sie sich erneut dem stürmischen Wetter aussetzte.
»Taxi, Ma'am?«, fragte prompt ein Mann im verbeulten Jackett und mit einem Schnauzbart, der jedem Walross zur Ehre gereicht hätte.
»Ach, das haben Sie goldrichtig erkannt«, erwiderte die Lady und blickte vielsagend zu ihren Koffern hin. Der Taxifahrer ließ sich nicht lange bitten, packte die Gepäckstücke und beförderte sie beherzt in seinen vor dem Gebäude wartenden Wagen. Es war das einzige Taxi, das zu sehen war (zum Entzücken der älteren Dame eines dieser altmodischen schwarzen, wie sie auch in London oder Edinburgh herumfuhren). Aber die anderen Reisenden waren ja auch längst über alle Berge. »Da habe ich ja Glück, dass Sie noch da waren.«
»Pardon?«
»Die anderen Taxis sind alle schon weg.«
Der Fahrer lachte. »Sie haben die Ehre mit dem einzigen Taxi zu fahren, das am Ort zur Verfügung steht, Ma'am«, erklärte er und gluckste vor sich hin. »Alle schon weg .«, murmelte er in seinen Walrossbart. Dann hielt er ihr die Tür auf. »Wo soll es denn hingehen, Ma'am?«
»Zum 24 Charming Street, falls Sie das kennen.«
»Falls ich das kenne?« Er gluckste erneut und wuchtete seinen massigen Körper auf den Fahrersitz. »Gibt kein besseres Ziel auf dieser Insel.« Und während sie auf die Straße rollten, riet er: »Französisch, oder?«
»Absolut, Sir.«
»Paris?«
»Paris. Natürlich. Seit dreiundsiebzig Jahren.«
»O là là!«, übte sich der Fahrer in perfektem Französisch. »Davon sieht man aber fünfzig nicht, Ma'am, wenn ich das sagen darf.«
Die alte Dame musterte ihn mit spöttischer Miene. »Ich ernenne Sie hiermit zum Franzosen ehrenhalber«, erklärte sie, worauf der Mann hinter seinem Walrossbart wieder zu glucksen anfing.
Es wurde eine abenteuerliche und vergnügliche Fahrt, denn obwohl sie auf der ganzen Strecke keinem einzigen Hindernis und keinem entgegenkommenden Gefährt ausweichen mussten, war sie äußerst kurvenreich, und obwohl ein Schotte am Steuer saß, war sie kein bisschen schweigsam. Der Taxifahrer ließ es sich nicht nehmen, ungefähr jede Berühmtheit aufzuzählen, die er schon zum 24 Charming Street zu chauffieren die Ehre gehabt hatte, sei es die hinreißende Miss Lady Gaga gewesen oder der schwer beeindruckende Mr Hanks, sei es der unmögliche Mr Richards (stoned) gewesen oder die Queen (Mum) höchstselbst. Nicht alle kannte die alte Dame, namentlich bei den Fußballspielern und bei den Persönlichkeiten, die offenbar durch eine Fernsehshow namens Greatest Crazy Talent berühmt geworden waren, musste sie passen. Aber alles in allem war die Liste der prominenten Fahrgäste lang und beeindruckend.
»Mein Kompliment, Sir«, sagte sie, als der Wagen schließlich vor dem Hotel ankam. »Da haben Sie ja einiges erlebt.«
»Kann man wohl sagen, Ma'am«, erwiderte der Fahrer. »Das macht fünf Pfund siebzig, bitte.«
»Machen Sie acht.«
»Gerne, Ma'am, danke.«
»Sind Sie so nett und tragen noch meine Koffer nach drinnen?«
»Gehört zum Service, Ma'am.«
Etwas ermattet von der Reise, trat die alte Dame durch die mit üppigen grünen Tannenzweigen geschmückte Tür, die ihr von einem Hotelboy in Livree aufgehalten wurde, und blieb dann staunend stehen. Ein wahrhaft verzauberter Ort bot sich ihren Augen, ein Ort von ziemlich unvergleichlicher Schönheit. Wenn man von der jungen Frau absah, die in abgewetzter Lederjacke und durchlöcherten Jeans vor ihr am Empfang stand, das rabenschwarze Haar...
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