ZUHAUSE
Mal will man weg davon, mal sehnt man sich danach. Zuhause - das ist ein Ort, ein Zustand, eine Sehnsucht. Wie das Mountainbike hilft, es zu finden und wieder zu verlassen.
GELÄNDE SPIELE
ROBERT BOESCH
KANN EIN BIKE DEN LEBENSWEG BESTIMMEN? WIE SICH EIN UNCOOLES PUBERTIER ZUM EXTREMBIKER ENTWICKELT. UND WAS DANACH KOMMT.
Wald, soweit das Auge reicht. Doch er wirkt wie tot. Triste Fichten-Monokulturen ragen entlang der Obernautalsperre bei Siegen in den grauen Himmel. Eine Schicht Schnee bedeckt die dürren Äste am Boden. Angetaut und wieder gefroren. Es gibt abenteuerlichere Plätze, an denen man einen Winterabend verbringen könnte. Einen langen Schultag lang sind Haralds Blicke immer wieder tagträumend von der Tafel hinaus durchs Fenster gewandert: "Jetzt auf einsamen Trails durch die Wildnis Kanadas . das wär's!" Der Sechstklässler hat Bock, richtig was zu unternehmen. Aber hier, mitten in Deutschland?
Mit ein bisschen Überredungskunst gewinnt Harald auf dem Nachhauseweg nach der Schule seine Bike-Kumpels Felix und Christopher für sein Vorhaben. Es ist schon dämmrig, der Nieselregen geht gerade in Schnee über, als die zwölfjährigen Jungs aufbrechen. Drei irrlichternde Punkte bewegen sich durch den Forst. Nur langsam kommen die Jungs mit ihren Mountainbikes voran. Im Schein der Stirnlampen versuchen sie einem kaum auszumachenden Pfad zu folgen. Der Schnee wird tiefer. Immer wieder müssen sie die Räder schieben. Die Turnschuhe sind längst nass. Klamm. Die Kälte wandert von den Zehen durch den Körper. Nur Harald trägt halbwegs wärmende Neopren-Überschuhe. "Weiter, dann tauen wir schon wieder auf", versucht er seine Gefährten bei Laune zu halten. Der Pfad windet sich bergauf. Bald schwitzend, bald keuchend, bahnt sich das Trio den Weg durch die Nacht. Dann die Abfahrt. Ein Schlittern. Ein Schleudern. Stürze. Pause. Wieder kommt die Kälte. Der Körper zittert, frierend und übernächtigt. Ab und zu hallt ein Fluch durch die Nacht. "Scheiße, wo sind wir eigentlich?" Flackernd bewegen sich die drei Lichter weiter durchs eisige Gehölz. "Nach dieser Nacht hatten Felix und Christopher jahrelang genug von Erkundungstouren mit mir", erinnert sich Harald. Auch wenn wir es im Lauf unseres Lebens bisweilen aus dem Blick verlieren - den eigenen Weg zu finden gehört zu den wichtigsten und prägendsten Erfahrungen im Leben. Die ersten Schritte als kleines Kind. Noch wackelig, aber voller Ehrgeiz. Motiviert, den eigenen Radius zu erweitern, die Welt um sich herum zu entdecken. Genauso die ersten Meter mit dem Fahrrad: ebenfalls schwankend. Aber sind ein paar Meter geschafft, leuchten die Augen. Sich aus eigener Kraft fortzubewegen, den Ort zu wechseln, wann uns danach ist, gehört zu den essenziellen Erfahrungen und Bedürfnissen unseres Seins. Und so wie ein Baby bei seinen ersten Schritten vor Glück gluckst, erleben wir immer wieder neue Hochgefühle, wenn wir uns auf neue Arten der Fortbewegung einlassen: auf Ritte mit dem Mountainbike über holprige Trails, aufs Gleiten mit Ski oder dem Snowboard im Tiefschnee oder mit dem Surfboard in den Wellen.
"Ich sehe das Mountainbike als persönlichen Entwicklungshelfer - als großartige Möglichkeit, Grenzbereiche zu erfahren, sich neue Horizonte zu erschließen, die Welt völlig frei zu erkunden und Abenteuer zu erleben."
Sich freizuschwimmen, loszulösen, den eigenen Weg zu finden, dazu ist das Mountainbike prädestiniert. Es erschließt völlig neue Dimensionen der Fortbewegung, vergrößert die Bewegungsradien enorm, drängt uns geradezu, hinauszugehen und die Grenzen der üblichen Fortbewegung zu durchbrechen. Weg von der Straße, von platten Wegen, auf wilde Pfade, raus in die Natur. Und: raus aus dem Alltag. "Ich bin in Siegen aufgewachsen. Die waldreichste Stadt Deutschlands. Sonst aber keine allzu inspirierende Gegend", gräbt Harald in den Erinnerungen an seine Jugend. Die Worte kommen knapp und kurz. Als wolle er sich mit einem Kapitel, das er abgeschlossen hat, nicht lange aufhalten. Bis kurz vor der Einschulung wohnte er mit den Eltern am Alpenrand, in Bayrischzell. Im Vergleich zur frischen Bergluft riecht Siegen nach Mief und Biederkeit. Dazu kommen: der Tod des Vaters, eine strenge Großmutter. Und: kein Bock auf Schule. Kurztrips und Urlaube in den Alpen bieten Gelegenheit, Luft zu holen. Doch auch mit den großartigsten Berg- und Skitouren gelingt es Mutter Uta zunächst nicht, ihre lodernde Leidenschaft für alpinistische Unternehmungen mit gleichem Feuer an Harald weiterzugeben. "Ich wollte mich emanzipieren, mein eigenes Ding machen", erinnert sich Harald. Dazu bedurfte es einer anständigen Krise. "Mit elf war ich in der Schule nicht der Coole. Die Coolen, das waren die Jungs mit den Mountainbikes. Ich hatte ein Trekkingrad. Das war so groß, dass ich mit den Füßen kaum auf die Pedale kam", erzählt Harald. Seine Großmutter will ihn für Modellflug und Eislauf begeistern - ohne Erfolg. Schließlich fasst er einen Plan. In der Eislaufhalle verleiht er Schlittschuhe und bruzzelt Pommes. Jede freie Minute. Jede Mark zählt. Denn Harald hat ein Ziel: das Focus Killer Bee - das Rad von Bike-Profi Mike Kluge. "Frei sein, einfach rausgehen, fahren, wohin ich will. Tägliche kleine Fluchten - das Mountainbike war von Anfang an etwas Magisches für mich", sagt Harald. Das ideale Mittel, um lästigen Hausaufgaben zu entkommen. "Durch das Bike habe ich auch meine Freunde gefunden." Die Bombenkrater in den Wäldern um Siegen sind ein idealer Abenteuerspielplatz. Haralds kleine Clique baut schmale Trails und große Kicker. Noch größer sind irgendwann die Augen der Förster, als sie im Gehölz einen spektakulären North-Shore-Trail entdecken. "Waghalsige Rennpiste im Wald" betitelt die Siegener Zeitung einen einseitigen Artikel über den Schwarzbau. Angewandte Architektur begeistert Harald mehr als trockene Physik und Mathematik im Gymnasium. Schon bald reichen die Siegener Wälder als Spielplatz nicht mehr aus. "Mein Schlüsselerlebnis .", beginnt Harald, und erzählt von einem Besuch am Gardasee während des BIKE Festivals 2002. Mit der Vertrider-Clique, einem elitären Zirkel von Bike-Bergsteigern aus Innsbruck, fährt er den legendären, steilen Dalco-Trail. Christian "Picco" Piccolruaz stellt an jeder Spitzkehre das Bike aufs Vorderrad und lässt den Rest des Rades um die Kurve schwingen. "Ich hab' das erste Mal gesehen, wie jemand das Hinterrad versetzt." Harald ist heute noch das Staunen über diesen Move anzusehen. Ein Aha-Erlebnis, das sein weiteres Leben prägen wird. "Das war für mich der Start zum Bike-Bergsteigen." Harald wird Teil der Vertrider-Clique, zieht nach Innsbruck, Biken wird sein Leben. Studium, Arbeit - später. Biken hat für ihn Priorität. Immer anspruchsvoller werden seine Projekte. Immer extremer. Bergsteigerpfade im Steinernen Meer, ein Klettersteig in der Brenta . Irgendwann gehört Harald selbst zu den krassen Typen, deren Videos er als Jugendlicher in Dauerschleife geguckt hat. Doch wann ist das Limit ausgereizt? Wann überreizt? Harald lässt sich vom Adrenalinrausch nicht übermannen, auch nicht vom Druck der Sponsoren und Medien. Er weiß, wann es Zeit ist, beides zu ignorieren, Dampf rauszunehmen. So zelebriert er es, auf dem Gipfel seinen Kaffeekocher aus dem Rucksack zu ziehen und Espresso und Fernsicht zu genießen. Eine Protesthaltung - einerseits. Ein Verhalten mit Weitblick - andererseits. "Die Rolle des 'Ich bin der krasseste Biker von allen' kann und will ich nicht erfüllen", sagt Harald. Schließlich werde das Risiko, dass etwas schiefgehe, bei permanenten Aktionen am Limit mit den Jahren nicht geringer.
1998: MIT FRITTENBRATEN ERARBEITET: HARALDS ERSTES BIKE, FOCUS KILLER BEE.
2002: FREERIDEN IN DEN SOMMERFERIEN IM PINZGAU.
2008: HARALDS DOLOMITENPHASE: 3 WOCHEN, 20 TOUREN, 20 ERSTBEFAHRUNGEN.
2011: AM GIPFEL DES MONTE CEVEDALE AUF 3.700 METER.
2003: HARALDS ERSTE GIPFELTOUR BEI INNSBRUCK.
2013: MIT TOM ÖHLER IM STEINERNEN MEER.
NEUE HEIMAT
MANFRED STROMBERG
VIEL UNTERWEGS UND DOCH ZU HAUSE. WIE VERSCHLUNGENE WEGE DER ALPEN NEUE HORIZONTE ERÖFFNEN, FREUNDSCHAFTEN STIFTEN UND ZUR WAHLHEIMAT WERDEN.
"Alpine Erfahrung, Trittsicherheit und Schwindelfreiheit erforderlich" steht auf dem Schild am Weg von der Richterhütte zur Richterspitze. In unzähligen Kurven und Kehren mäandert der Steig durch diesen geradezu paradiesisch entlegenen Winkel der Zillertaler Alpen hinauf zur Gamsscharte. Die Luft auf bald 3.000 Meter Höhe wird mit jedem Schritt dünner. Der Atem der Bergwanderer, die vor einer Stunde an der Hütte aufgebrochen sind, geht schwer. Sechs Augenpaare wandern simultan das Geröllfeld hinauf. Schau, dort oben...