Schweitzer Fachinformationen
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Im Kabuff
Immer die gleichen Bilder. Der sich überschlagende Wagen, berstende Scheiben, nasse lange Grashalme ragen in den zerquetschten Innenraum des Fahrzeugs. Ich werde wach, weil ich geschrien habe. Der Schmerz wühlt in meinen Beinen, kriecht den Rücken hinauf und bleibt in der Wirbelsäule stecken. Mühsam wälze ich mich auf die Seite, die Decke liegt zerwühlt auf dem Boden.
In fünf Minuten klingelt mein Handy, um mich auf den kommenden schwarzen Tag vorzubereiten. Denn heute, auf den Tag genau, liegt der grässliche Unfall dreißig Jahre zurück. Ich war fünf, und mein Vater saß am Steuer. Die Landstraße war schmal, der Untergrund nass und rutschig. Ein dicker Baumstamm stoppte das herumschleudernde Fahrzeug. Meine Eltern überlebten leicht verletzt, doch meine zarten Knochen nahmen die rüde Überbeanspruchung übel.
Lange blieb ich in der Klinik, und mein Leben sollte nie mehr so unbeschwert sein wie vorher. Mein Vater machte sich Vorwürfe, und meine Mutter sprach sie laut und anklagend aus. Meine Eltern rieben sich gegenseitig auf, sie verbrauchten ihre Zeit, um sich zu zerfleischen. Und sie vergaßen mich, weil sie meinen jämmerlichen Anblick nicht ertragen konnten. Mein ständiger Begleiter war stattdessen der Schmerz. Viele Operationen folgten, wirklich helfen konnten mir die Ärzte nicht.
Ich muss seitdem diese hässlichen, fetten orthopädischen Schuhe tragen, um überhaupt vernünftige Schritte machen zu können. Mein Rücken wirkt bei meinen Bewegungen unbeweglich und steif, so, als würde ich auf einer schmalen Linie balancieren. Irgendwie trifft das auf mein ganzes Leben zu, der Grat, auf dem ich mich befinde, ist schmal geworden. Man muss schwindelfrei und extrem zielorientiert sein. Und genau das bin ich.
Wer mitgerechnet hat, weiß, dass ich fünfunddreißig Jahre alt bin. Ich arbeite im Rathaus am Empfang. Jeder, der die Behörde im Waschbeton-Schiefer-Look in Nümbrecht betritt, muss an mir und dem kleinen Kabuff vorbei. Ich kümmere mich um die Post und weise den Besuchern den richtigen Weg für ihre Anträge und wichtigen Anliegen.
Nicht dass in unserer kleinen Gemeinde viel los wäre und ich vor Beschäftigung nicht wüsste, wo mir der Kopf steht. Ganz im Gegenteil, ich habe viel Zeit und jede Menge Gelegenheiten, meine spitze Nase in alle Dinge zu stecken, die interessant sind. Dazu gehören Krimis in der Schreibtischschublade, fremde Telefongespräche und Unterhaltungen, die im Rathaus geführt werden. Wenig entgeht meiner Aufmerksamkeit, und die fehlenden Puzzleteile erfrage ich oder leite sie logisch ab.
Wäre ich körperlich nicht versehrt, wäre ich am liebsten Polizistin geworden. Jetzt sehe ich die Dorfsheriffs im Rathaus. Dort im Untergeschoss hat die kleine Wache ihren Sitz. Die beiden Polizisten streunen durch das Dorf, kümmern sich um die Sicherung des Schulwegs, und dienstags bekommen sie ein Polizeifahrzeug aus der größeren Dienststelle. Wenn ich Gregor Germann und Christoph Löffelsterz ärgern will, nenne ich sie die Kellerbullen. Aber das kommt selten vor. Meistens unterstütze ich die beiden nebenamtlich ein wenig beim Papierkrieg, natürlich heimlich und für mich sehr informativ. Auch für unsere Gemeindezeitung fühle ich mich zuständig und erfahre eine Menge vor allen anderen.
Ich setze mich langsam im Bett auf, versuche, die Träume abzuschütteln und in den Morgen zu starten.
Wenig später startet der Motor meines Automatikfahrzeugs tadellos. Ich rolle aus der maroden Scheune und lasse das zweiflügelige Tor offen stehen. Hier im Oberbergischen Land sind alle Menschen grundehrlich, niemand würde etwas zerstören oder mitgehen lassen. Das denke ich. Und wenn es die anderen ebenfalls denken, funktioniert das Prinzip. Ich lasse den Scheibenwischer laufen, ohne diese nützlichen Helfer geht im Bergischen Land gar nichts. Die Regenhäufigkeit im Wetterbericht könnte man treffend mit hundertfünfundvierzig Prozent angeben, jedenfalls gefühlt.
Mit viel Mühe und extremen Kosten habe ich mein Elternhaus in Oedinghausen renovieren lassen. Die dunklen Balken des Fachwerkhauses glänzen, besonders bei Nässe. Die Wetterseite ist mit schwarzem Schiefer verblendet, und die grünen Holzfensterläden lassen das Gebäude freundlich und einladend aussehen. Das zarte Grün des Frühlings wechselt gerade zum vollen, satten Ton des Sommers. In Blumenkübeln wachsen kugelige Buchsbäume. Nur die alte Scheune hat bisher ihren charmant morschen Stil bewahrt und wartet auf eine Sanierung im nächsten Frühling, der vielleicht ein neues Dach bringt und frisches Wandmaterial.
Ein Huhn schlendert heran und legt den Kopf schief. Das Federvieh findet meinen Garten spannender als sein Leben auf dem Bauernhof nebenan, und das kann ich ihm nicht verübeln. »Gock!«, gluckst das Tier.
Ich glaube, es hat sich in den runden Kugelporsche verliebt, der mit ungeöffnetem Cabrioverdeck langsam über das Kopfsteinpflaster rollt. Dieses zusätzliche Sommer-Detail hätte ich mir wirklich sparen können; wenn ich mal offen fahren kann, mache ich ein Kreuz im Kalender. Vielleicht finde ich heute Nachmittag als Liebesgabe ein Ei in der Scheune und ein wehmütiges Huhn auf dem Wagenheber.
Vor dem Rathaus muss es zwei Behindertenparkplätze geben. Sehr praktisch. Ich stelle das Auto ab und schaue in den grauen Himmel. Der Nieselregen wird von einer kräftigen Windböe nach unten gedrückt. Langsam schlendere ich zu meinem Arbeitsplatz. Bei diesem Schritttempo bemerkt man kaum, dass ich ein Bein nachziehe. Humpel-Bea.
Einige Briefumschläge liegen bereits im Ausgangskorb. Was mich wirklich überrascht, ist der Anblick meines Schreibtischstuhls. Dort sitzt der Dorfsheriff Gregor Germann und hämmert nervös mit meinen Kugelschreibern auf der Platte herum.
»Bea, du musst mir helfen. Mein Magen spuckt schon Säure vor Schock.« Gregor unterbricht den Trommelwirbel, und ich wühle in den Packungen mit Kräutertee. Von seiner gewohnten vorbildlichen Gelassenheit scheint keine Prise mehr übrig zu sein.
»Die Superbullen aus der schlauen Bezirksstadt wollen einen Bericht. Und ich kann den nicht schnell genug und wahrscheinlich nicht ordentlich tippen. Dieses Formular macht mich verrückt! Hast du Zeit?«
»Du bist früh dran!«, stelle ich fest und hänge den Teebeutel in eine Tasse.
Das Wasser blubbert im Kocher. Nach und nach erfahre ich von den Plastikbeuteln mit den vermeintlichen Leichenteilen im Müllmantel.
»Sie reißen sich die Sache sowieso unter den Nagel. Warum machen sie dann nicht sofort alles selbst?«, mault sein Kollege Christoph Löffelsterz, der sich auch noch in das Kabuff quetscht.
Ich muss ein wenig hysterisch kichern. »Zerstückelte Arme und Füße aus Plastik? Ist das Kunst oder kann das weg? Die glauben wirklich, ein psychopathischer Killer könne dahinterstecken? Warum sind sie überhaupt gerufen worden?«
Gregor druckst herum. »Wir haben uns nicht getraut, näher an den Tatort zu gehen, damit alles für die Spurensicherung unverfälscht erhalten bleibt. Die Hand sah wirklich echt aus, wie gerade abgeschnitten. Wer kann denn ahnen, dass es sich um Plastik handelt?«
Christoph wirft einige rasch ausgedruckte Fotos in gestreifter Qualität auf den Tisch, um sich zu rechtfertigen. Ich versuche, die Blutstropfen zu ignorieren.
»Ihr steht also ohnehin als Dorftrottel da und sollt nun eure trugschlüssigen Beobachtungen schriftlich eingestehen«, fasse ich zusammen.
»Ich war schon immer ein Fan deiner schonungslosen, nicht komplett einfühlsamen Zusammenfassungen der Sachlage«, motzt Gregor beleidigt.
»Ausheulen kannst du dich beim Psychologischen Dienst«, setze ich eins drauf.
Gregor bekommt seine Teetasse in die Hand gedrückt, und ich starte den Rechner.
Gemeinsam formulieren wir einige Sätze, und ich rate dazu, Tatortfotos aus entsprechend großer Entfernung einzufügen. Die Körperteile in Tüten sehen wirklich nicht sonderlich appetitlich aus, gestehe ich ein wenig widerstrebend ein. Allmählich hellen sich die Gesichter der Polizisten auf. Der Bericht macht Fortschritte. Die ersten Besucher betreten das Rathaus, begrüßen mich und stellen Fragen. Ich gebe Auskunft und rücke meine Brille gerade. Die Polizisten halten sich diskret im Hintergrund. Ich ziehe die Daten auf einen Stick. Gregor braucht das Dokument nur unten in der Polizeistation zu öffnen und in das Formular zu kopieren. Einige Details klären wir noch, und dann zischen die beiden ab. Quasi mit Tatütata in ihren Bullenkeller.
Und ich atme durch. Die ersten beiden Stunden meines Horrortages sind damit rasch vorübergegangen. Ein paar Telefonate, meine Kollegin Annabell kommt zwitschernd auf einen schnellen Kaffee vorbei, und dann ist es Zeit, mein Kabuff zu verlassen und mich um die Post zu kümmern.
Langsam gehe ich durch das putzige Städtchen Nümbrecht. Die Häuser sind alt, die Straßen schmal und die Alleebäume mickrig. Die Gärtner des Bauhofs bepflanzen gerade die Rabatten um den Brunnen neu und nicken mir höflich zu. Man kennt sich. Mit der Schwester des einarmigen John war ich in einer Klasse. John heißt eigentlich Johannes, was ihm zu fromm und langweilig war. Weil der einarmige Bandit sein Lieblingsgerät in der Spielhalle war, hat er seinen Spitznamen bis heute weg.
John hebt den Wasserschlauch in meine Richtung, ich winke dankend ab. Der bergische Landregen von oben reicht mir. John grinst und stiert mir mit einem unglaublich intensiven Blick, den ich im Rücken spüre, hinterher. Mein schiefer Gang ist mir peinlich und unangenehm. Das sind Momente, die ich hasse. Angestarrt und bemitleidet zu werden ist das Letzte. Angespannt überquere ich die verkehrsberuhigte Straße, deren improvisierte Vorfahrtsregeln kein Mensch kapiert. Besonders...
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