Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Eine Stunde bevor das Publikum dabei zuschauen würde, wie der Mann von den Pferdehufen zertrampelt wurde, klarte der Himmel auf. Noch immer strömten so viele Menschen in Richtung der Halesowen Road, wo die Filmproduktion die Tribünen aufgebaut hatte, dass es in den Seitenstraßen bald voll wurde und kein Auto mehr durchkam. Es war wie früher bei den traditionellen Maiumzügen; eine kleine Dorfparade, bei der maximal ein oder zwei Streifenwagen aus der Nachbargemeinde abkommandiert wurden und die Beamten mit heruntergekurbelten Fenstern in den Sitzen hingen und den Kindern zuwinkten, die mit Fingerpistolen auf die Fahrzeugreifen zielten und Bang-Bang riefen.
Es war warm und fast windstill. Das wurde am häufigsten genannt, wenn sich die Leute später erinnerten, wenn sie über den Tag sprachen, an dem der berühmte Anker der RMS Titanic an seinen Geburtsort in Netherton, England, zurückkehren sollte. Ein Freitagnachmittag, warm und ohne Wind.
Der Junge erkannte niemanden, während er versuchte, sich unbemerkt an den Erwachsenen vorbeizuschlängeln, die über die schmalen Gehsteige eilten. Hauptsächlich Leute aus den benachbarten Dörfern. Keiner von denen kannte seine Eltern. Die Märzluft war von einer Aufgeregtheit erfasst, die er sonst nur die wenigen Male erlebt hatte, als sein Vater ihn ins Stadion mitgenommen hatte. Die Stimmung, die von großen Menschenmengen ausging, löste etwas in ihm aus, von dem er nicht klar sagen konnte, ob es Furcht oder Vorfreude war. Manche der Leute trugen ihre Sonntagskleidung, da waren aber auch viele in Trainingsanzügen, wie auf dem Weg in den Pub. Alle hatten es eilig. Noch bevor die Menge an der Ecke Darby Road die Absperrungen zur Halesowen erreichte, hallten die Paukenschläge der Kapelle von den Backsteinfassaden der engen Gasse und mischten sich mit dem Gemurmel und dem schrillen Gelächter um ihn herum. Immer wieder hektische Blicke nach der Zeit, es wurde geschoben und gerempelt. Der Wagen mit dem Anker wurde für drei Uhr erwartet. Der Junge ließ alles auf sich wirken, sog es auf und dachte ein ums andere Mal, dass er es sich nie verziehen hätte, wenn er das hier aufgrund seines Hausarrests verpasst hätte.
An der Ecke Halesowen kam die Menge zum Stehen. Die Straße war abgesperrt. Jemand trat dem Jungen auf den Fuß. Die Leute rochen schlecht. Immer wieder spielte die Kapelle kurz ihr Lied an und verstummte dann wieder. Sie waren noch dabei, Aufstellung zu nehmen, vielleicht bekamen sie Anweisungen von den Filmleuten. Das waren nur Proben, dachte der Junge und versuchte, zwischen den Leuten hindurchzugucken, zu sehen, wie weit er noch von den Absperrungen, hinter denen die Dreharbeiten stattfinden würden, entfernt war.
In der Schule hatten Zettel ausgehangen. Ein historischer Umzug, die Leute aus dem Dorf waren eingeladen. Es würden dort Aufnahmen für einen Film zum hundertjährigen Jubiläum des Titanic-Ankers stattfinden. Mit Erscheinen würde man sich einverstanden erklären, auch gefilmt zu werden.
Jedes Kind in Netherton kannte die Titanic-Geschichte. Sie hatten sie von ihren Vätern und Großvätern erzählt bekommen. Sogar in der Schule wurde es besprochen. Ein Stück Zeitgeschichte, hier bei ihnen in schweißtreibender Handarbeit hergestellt; der Anker der weltberühmten RMS Titanic. Jetzt also ein Film, hundert Jahre, nachdem der Anker bei der Jungfernfahrt zusammen mit dem Luxusdampfer auf den Grund des Ozeans gesunken war. Sechzehn Tonnen weltberühmter Stahl, der seit fast einem Jahrhundert auf dem Meeresboden vom Salzwasser zersetzt wurde. Nun würde er zurückkehren, ein für den Film hergestelltes Duplikat, das der Region als Denkmal überlassen werden sollte. Er würde auf einem Stück Rasen vor der Townhall aufgestellt werden, hier in Netherton, ihrem kleinen Dorf in den Hügeln, wo die Kinder noch nicht mal schwimmen lernten.
Kleinkinder auf den Schultern ihrer Väter. Es war untypisch warm. Windstill und sonnig. Der Junge schwitzte unter seiner Jacke. Waren die Tage sonst noch grau und von starken Böen begleitet, die sich über die Hügelketten der Midlands schoben und Regen brachten, klarte es an diesem Tag überraschend auf. Es war ein Geschenk. Die Filmemacher brachten Trubel und Abwechslung in die für die Parade geschmückten Straßen, und dafür wurden sie mit ausreichend Licht und perfekten Konditionen für ihre Dreharbeiten belohnt. Gefilmt wurde an gleich zwei Orten, so hatte es auf dem Zettel gestanden, den einige in der Menge um ihn herum in Manteltaschen bei sich trugen und immer wieder beim Warten herauskramten, um unsichere Blicke darauf zu werfen.
Der Anker sollte wie damals mit einem Pferdegespann zu seinem Ziel gebracht werden, und die zwanzig Shire-Pferde würden auf dem Stück gleich hinter der Tribüne Anlauf nehmen müssen, um die vier ansteigenden Meilen vom alten Marktplatz hinauf zum jetzigen Zentrum zu schaffen. Der Junge hatte sich über Schleichwege vom Elternhaus entfernt. Jetzt steckte er in der Menschenmenge fest und konnte nichts mehr um sich herum erkennen außer den Rücken der Erwachsenen, die sich auf die Absperrgitter zuschoben. Stimmengewirr und Gelächter, schweres Frauenparfüm, abgetragene Sonntagshosen und der kotzeähnliche Geruch gebrannter Mandeln lagen in der Luft. Eine Frau beschwerte sich, dass jetzt sicher schon alles voll sei auf den Tribünen. Sie trug einen Hut und war betrunken. Sie sagte es zu sich selbst, den zerknüllten Zettel in der Faust.
Hinter den Absperrgittern löste sich das Gedränge auf. Die Tribünen standen kurz vor dem Dorfeingang am Ende der Landstraße. Von den obersten Plätzen konnte man weit über die Hügelketten blicken, bis hinüber nach Dudley.
Die Leute mussten warten. Die Väter bedienten sich an den Freibierständen, wo die Aushilfen, die die Produktionsfirma angeheuert hatte, nervös wurden, da die Biervorräte so rasant schwanden. Die allgemeine Aufgeregtheit vor den Absperrungen war einer bräsigen Langeweile gewichen. Noch konnte man die breite Hauptstraße überqueren und zwischen den Absperrgittern die Fahrbahn kreuzen. Der Wagen verspätete sich. Abgesehen von den paar Filmleuten und dem Schwenkkran, auf dem eine Kamera montiert war, gab es nichts, was diesen Nachmittag von einem der alljährlichen Prunkumzüge der Dorfclubs unterschied; gegen Mittag würden alle besoffen sein, und eine Menge Müll würde auf der Straße zurückbleiben. Vielleicht gab es eine Schlägerei, von der tags darauf keiner mehr wissen würde, wer sie angezettelt hatte.
Sie verteilten Heliumballons, die an Kleinkinderarme und die Griffe von Kinderwagen geknotet wurden. Die Leute auf den Tribünen zogen ihre Jacken aus, schirmten mit den Händen die Augen gegen die Sonne ab, während sie immer wieder nach dem Gespann Ausschau hielten. Die bunten Ballons schwebten reglos über ihren Köpfen im windstillen Märznachmittag. Sie wirkten gespenstisch in ihrer Bewegungslosigkeit, wie lauernde Gedanken an etwas Böses - eine Vorahnung.
Die Sonne und der künstliche Jubel für die Kameras der Filmcrew. Man schickte die Blaskapelle die Straße rauf und wieder runter, übte mit den Leuten das Applaudieren auf Kommando. Der Kameraarm bewegte sich ein paar Mal sirrend über die Menge. In den Tagen danach, wenn die Leute über die Vorfälle an diesem Nachmittag sprechen würden, würde es merkwürdig klingen, wenn sie die Umstände aufzählen würden. Es würde sich für sie selbst wie eine Lüge anhören, obwohl sie alles mit eigenen Augen gesehen hatten. Der Junge hielt seine Jacke in der Hand und musste dringend pinkeln.
Im Schatten der Tribüne, ein wenig abseits, hingen ein paar Jungs aus seiner Schule herum. Sie rauchten Zigaretten und hatten Freibier aufgetrieben. Sie ließen die Kippen und Becher herumgehen und redeten über das, was sie sahen, ohne sich beeindruckt zu zeigen. Auch wenn ihnen weder das eine noch das andere schmeckte, nahmen sie immer wieder männliche Schlucke vom schalen Bier.
«Humsworth, was ist eigentlich mit deinem Hausarrest?»
Der Junge versuchte, einen Rauchkringel zu blasen.
«Scheiß ich drauf!»
«Da scheißt er drauf, sagt er.»
«Und was, wenn dich hier einer sieht?»
«Die sind alle drüben beim Park und warten da auf den Wagen, und wenn schon, scheiß ich auch drauf.»
«Da scheißt er auch drauf!»
Die Jungs saßen auf dem verschraubten Stahlgestänge unter der Tribüne und hörten, wie die Kapelle ihr Lied anstimmte und loslief, nur um kurz darauf wieder aufzuhören. Einer der Jungen ließ zwischen zwei Zigarettenzügen einen Flatschen Spucke auf den Boden fallen.
«Wetten, der Kran mit der Kamera da drauf kostet eine Million?»
Das Filmteam machte Aufnahmen von der Kapelle. Sie ließen die Gruppe immer wieder neu Aufstellung nehmen und das Stück vor den Tribünen entlanglaufen. Der Mann mit dem Megaphon wies die Menge an, der Kapelle zuzujubeln. Auf Kommando sollten sie winken, dann klatschen. Proben für den Ernstfall. Das Freibier würde bald leer sein.
Das Team hatte nur diese eine Chance. Keine Wiederholungen, keine Proben. Der Wagen würde vorbeifahren, ohne anzuhalten. Sie brachten alles auf Position, gaben der Kapelle das Zeichen, und die Leute begannen zu jubeln.
Der Junge pisste gegen eine Bretterwand. Über ihm das Ächzen der Metallplatten. Er war tiefer in die Tribüne geklettert, um einen Platz zu finden, an dem ihn niemand sehen konnte. Er hörte, wie die Leute auf den Stahltraversen sich von ihren Plätzen erhoben. Die Pferde waren wohl bereits in Sichtweite. Der Junge spannte die Muskeln noch stärker an, als von der anderen...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.