Schweitzer Fachinformationen
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1.
Als er vor ein paar Minuten die Halle betreten hatte, waren die meisten Plätze noch frei gewesen, jetzt gab es kaum noch Lücken auf der Zuschauertribüne. Er war erstaunt, wie schnell und unmerklich das gegangen war. Gleichzeitig spürte er, wie sich sein Pulsschlag erhöhte. Ein paar Minuten noch und dann ... Er wischte sich die Handflächen an der Hose ab.
Ein dicker Mann drängte sich zu ihm in die Reihe, stieß ihm heftig seinen Bauch in den Rücken und ließ sich zwei Plätze entfernt von ihm nieder. Er saß noch nicht richtig, da zog er schon eine Plastiktüte aus der Jackentasche und begann, sich Salzchips in den Mund zu stopfen. Das Knistern der Tüte, das schmatzende Kauen, mein Gott, warum brauchten manche Leute zu allem und jedem eine Zusatzbefriedigung? Er schaute sich um, aber jetzt war es zu spät, noch mal den Platz zu wechseln.
Wie immer bei wichtigen Kämpfen hatte er sich in eine der letzten Reihen gesetzt, auf einen Platz direkt neben dem Aufgang. Von hier aus hatte er freien Blick auf die Planche und konnte den Kampf mitfilmen, ohne dass aufspringende Zuschauer ihm die Sicht versperrten. Und von diesem Kampf, der gleich stattfinden würde, wollte er alles festhalten, jede Einzelheit, denn er wusste, dass er sich das, was er gleich passierte, noch in Jahren angucken würde. Immer und immer wieder. Fragte sich nur, welche Gefühle er dann dabeihaben würde.
Er überprüfte den Camcorder. Neunzig Minuten waren auf der Kassette, mehr als genug. Er wusste nicht, wie oft er inzwischen die Kamera überprüft und die Schärfe nachgestellt hatte. Er brauchte etwas, um sich abzulenken.
Hoffentlich ist Roy nicht so nervös, dachte er. Nur noch diesen Kampf musste er gewinnen, nur noch diesen einen und alles hätte sich gelohnt. Die jahrelange Quälerei im Training, die Summen für die teure Fechtausrüstung, die unendlich langen Fahrten in dem klapprigen Mercedes durch halb Europa, um an den Weltcups teilzunehmen. Er immer am Steuer, während Roy bei der Hinfahrt auf dem Rücksitz schlief, um für den Wettkampf am nächsten Tag fit zu sein. Manchmal gewann Roy, dann kletterte er in der Weltrangliste um einige Ränge, manchmal schied er früh aus, dann rutschte er zurück. Ohne in der Weltrangliste einen guten Platz zu belegen, hätte er sich gar nicht für dieses Turnier qualifizieren können.
Und dann die Rückfahrten nach den Weltcups, die langen Gespräche zwischen ihnen, manchmal bis weit in die Nacht hinein. Roy neben ihm auf dem Beifahrersitz, wenn sie zuerst seine Fehler analysierten und die Stärken besprachen. Damit fingen ihre Gespräche immer an. Mit der Analyse dessen, was hinter ihnen lag. Danach schmiedeten sie Pläne, beredeten, was als nächstes anstand und wie sie es angehen wollten. Und schließlich, wenn alles über die Wettkämpfe durchgekaut war, sprachen sie über Gott und die Welt, über Roys Leistungen in der Schule, über die Liebe, über die kleine Helen, die fast ein Jahr alt war und immer strahlte, wenn sie Roy sah, bis Roy, müde vom Gespräch und den Kämpfen am Vor- und Nachmittag, wieder auf den Rücksitz kroch, sich zusammenkauerte und augenblicklich eingeschlafen war, während er den Mercedes weitersteuern musste, auf Fahrten durch halb Europa. Unglaublich, dass sie das alles durchgehalten hatten, unglaublich, dass Roy es bis hierhergeschafft hatte. Bis in dieses kleine Finale bei Olympia, bis zum Kampf um die Bronzemedaille.
Er schaute auf die Wand mit der Trefferanzeige. Dahinter, im verdeckten Teil der Halle, machte Roy sich jetzt warm. Dort übte er Finten und Paraden, automatisierte Bewegungen, die aber vor jedem Kampf neu abgerufen wurden, um den Bruchteil einer Sekunde schneller zu sein als der Gegner. Natürlich übte Roy keinen seiner Spezialtricks, denn sein Gegner, ein Ungar, bereitete sich auf der Bahn neben ihm vor. Er durfte nicht ahnen, welche Tricks Roy draufhatte, mit welcher Taktik er in den Kampf gehen wollte.
Der Dicke neben ihm steckte mit lautem Knistern die Tüte in Tasche, schmatzte noch einen Moment lang, dann war er ruhig. Gott sei Dank.
Er wusste, wie so ein Aufwärmtraining ablief, oft hatte er bei unwichtigen Kämpfen zusehen dürfen. Beide Kämpfer taten dann so, als würden sie den anderen gar nicht beachten. Selber cool wirken, so tun, als interessiere einen die Stärke des Gegners gar nicht, weil man von sich selbst überzeugt war, darauf kam es an. Gleichzeitig war wichtig, sich in den bevorstehenden Kampf hineinzudenken, um Aggressivität aufzubauen. Fechtsport war Konzentration und Willensstärke.
Trotzdem, das wussten beide Kämpfer, blieb keine ihrer Bewegungen dem anderen verborgen. Sie taxierten sich aus den Augenwinkeln. Und wenn es nur eine Kleinigkeit war, die sie dabei herausfanden. Die Art etwa, wie der andere den Arm beim Angriff vorstreckte oder wie weit er nach einer Attacke zurücksprang, schon das konnte, wenn man es in die eigene Taktik einbaute, über Sieg oder Niederlage entscheiden.
Wie knapp so ein Kampf ausgehen konnte, hatte er zuletzt im Viertelfinale gegen den Weltmeister aus Russland erfahren. 14:13 hatte Roy geführt, sein nächster Treffer würde den Sieg bedeuten, aber der Russe hatte ausgeglichen. 14:14, knapper ging es nicht mehr. Jetzt musste der nächste Angriff entscheiden. Beide stürmten gleichzeitig nach vorn, streckten den Arm aus, trafen und beide Lampen leuchteten auf. Rot für den Russen, grün für Roy. Treffer für beide bedeutete das. Was folgte, war ein unendlich langer Moment des Schreckens. Jetzt lag die Entscheidung einzig beim Kampfrichter. Wen hatte er für den Bruchteil einer Sekunde eher im Angriff gesehen, wer hatte seine Attacke einen Hauch früher angesetzt. Dem würde der Kampfrichter den Treffer zuerkennen und der andere wäre draußen! Mit angehaltenem Atem hatte er auf seinem Platz in der letzten Reihe gehockt und auf den Kampfrichter gestarrt. Ein Wimpernschlag würde entscheiden über die große Chance, bei der Olympischen Spielen eine Medaille zu gewinnen oder um Platz fünf bis acht antreten zu müssen. Eine Platzierung, die Morgen in keiner Zeitung stehen würde.
Der Kampfrichter hatte schließlich abgewunken, kein Treffer. Aufatmen, aber nur kurz, denn es war ja nichts gewonnen. Nun kam es auf den nächsten Angriff an. Und dann passierte das Unglaubliche. Roy stürmte nach vorn, wollte dem Kampfrichter endgültig zeigen, dass bei nochmaligem gleichzeitigen Treffer er im Vorteil war, aber für den Bruchteil einer Sekunde blieb er mit der rauen Sohle seiner Turnschuhe an der Planche hängen, strauchelte und knickte nach links ein. Dadurch war er wehrlos, war völlig frei für den entscheidenden Stich des Gegners. Aber der Gegner hatte im Moment des Strauchelns selber seinen Angriff angesetzt und gerade die Tatsache, dass Roy nach links wegkippte, bewirkte, dass sein Hieb ins Leere ging. Durch diesen unglaublichen Zufall war er selbst frei für den entscheidenden Konter. Instinktiv stach Roy zu, ein lächerlich einfacher Treffer angesichts der Bedeutung des Kampfes. Es war das 15:14 gewesen, der Sieg.
Der Russe hatte sich fallen gelassen, wo er getroffen worden war, und losgeheult, hemmungslos. Mit zuckenden Schultern hatte er auf der Planche gelegen, so dass er selbst ihm, der gerade noch über den Sieg seines Sohnes gejubelt hatte, leid tat. So unglücklich bei einer Olympiade auszuscheiden, und dann noch als Weltmeister, war das Schlimmste, was einem Sportler passieren konnte. Wer Sport kannte, wusste, wie sich der Junge fühlen musste.
Im Halbfinale gegen einen Franzosen hatten Roy dann Kraft und Konzentration gefehlt, kein Wunder nach dem nervenaufreibenden Viertelfinale. Klar und deutlich hatte er mit 10:15 verloren. Die erste Chance auf eine Medaille war vertan, blieb also noch diese, die über Bronze oder den undankbaren vierten Platz entschied, für die es die Holzmedaille gab, wie das in Sportlerkreisen hieß.
Plötzlich brandete Beifall auf, die beiden Fechter betraten die Planche. Irgendwo vorn sprang ein Zuschauer auf und schwenkte die ungarische Fahne. Er sah sofort, dass Roy suchend ins Publikum blickte, und wusste im selben Moment, wen er suchte. Er sprang auf und winkte heftig mit der freien Hand, aber der Blick von Roy war schon über seine Sitzreihe hinweg geglitten, suchte weiter hinten in der Halle, fand aber nichts, das seinen Blick festhielt und schaute zurück auf die Planche. Roy hatte ihn nicht entdeckt im Gewühl der Zuschauer. Mist, daran hätte er denken müssen. Er hatte doch gewusst, dass er nach ihm Ausschau halten würde. Dass er diesen letzten Blickkontakt zwischen ihnen brauchte, der Roy zeigte, dass sein Vater da war. Und wenn sich ihre Blicke gefunden hatten, gehörte es zum festen Ritual, dass sein Vater die Faust ballte, um ihm zu zeigen, wie überzeugt er von Roys Sieg war. Und jetzt hatte er sich von dem Fahnenschwenker ablenken lassen, hatte den einzigen Moment verpasst, an dem er Roy helfen konnte. Er versuchte, sich zu beruhigen. Roy wusste doch, dass er da war. Er konnte sicher sein, dass sein Vater sich um nichts in der Welt davon abhalten lassen würde, pünktlich zu kommen, koste es, was es wolle.
Unglaublich, dachte er dann wieder. Unglaublich, dass Roy jetzt da unten steht und um eine olympische Medaille kämpft. Wenn ihm das jemand vor achtzehn Jahren gesagt hätte, er hätte ihn für verrückt erklärt. Ach was, nicht einfach nur für verrückt. Er hätte ihn für jemand gehalten, der nichts versteht vom Leben. Der sich Märchen ausdenkt und in den Tag hineinträumt. Er schüttelte den Kopf. Er konnte selbst nicht begreifen, was hier vor sich ging, so völlig außerhalb jeder...
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