Schweitzer Fachinformationen
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Als der Bus auf dem Hafengelände von Nynäshamn hielt, setzte der Regen ein, der bereits seit der Abfahrt von Stockholm gedroht hatte. Lisa zog ihren Trenchcoat an und stieg aus dem Bus. Draußen wurde sie von einer Windbö erfasst und flog beinahe zur Klappe des Stauraums, wo sie mit den anderen Passagieren auf den Fahrer wartete.
Endlich kam er und begann gemächlich, das Gepäck auszuladen. Lisas Koffer und Trolley waren zuletzt an der Reihe, obwohl, oder gerade weil sie wie immer als eine der Ersten erschienen war und die Sachen früh abgegeben hatte. Es hatte sich nicht gelohnt, so zeitig aufzustehen. Mantel und Haar waren nass, ihre Laune im Keller.
Unwirsch eilte sie an den Schlangen wartender Autos, Wohnmobile und Lastwagen entlang zum Abfertigungsgebäude der Fährlinie, wurde zu einer Rolltreppe gewiesen und ging im Strom der Ankömmlinge über einen gläsernen Passagiergang an Bord der «Destination Gotland». Wenigstens musste sie nicht über eine schwankende Gangway stolpern, dachte sie friedlicher gestimmt, gab ihr Gepäck einem Seemann, der es in eine Kammer schob, und stieg die Treppe hinauf. Oben trat sie auf ein riesiges überdachtes Deck mit unzähligen Reihen von Polstersesseln, fand ihren reservierten Fensterplatz und setzte sich. Nach einem Blick in den wolkenverhangenen Himmel und auf das graue, wogende Meer nahm sie ihr Buch heraus und versenkte sich aufatmend in eine farbenfrohere Welt.
Wenn sie zwischendurch den Kopf hob und aus dem Fenster schaute, sah sie nichts als Wasser, das schräg über die Scheiben peitschte, doch das Schiff lag trotz des heftigen Wellengangs relativ ruhig auf Kurs.
Die meisten Passagiere hatten ihren Proviant ausgepackt, Tüten und Plastikdosen geöffnet und aßen, die Gesichter zu den Fernsehschirmen erhoben, die in Abständen von der Decke hingen und einen Werbefilm über Gotland zeigten: fröhliche Menschen beim Spielen am Strand, beim Radeln und Reiten, Angeln und Segeln, dazwischen Kameraschwenks über die Festungsmauern von Visby, strohgedeckte Häuser, Kiefern am Felsenrand, graue Schafe mit seltsam gedrehten Hörnern.
Lisa ließ sich die Abfolge einmal gefallen, dann hatte sie genug und versenkte sich wieder in ihre Lektüre: zum x-ten Mal «Der Graf von Monte Christo». Wenn sie auf Reisen ging, packte sie immer ein, zwei ihrer geliebten Jugendschwarten ein, warum, wusste sie nicht genau. Vielleicht, weil sie ihr etwas wie Geborgenheit vermittelten.
Irgendwann merkte sie, dass Unruhe entstand. Die Kinder rannten nach vorn zur Fensterfront, kamen zurück und schrien aufgeregt: «Gottland, Gottland!» Das war wohl die schwedische Aussprache des Inselnamens. Lisa schaute hinaus. Wind und Wellen hatten sich gelegt. Der Himmel war blau, die Sonne schien und ließ die Ziegeldächer und Kirchturmspitzen von Visby funkeln. Ein weißes Segelschiff zog vorüber und verdeckte die Sicht für einen Augenblick, dann lag das Panorama mit seinen markanten viereckigen Festungstürmen wieder vor ihr. Es erinnerte an eine Filmkulisse.
Die Leute packten ihre Sachen zusammen, riefen die Kinder, nahmen die Babys auf den Arm und setzten sich in Bewegung. Lisa reihte sich ein, holte ihren Koffer und den Trolley, stieg die Treppe hinunter und fragte an der Information nach den Mietwagen.
Es ging alles sehr schnell und problemlos. Ein junger Mann von der Autovermietung begleitete sie zum Parkplatz, wo ein kleiner roter Wagen bereitstand, schloss auf und gab ihr eine Kurzeinweisung. Dann verstaute sie das Gepäck und startete in Richtung Süden.
Nach wenigen Minuten lag die Stadt hinter ihr. Birken, Kiefern, blühendes Heidekraut zu beiden Seiten der Straße, ab und zu ein rotes, gelbes oder weißes Holzhaus auf grüner Wiese mit Veranda, Schuppen, Kaminholzstapel und Spielplatz, idyllisch unter hohen Bäumen gelegen. Lisa ertappte sich bei einem Lächeln, was sie erstaunte, denn es war absolut untypisch für sie, zumindest auf der Fahrt zu einer Fortbildung.
Meistens steckte sie voller Befürchtungen, was den Sinn der Unternehmung anging: ob sie nicht wieder enttäuscht sein würde, ihre kostbare Zeit womöglich vergeudet war. Vor allem hatte sie wegen der Tagungsteilnehmer Bedenken. Sie selbst diskutierte abends nach den Vorträgen gern noch einmal die Ergebnisse des Tages, doch die meisten waren viel mehr daran interessiert, heimische Speisen und Wein zu probieren. Aber da machte sie nicht mehr mit. Sollte man sie ruhig ungesellig und berufsfixiert nennen. Immerhin hatte sie ein Thema für sich entdeckt, eins, das ungeheuer vielseitig war, und sie plante, es weit auf dem Gebiet zu bringen. Aber das behielt sie natürlich für sich.
Sehr, sehr gut werden. Besser als andere. Niemand, der über ihr saß. Forschen, publizieren, sich einen Namen machen, eines Tages die Leitung eines Instituts übernehmen, ihr Traumziel Italien. Sie sollten alle staunen. Der Vater. Die Mutter: «Wir wussten gar nicht, dass du solch eine Koryphäe bist.» Endlich die ersehnte Anerkennung. Und Alexander würde mit keinem Wort erwähnt werden.
Lisa schüttelte den Kopf und packte das Steuer fest mit den Händen. Anstatt in die Gegend zu träumen, sollte sie lieber auf den Verkehr achten. Obwohl es davon nicht viel gab. Nur wenige Autos waren unterwegs, und die bewegten sich in gemäßigtem Tempo voran. Offenbar hielt man hier nichts von Eile. Die vorgegebene Höchstgeschwindigkeit war ziemlich gering, wie sie auf den Schildern gesehen hatte. Da musste sie für ihre Touren wohl mehr Zeit als üblich einplanen. Aber diesmal hatte sie sowieso mehr Zeit als üblich. Sehr ungewohnt, ohne Plan und Programm wegzufahren. Ein großes Loch, das sie mit Aktivitäten füllen musste, denn sie hasste Leerlauf, ungenutzte, vergeudete Stunden.
Auf einmal weiteten sich Lisas Augen. Rechts vor ihr fiel das Land steil zum Meer ab: rötliche Felsklippen, von der Sonne beschienen. Das Wasser war tiefblau und schimmerte silbern bis zum Horizont, unten eine kleine sandige Bucht, menschenleer, wie sie im Vorbeifahren sah. Anhalten und hinunterklettern, dachte sie und malte sich aus, wie sie die Schuhe abstreifte und mit nackten Füßen ins Wasser liefe, mit den Zehen Fontänen spritzte, die Hände eintauchte und das Salzwasser schmeckte - seit Kindertagen hatte sie das nicht mehr getan. Wie hieß die friesische Insel noch? Lange her. Vergessen.
Lisa holte tief Atem. Konzentration, ermahnte sie sich und sah angestrengt nach vorn. Sie durfte den Abzweig zum Reiterhof nicht verpassen.
Das Gelände wurde sandig, trockene Sträucher und Strandgewächse zwischen Straße und Meer, ein langgestrecktes Campinggelände, Wohnwagen und Hütten zu vermieten, die Hinweistafeln auf Schwedisch und Englisch.
Bald darauf das Ortsschild von Klintehamn. Hier würde sie am nächsten Morgen die Fähre zur Vogelinsel nehmen. Farbige Holzhäuser, Tankstelle, Supermarkt, Kirche, Bäckerei. Am Ortsende in Richtung Hemse abbiegen; sie hatte sich die Strecke auf der Karte gut eingeprägt. Lichter Kiefernwald, Buchen, Birken, Wiesen und Weiden. Endlich das Schild: «Jespers Gård & Pensionat», eine schmale Zufahrtsstraße. Sie war da. Lisa steuerte auf das gelb und weiß gestrichene zweistöckige Haus zu, hielt an der Längsseite an und stieg aus.
Das große Gebäude wirkte beinahe klein unter dem Blätterdach der Bäume, die sich hoch oben zu einem Gewölbe zusammenschlossen. Auf der ausgedehnten Rasenfläche davor waren Holztische, Sitzbänke, Wagenräder und museumsreife Ackerfahrzeuge dekorativ verteilt.
Ein Dutzend steinerner Treppenstufen, von einem Geländer eingefasst, führte zum Vorbau mit geschnitzter Balustrade, hohen Fenstern und einer roten Eingangstür in der Mitte. Lisa suchte vergeblich nach einer Klingel und klopfte. Als niemand öffnete, machte sie kehrt, ging am Haus vorbei in den grasbewachsenen Hof, der von einem kleineren gelben Haus flankiert war, folgte dem gepflasterten Weg bis an einen weißen Zaun und schaute über den Sandplatz zum Stallgebäude hinüber. Weit und breit war niemand zu sehen.
Unschlüssig drehte sie sich um und ging langsam zurück, als sie die Leute auf dem Dach des Wohnhauses bemerkte. Der Mann saß rittlings auf dem First und hämmerte an einer Luke, die Frau stand auf der obersten Sprosse einer Leiter und redete lebhaft auf ihn ein. Nur nicht ansprechen, dachte Lisa und blieb stehen. Womöglich kriegen die einen Schreck und fallen runter.
Doch da hatte die Frau sie schon gesehen, kletterte geschwind herab und lief ihr entgegen. «Lisa? Lisa Hoffmann, richtig?», fragte sie auf Deutsch. «Wir haben schon auf dich gewartet.» Sie nahm ihr Stirntuch ab und fuhr sich mit den Fingern durch die aschblonden Haare. «Ich bin Ulrica, und das da oben ist mein Mann Jesper. Herzlich willkommen.»
«Oh, bin ich zu spät?», fragte Lisa, ein wenig irritiert wegen der vertraulichen Anrede.
«Gar nicht. Du bist angekündigt, wollte ich nur sagen. Komm, ich helfe dir mit dem Gepäck.»
«Sollten Sie nicht hierbleiben und aufpassen, dass Ihr Mann nicht abstürzt?»
«Nein, Jesper braucht mich nicht, der kann allein heruntersteigen», antwortete Ulrica mit singendem schwedischem Akzent und lachte. «Wir sagen aber bei uns in Schweden, das ist hier so üblich. Oder hast du ein Problem damit?»
«Nein, nein», versicherte Lisa schnell. «Es ist nur so ungewohnt.» Das konnte man wohl sagen. Fremde Leute zu duzen oder ohne weiteres geduzt zu werden war von jeher schwierig für sie. Ebenso spontane Umarmungen, eigentlich jede Art von überfallartiger Annäherung. Zurückweichen, das war ihre Instinktreaktion. Lass mich. Gib mir Zeit. Erwarte erst mal nicht viel. Dass sie hier einen wunden Punkt hatte, brauchte nur niemand zu merken.
«Du sprichst aber gut Deutsch»,...
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