Schweitzer Fachinformationen
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Anfang November. Neun Uhr. Die Kohlmeisen knallen gegen das Fenster. Manchmal fliegen sie nach dem Zusammenprall wie benommen davon, dann wieder fallen sie in den Neuschnee und mühen sich ab, bevor sie erneut auf die Flügel kommen. Ich weiß nicht, was ich habe, das sie haben wollen. Ich sehe aus dem Fenster hinüber zum Wald. Über den Bäumen zum See hin scheint ein rotes Licht. Wind kommt auf. Ich sehe die Form des Windes im Wasser.
Hier wohne ich jetzt, in einem kleinen Haus an einem See ganz im Osten des Landes. In den See fließt ein Fluß. Es ist ein kleiner Fluß, der im Sommer wenig Wasser führt, aber im Frühjahr und Herbst munter strömt, und es gibt tatsächlich Forellen darin. Ich habe schon welche gefangen. Die Mündung ist nur wenige hundert Meter von hier entfernt. Wenn die Birken ihr Laub abgeworfen haben, kann ich sie aus dem Küchenfenster gerade noch sehen. Wie jetzt im November. Am Fluß steht eine Hütte, die ich sehen kann, wenn ihre Fenster erleuchtet sind und ich mich draußen auf die Treppe stelle. Dort wohnt ein Mann, der, wie ich glaube, älter ist als ich. Es wirkt so. Doch vielleicht liegt es auch daran, daß mir nicht klar ist, wie ich selbst aussehe, oder daran, daß das Leben härter zu ihm war als zu mir. Das will ich nicht ausschließen. Er hat einen Hund, einen Border Collie.
Ich habe ein Futterbrett auf einer Stange ein Stück weiter hinten im Hof. Morgens, wenn das Licht kommt, sitze ich mit einer Tasse Kaffee am Küchentisch und sehe, wie die Vögel herbeiflattern. Ich habe auf dem Brett acht verschiedene Arten gezählt. Mehr als an allen anderen Orten, an denen ich jemals gewohnt habe, doch nur die Kohlmeisen fliegen gegen das Fenster. Ich habe schon an vielen Orten gewohnt. Jetzt wohne ich hier. Wenn das Licht kommt, bin ich seit Stunden wach. Habe schon Feuer gemacht. Bin umhergelaufen, habe die Zeitung von gestern gelesen, den Abwasch von gestern gemacht, es war nicht sehr viel. BBC gehört. Das Radio läuft fast den ganzen Tag. Ich höre Nachrichten, kann es mir nicht abgewöhnen, aber ich kann nichts mehr mit ihnen anfangen. Man sagt, siebenundsechzig sei noch nicht alt, heutzutage nicht, und es fühlt sich auch nicht so an, ich fühle mich fit. Aber wenn ich die Nachrichten höre, nehmen sie in meinem Leben nicht länger den gleichen Platz ein. Sie verändern nicht mehr wie früher meinen Blick auf die Welt. Vielleicht stimmt etwas mit den Nachrichten nicht, mit der Art, wie sie wiedergegeben werden, vielleicht sind es zu viele. Der Vorteil von BBC World Service, einem Programm, das frühmorgens gesendet wird, ist, daß alles anders klingt, daß überhaupt nichts über Norwegen gesagt wird und daß ich mich über das Kräfteverhältnis zwischen Ländern wie Jamaika, Pakistan, Indien und Burma in einem Sport wie Kricket auf dem laufenden halten kann, einem Sport, den ich noch nie auf einem Spielfeld gesehen habe und auch nie sehen werde, wenn es nach mir geht. Mir ist allerdings aufgefallen, daß das »Mutterland« England ständig Prügel bezieht. Das ist schon mal was.
Ich habe auch eine Hündin. Sie heißt Lyra. Welcher Rasse sie angehört, ist schwer zu sagen. Und auch nicht wichtig. Wir waren schon draußen unterwegs, mit der Taschenlampe, haben den Weg genommen, den wir immer nehmen, hinter dem See mit millimeterdünnem Eis auf dem Wasser, wo das herbstgelbe, tote Schilf steif am Ufer steht, und der Schnee fiel leise und dicht aus dem dunklen Himmel, und Lyra mußte vor Freude niesen. Jetzt liegt sie neben dem Ofen und schläft. Es schneit nicht mehr. Im Laufe des Tages wird alles schmelzen. Das sehe ich am Thermometer. Die rote Säule steigt mit der Sonne.
Mein ganzes Leben lang habe ich mich danach gesehnt, allein an einem Ort wie diesem zu sein. Auch in schönsten Zeiten, und die waren nicht selten. Soviel kann ich sagen. Daß sie nicht selten waren. Ich hatte Glück. Doch auch dann, zum Beispiel inmitten einer Umarmung, wenn mir jemand Worte ins Ohr flüsterte, die ich gerne hörte, konnte ich mich plötzlich weit weg sehnen an einen Ort, an dem es einfach nur still war. Es konnten Jahre vergehen, ohne daß ich daran dachte, aber das heißt nicht, daß ich mich nicht danach sehnte. Und jetzt bin ich hier, und es ist fast genau so, wie ich es mir vorgestellt habe.
In knapp zwei Monaten ist dieses Jahrtausend zu Ende. Dann gibt es in der Gemeinde, zu der ich nun gehöre, ein Fest mit Feuerwerk. Dorthin werde ich aber nicht gehen. Ich bleibe mit Lyra hier im Haus, mache vielleicht einen Spaziergang zum Wasser hinunter, um zu sehen, ob das Eis schon hält, ich stelle mir zehn Grad minus und eine Mondnacht vor, und dann werde ich Feuer machen und mich mit einer Flasche, die ich im Schrank habe, ein bißchen betrinken und eine Platte von Billie Holiday auf den alten Plattenspieler legen – ihre Stimme gleich einem Flüstern –, wie damals, als ich sie in den fünfziger Jahren im Colosseum in Oslo gehört habe, fast ausgebrannt und doch magisch. Wenn die Platte zu Ende ist, werde ich zu Bett gehen und so fest schlafen, wie man nur kann, ohne tot zu sein, und zu einem neuen Jahrtausend erwachen und ihm nicht die geringste Bedeutung beimessen. Darauf freue ich mich.
Bis dahin nutze ich die Zeit, um diesen Ort hier herzurichten. Es gibt nicht wenig zu tun, ich habe ihn billig bekommen. Um ehrlich zu sein, war ich darauf vorbereitet gewesen, noch einige Scheine draufzulegen, um mir das Haus mit Grundstück zu sichern, aber es gab nicht viel Konkurrenz. Ich weiß jetzt auch warum, aber das macht nichts. Ich bin auch so zufrieden. Ich versuche, das meiste selbst zu machen, obwohl ich durchaus einen Schreiner bezahlen könnte, ich bin keineswegs knapp bei Kasse, aber dann ginge es zu schnell. Ich will mir die Zeit nehmen, die es braucht. Zeit ist jetzt wichtig für mich, denke ich. Nicht daß sie schnell oder langsam vergeht, sondern die Zeit an sich, etwas, worin ich lebe und das ich mit physischen Dingen und Aktivitäten füllen kann, um sie aufzuteilen, so daß sie für mich deutlich wird und nicht verschwindet, ohne daß ich es merke.
Heute nacht ist etwas passiert. Ich hatte mich in die Kammer neben der Küche gelegt, wo ich unter dem Fenster ein provisorisches Bett gebaut habe, und war eingeschlafen, es war nach Mitternacht, pechschwarz und kalt. Das fiel mir auf, als ich ein letztes Mal draußen war, um hinter dem Haus zu pinkeln. Das erlaube ich mir. Vor allem, weil es bisher nur ein Plumpsklo im Freien gibt. Es sieht ohnehin kein Mensch. Die Bäume im Westen stehen sehr dicht.
Ich wurde von einem schrillen, hohen Ton geweckt, der sich in kurzen Abständen wiederholte, bevor es still wurde und dann von neuem begann. Ich setzte mich im Bett auf, öffnete das Fenster einen Spaltbreit und sah hinaus. In der Dunkelheit konnte ich etwas weiter unten auf dem Weg zum Fluß den gelblichen Strahl einer Taschenlampe erkennen. Derjenige, der die Taschenlampe in der Hand hielt, gab zweifellos das Geräusch von sich, das ich hörte, mir war aber nicht klar, was für ein Geräusch es war und wie er es machte. Falls es ein er war. Dann schwenkte der Lichtstrahl ziellos nach rechts und nach links, hilflos fast, und in einem Moment erhaschte ich einen Blick auf das zerfurchte Gesicht meines Nachbarn. Im Mund hatte er etwas, das wie eine Zigarre aussah, und dann war das Geräusch wieder da, und mir wurde klar, daß es eine Hundepfeife war, obwohl ich bisher noch nie eine solche Pfeife gesehen hatte. Und er begann nach dem Hund zu rufen: Poker, rief er, Poker – so hieß der Hund –, komm, Junge, rief er, und ich legte mich wieder ins Bett und schloß die Augen, aber ich wußte, daß ich nicht mehr einschlafen würde.
Eigentlich wollte ich nur noch schlafen. Ich achte sehr auf die Stunden, die ich zum Schlafen brauche, es sind nicht mehr so viele, aber ich brauche sie ganz anders als früher. Eine Nacht ohne ausreichend Schlaf wirft noch tagelang Schlagschatten, macht mich reizbar und bremst meinen Schwung. Dazu fehlt mir die Zeit. Ich muß mich konzentrieren. Dennoch setzte ich mich wieder auf, schwang die Beine aus dem Bett, stellte die Füße auf den Boden und suchte im Dunkeln nach meinen Kleidern, die über dem Rücken eines Sprossenstuhls hingen. Ich hielt die Luft an, als ich merkte, wie kalt sie waren. Dann lief ich durch die Küche in den Gang, zog die alte Seemannsjacke über, nahm die Taschenlampe vom Brett an der Wand und ging hinaus auf die Treppe. Es war stockdunkel. Ich machte die Tür noch einmal auf und schaltete die Außenbeleuchtung an. Das half. Die rote Wand des Geräteschuppens warf einen warmen Widerschein auf den Hof.
Ich hatte Glück, dachte ich. Ich kann zu einem Nachbarn, der seinen Hund sucht, in die Nacht hinausgehen, und es dauert nur wenige Tage, bis ich wieder fit bin. Ich machte die Taschenlampe an und ging den Weg hinunter auf ihn zu, der immer noch auf dem sanften Abhang stand und die Lampe schwenkte, so daß der Lichtstrahl langsam in einem Kreis zum Waldrand glitt, über die Straße, am Flußufer entlang und zum Ausgangspunkt zurück. Poker, rief er, Poker, und dann blies er in die Pfeife, und das Geräusch erklang in unangenehm hohen Frequenzen in der stillen Nacht, und sein Gesicht, sein Körper waren in der Dunkelheit verborgen. Ich kannte ihn nicht, hatte nur ein paar Mal mit ihm gesprochen, auf dem Weg an seiner Hütte vorbei, wenn ich mit Lyra draußen war, gern am frühen Morgen, und ich hatte plötzlich Lust, wieder hineinzugehen und alles zu vergessen. Was konnte ich schon ausrichten? Aber jetzt hatte er bestimmt das Licht meiner Taschenlampe gesehen, und es war zu spät, und außerdem hatte sie etwas, diese einsame Gestalt, die ich in der Nacht kaum sehen konnte. Er sollte nicht auf diese Weise allein sein. Das war nicht...
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