Schweitzer Fachinformationen
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Dunkel. Es war viereinhalb Stunden nach Mitternacht. Ich kam aus Hauketo und fuhr auf den Herregårdsveien zu. Kurz vor dem Bahnhof Ljan bog ich oberhalb der Eisenbahnbrücke nach links, die Ampel war rot, aber es war niemand zu sehen, darum bog ich einfach ab. Als ich auf der anderen Seite schon ein gutes Stück in der Straße war und den Laden passiert hatte, der sich dort befand und Karusellen hieß, tauchte plötzlich ein Mann aus der Dunkelheit auf, als würde er ins Scheinwerferlicht vor meinen Wagen katapultiert. Er war im Begriff zu fallen, als ich ihn sah. Ich stieg auf die Bremse, die Räder blockierten, und der Wagen rutschte mit einem unangenehm kreischenden Geräusch ein paar Meter seitlich weiter und kam kurz vor dem Mann zum Stehen. Der Motor ging sofort aus. Ich war davon überzeugt, den Mann mit der Stoßstange erwischt zu haben.
Doch dann fiel er gar nicht. Er lehnte sich an die Motorhaube, ging drei Schritte rückwärts, blieb stehen und schwankte, ich sah, wie das Licht in seine Augen strömte. Er starrte auf die Windschutzscheibe, aber er konnte mich nicht sehen, er konnte gar nichts sehen. Seine Haare waren lang, sein Bart war lang, und er hatte einen grauen Rucksack unter den Arm geklemmt. Einen Augenblick lang glaubte ich, es sei mein Vater. Aber es war nicht mein Vater. Ich hatte meinen Vater noch nie gesehen.
Dann verschwand er in der Dunkelheit auf der anderen Seite der Straße, von wo ein steiler Pfad hinunter nach Ljansdalen führte. Ich blieb mit steifen Armen sitzen, die Hände fest gegen das Lenkrad gepresst, das Auto schräg auf dem Herregårdsveien, halb auf der Gegenfahrbahn. Es war nach wie vor dunkel, ja, noch dunkler jetzt. Zwei Scheinwerferlichter kamen die Straße herauf. Ich drehte den Zündschlüssel um, doch der Motor wollte nicht starten, ich versuchte es noch einmal, und diesmal sprang er an. Ich spürte, wie rasch mein Atem ging, ganz oben im Hals, so wie Hunde atmen. Ich setzte zurück in meine eigene Spur, bevor das andere Auto bei mir angelangt war, und fuhr in einer leichten Kurve langsam hinunter zum Mosseveien und bog unten nach rechts, Richtung Oslo.
Ich wohnte damals nordöstlich von Oslo, in Romerike, unter Jens Stoltenbergs erster rotgrüner Regierung, und doch nahm ich immer seltener den einfachen Weg nach Oslo über die E6, sondern fuhr lieber östlich in einem großen Bogen um die Hauptstadt herum, von Lillestrøm über Enebakk nach Hauketo, weil die Strecke schöne Erinnerungen in mir wachrief.
Dieser Weg war sehr viel weiter und dauerte länger, aber das machte nichts, ich war seit einem Jahr krankgeschrieben. Ich hatte keine Ahnung, wie es weitergehen würde. Vom Arbeitsamt war ein Brief in der Post gewesen, in dem stand, dass ich dort vorzusprechen hätte, aber ich würde bestimmt nicht so bald wieder an meinen Arbeitsplatz zurückkehren. Solange ich nicht vergaß, meine Pillen zu schlucken, ging ein Tag wunderbar in den nächsten über.
Ich fuhr mit etwas unter sechzig über den Mosseveien zur Hängebrücke, die Ulvøya mit dem Festland verband. Noch immer herrschte kein Verkehr. Ich fuhr über die Brücke, die unter mir ein wenig schaukelte, es war ein schönes Gefühl, wie auf einem Schiffsdeck, das gefiel mir.
In der Kurve dahinter stellte ich das Auto rechts von der Straße in der Parkbucht ab, ich schloss die Augen, blieb sitzen und wartete. Atmete in den Bauch. Dann öffnete ich die Tür und schwang die Füße nach draußen, ging um das Auto herum, öffnete den Kofferraum und nahm die alte schwarze Tasche mit den Angelsachen heraus. Nichts Kompliziertes, eine Handangel mit Schnur, zwanzig Haken und einem Senkblei.
Die meisten anderen standen schon am Geländer, sie standen seit zehn Jahren hier oder noch länger. Ich war der einzige Neue im vermutlich selben Zeitraum, aber keiner fragte mich, warum ich plötzlich hier auftauchte. Seit drei Monaten stand ich mindestens zweimal die Woche hier.
Der Erste in der Reihe drehte sich um, als ich mit der Tasche in der Hand auf die Brücke kam, und grüßte mit drei Fingern an der Mütze, wie ein Pfadfinder. Er trug zwei Pullover übereinander, der obere war blau, der darunter weiß, na ja, fast weiß, und beide waren zerschlissen, er wurde Container-Jon genannt. An den Händen hatte er Pulswärmer, vielleicht waren es aber auch normale Fingerhandschuhe, von denen er die Finger abgeschnitten hatte. Das hatte ich bei Zeitungsausträgern gesehen. Seine hier waren überraschend rot, fast rosa.
»Schon was gefangen«, fragte ich.
Er antwortete nicht, sondern lächelte und zeigte auf die Zeitung, die er neben seinen Füßen auf dem Boden ausgebreitet hatte. Dort lagen ein mittelgroßer Dorsch und zwei kleine Makrelen, die eine zappelte noch. Er zwinkerte mir mit dem linken Auge zu, nahm die rechte Hand hoch und zeigte mir dreimal fünf gespreizte Finger.
»In einer Viertelstunde«, sagte ich und pfiff leise.
Eine Plastiktüte hatte sich im Geländer verfangen, von ICA oder COOP, irgendwas in der Art, sie gehörte nicht ihm, das war klar, und zwei Pappbecher lagen zusammengeknüllt auf dem Boden und eine helle Serviette mit Ketchup- und Senfflecken klebte daneben, und außerdem lag etwas weiter weg ein Fischbehälter mit billiger Schnur. Container-Jon hustete ein paar Mal heftig und besorgniserregend hohl mit den Pulswärmern vor dem Mund, drehte sich um und sagte in die Dunkelheit:
»Scheiß-Ausländer. Angeln tagsüber.«
Ich ging an ihm vorbei und stellte mich zwischen zwei Angelruten, die näher am Festland waren, beim neunten Hänger, löste den letzten Haken der Handangel, zog einen halben Meter Schnur heraus und beugte mich über das Geländer. Mit ein paar linkischen Drehungen des Handgelenks ließ ich die Schnur mit dem Senkblei am Ende langsam ins Wasser hinab. Ich hatte jeden Haken oben mit rotglänzendem Tape umwickelt. Als mein Onkel in seiner Hochphase etwas südlich von hier im Bunnefjord direkt vor Roald Amundsens Haus in einem Ruderboot angelte, das er sich kurzerhand ausgeborgt hatte, nahm er stets die Innereien von Miesmuscheln als Köder. Er wollte im Salzwasser fischen, das war Anfang der Sechziger, und so fuhr er mit seinem grauen Volvo PV die weite Strecke zum Anleger Bekkensten, ging in Anglerstiefeln ins Wasser, die spiegelblanke Oberfläche befand sich direkt unter der Stiefelkante, bückte sich mit aufgekrempelten Hemdsärmeln in dem vergeblichen Bemühen, nicht nass zu werden, pflückte Miesmuscheln und legte sie in einen Eimer, den er auf halber Höhe abgeschnitten hatte und der vor ihm im Wasser trieb. Aber mir war das zu kompliziert, und ich legte schon gar nicht so einen weiten Weg zurück, um mir Köder zu beschaffen, und der Fisch biss nicht besser und nicht schlechter an als damals bei meinem Onkel. Du brauchst keinen Köder, sagten die anderen auf der Brücke, der Fisch beißt direkt in den Haken.
Ich befestigte eine Fahrradnabe am Geländer, verhakte die Schutzblechstangen in dem Gestänge, eine solche Vorrichtung nannte man Angelschnurwinde, sie wurde in der Regel am Dollbord eines Fischerboots befestigt, und man konnte sie auch für Geld im Laden kaufen, wenn man wollte, aber das hier war ein selbstgebasteltes Patent. Ich legte die Schnur in die Rille und konnte sie so problemlos vor und zurück bewegen, ohne dass sie sich am Geländer aufscheuerte und dann mit einem Knall riss. Das war schon vorgekommen, zur allgemeinen Belustigung.
Langsam wurde es heller. Ich stand seit mehr als zwei Stunden da und hatte noch nichts an den Haken bekommen. Das ärgerte mich ein wenig, aber offen gestanden hielt sich meine Begeisterung für Fisch in Grenzen. Anders als früher. Was ich fing, schenkte ich weg.
Normalerweise fuhr ich nach Hause, bevor die ersten Wagen über die Brücke rollten, aber heute hatte ich getrödelt. Ich hatte noch nicht einmal angefangen, meine Tasche zu packen, da kamen schon schicke Autos angerollt, teure Autos. Ich kehrte der Straße den Rücken zu, die zerschlissene marineblaue Lotsenjacke hatte ich fest um den Brustkorb gezogen. Die Jacke besaß ich seit meiner Jugend in Mørk, und von den alten Messingknöpfen war nur noch einer intakt, die Strickmütze – auch sie war blau – hatte ich weit über die Ohren gezogen, von hinten sah ich aus wie viele andere.
Ich machte die Handangel am Geländer fest, drehte mich um und ging in die Hocke, um mir aus der Schachtel, die ich in der Tasche hatte, eine Zigarette zu nehmen. Ich sollte unbedingt mit dem Rauchen aufhören, ich hatte angefangen, morgens zu husten, das war ein schlechtes Zeichen, aber in dem Moment hielt neben mir ein Wagen, und das Fenster auf der Fahrerseite befand sich auf Höhe meines Gesichts. Langsam richtete ich mich auf, ich hatte die Zigarette zwischen den Lippen und zündete sie auf dem Weg nach oben in der hohlen Hand mit einem Streichholz an, ich benutzte immer Streichhölzer, ich mochte das viele Plastik nicht.
Es war ein grauer Mercedes, funkelnagelneu, und der Lack glänzte, wie Haut manchmal glänzt, in bestimmten Situationen. Dann glitt die Scheibe lautlos herunter.
»Ist das nicht Jim«, sagte er.
Ich erkannte ihn sofort. Es war Tommy. Er hatte schütteres, fast graues Haar. Aber die waagerechte Narbe über dem linken Auge war immer noch deutlich zu erkennen, weiß und silberglänzend. Er trug einen lila Mantel, den er bis oben zugeknöpft hatte. Der Mantel sah nicht billig aus. Tommy war ganz der Alte, doch zugleich sah er aus wie Jon Voight in Der Staatsfeind Nr.?1. Lederhandschuhe. Offener Blick. Eine Spur unfokussiert.
»Das stimmt«, sagte...
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