Schweitzer Fachinformationen
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1 | SO ÄHNLICH WIE BAYWA
Peng.
Was war das denn? Hatte da jemand auf ihn geschossen? Hausknecht richtete sich im Sattel auf und sah sich um, so gut es ging. Er kämpfte sich den Anstieg hinauf, der Schwung, den er bei der langen Abfahrt von Flammensbach an Unterweilenbach vorbei auf dem Weg nach Gerolsbach mitgenommen hatte, half ihm.
Schon wieder. Was war denn das für ein Idiot? Das war doch - eine Gewehrkugel. Natürlich. Hausknecht dachte fieberhaft nach. Man liest das ja immer wieder in der örtlichen Heimatzeitung, dass Jäger sich gegenseitig erschießen, weil sie sich für Wild halten. Neulich hatte sogar ein Verbandsvorsteher empfohlen, Jäger mögen doch bitte auf dem Weg zum Hochsitz ein Waidmannsliedchen trällern, um sich als Mensch zu erkennen zu geben, wobei Hausknecht sich gefragt hatte, was das für Menschen sind, die Waidmannsliedchen trällern. Er jedenfalls war kein Jäger, und drum verbat er es sich, dass ihn hier jemand aufs Korn nahm. Zum Trällern fehlte ihm allerdings gerade die Luft. Viel nachzudenken gab es also nicht. Genau genommen hatte er exakt eine Option: in die Pedale treten. Raus aus der Schusslinie.
Hausknecht hatte das Gefühl, dass diese Kugel direkt an seinem Kopf vorbeigezischt war. Verdammt. Er war doch nicht im Krieg. Er war im tiefsten Bayern, quasi direkt im Herzen, fast in der geografischen Mitte. Und er lebte in zivilisierten Zeiten, die Nullerjahre des neuen Jahrtausends waren gerade ein paar Jahre vorüber. Naja, so zivilisiert Zeiten sein konnten, in denen dieser George Dablju überm Teich, der Bungabunga-Mann jenseits der Alpen und ein kleiner Franzose nach dem anderen im Westen ihr Unwesen treiben konnten, ganz zu schweigen von all den anderen merkwürdigen Wesen, die um Hudlhub herum etwas zu sagen hatten, in Afrika, im Nahen Osten und auch im Fernen. Hausknecht war immer froh gewesen, dass er hier, in Hudlhub, weit weg war von dem ganzen Mist da draußen. Und jetzt waren sie dabei, ihn abzuknallen. Verdammt, er hatte doch nichts verbrochen! Wer sollte auf ihn schießen wollen?
Hausknecht trat in die Pedale, links hinter ihm verschwand Weilenbach, wo sich in einem einschlägigen Laden üblicherweise Polizisten gerne einkleiden, nur jetzt schien gerade gar nichts los zu sein. Immer, wenn man die braucht, dachte Hausknecht. Und er dachte schnell und viel, Adrenalin macht's möglich. Ganz enorm, was sein alter Körper davon noch zu produzieren imstande war. Er beugte sich so tief zum Lenker herab, wie es der Rücken zuließ, er trat, so schnell er treten konnte, gab bei jedem Tritt extra viel Druck nach unten und zog gleichzeitig das andere Pedal mit dem anderen Fuß kraftvoll nach oben. Eine Weile ging es noch, bald würde der Anstieg ihn dazu zwingen, aus dem Sattel zu müssen.
Verfehlt. Wieder verfehlt. Gott sei Dank. Valentin Hausknecht verfluchte in diesem Augenblick jenen dämlichen Entschluss, den er vor gut zwanzig Jahren gefasst hatte Radfahren zu seinem Hobby zu machen, wie konnte er bloß so dämlich sein. Nur deshalb war er jetzt überhaupt in dieser Situation. Hausknecht strampelte, so kraftvoll er konnte.
War das Blut, das da über sein Gesicht lief? Hausknecht wischte mit der Hand über die Stirn. Schweiß. Gott sei Dank, dachte er. Konnten das wirklich Jäger sein? War er am Ende jemandem auf die Füße getreten? Oder hatte seine geschiedene Frau einen Killer auf ihn angesetzt? Heutzutage war ja alles möglich.
Wieder pfiff eine Kugel an ihm vorbei, das Herz raste, die Lungen schmerzten.
»Na los, Bürgermeister, nachladen, gleich ist er außer Sichtweite!«
»Nur ned hudln. Ich weiß, ich krieg ihn schon noch, Haderlein.«
»Das war dein siebter Schuss, Bürgermeister, beeil dich. So ein Prachtexemplar bekommst du nicht alle Tage auf dem Silbertablett serviert. Das ist mindestens ein Achtender. Schieß, Bürgermeister.«
»Warte ... warte ... gleich hab ich ihn ... komm ... komm ... jetzt!«
Hausknecht duckte sich instinktiv weg. Was war denn das für ein Idiot, der da auf ihn schoss? Inzwischen brannte der ganze Körper, allmählich ging ihm die Puste aus. Immerhin: Er war fast 80, aber dafür war er verdammt fit. So fit, dass neulich sogar das Lokalfernsehen über ihn berichtet hatte. Und die Leute staunten über seine so gesunde Gesichtshaut, über die straffen, muskulösen Beine, über seine Agilität. Klar, da gab es die tiefen Furchen zwischen Mund und Wangen, zwei kernige Gräben unter dem kurz geschorenen Silberschopf auf dem Weg zu den Augenbrauen, aber es gab Endfünfziger, die weniger fit waren als er. Zum Glück.
Und da vorne, da kam jetzt die scharfe Linkskurve wenn ihn nicht jemand in einem Auto oder auf einem Motorrad verfolgte, dann war er gleich in Sicherheit. Denn hinter dieser Linkskurve wurde der Wald nahezu undurchdringlich dicht.
Hausknecht keuchte. Er kämpfte.
Er gab alles.
Er fuhr um sein Leben. Noch 300 Meter.
Was er seinem armen Herz da zumutete!
Sein alter Freund, der Reiß Sepp, der war damals völlig entspannt am Schafkopftisch gestorben.
Noch 250 Meter.
Gerade als ein gepflegter Wenz angesagt worden war, hatten ihn die Folgen seiner Leberzirrhose final ereilt. Der Reiß Sepp stöhnte kurz, kippte mit dem Stuhl nach hinten um und blieb ganz einfach liegen. Pfiat Eich!
Noch 200 Meter.
Die Karten hielt er fest umklammert und bis zum letzten Augenblick vorbildlich verdeckt in der Hand.
»Lasst ihn liegen«, rief der mit dem Wenz erregt.
»Ja, aber ...«, setzte Hausknecht an.
»Ich hab einen bärigen Wenz auf der Hand«, rief der andere erregt,
»und vielleicht steht er ja wieder auf.« Noch 150 Meter.
Also warteten sie, tranken noch eine Maß und dann noch eine, und irgendwann war auch dem Letzten klar: Das mit dem Wenz würde heute nichts mehr werden.
Noch 100 Meter. Peng.
»Ich mag jetzt aber schon sehen, ob mein Wenz gegangen wär«, sagte der Schafkopfer nach einer Weile. Die anderen legten ihre Karten auf den Tisch.
»Ich hab nix gehabt außer dem Gras-Unter«, hatte der Hausknecht erwidert, er hob sein fast leeres Glas mit dem letzten Schluck an, um auf den Reiß Sepp anzustoßen.
»Ich auch nicht, außer dem Eichel-Unter«, sagte der vierte Mann.
»Ich hab's gewusst«, schnaufte der mit dem Wenz, er kauerte auf dem Boden und hielt inzwischen die Karten des Toten in der Hand. »Und wie der gegangen wär. Ein super Wenz. Zefix, Meister. Die zehn Minuten hättst schon auch noch durchhalten können, du Sauhund, du verreckda.«
Noch 50 Meter.
Sepp Reiß aber, der ob seines vorzüglichen Trompetenspiels schon in seiner Jugend zum Marktkapellmeister von Hudlhub ernannt worden war, hatte seinen letzten Tusch gespielt. Er hatte sich entschieden, zu verrecken, ehe er diesen Wenz verlor, wobei seiner Leberzirrhose der Wenz geradezu vollkommen gleichgültig gewesen sein dürfte.
Wieder vorbei. Hausknecht hörte mit dem Grad an Zufriedenheit, der ihm angesichts seiner Erschöpfung zu empfinden möglich war, dass der Knall leiser ausfiel als die davor. Seine Rechnung schien aufzugehen. Aber er wusste: Lang macht sein altes Herz das nicht mehr mit.
Der Reiß hat's seit zwanzig Jahren hinter sich, dachte er, und es fehlt nicht viel, dann komm ich hinterher. Er war am Ende seiner Kräfte.
Wieder ein Schuss, aber der war jetzt noch mal deutlich leiser. Hausknecht atmete tief durch. Er wusste: Jetzt war er in Sicherheit. Zumindest vorläufig.
Er bremste, klickte noch im Ausrollen die Schuhe aus den Pedalen, ließ das Rad neben der Straße sinken und sich auf der Böschung zusammensacken. In diesem Augenblick war ihm egal, ob er sich dabei die Knochen brechen würde, zum Glück fiel er weich.
Das Herz raste, die Schläfen pochten. Hausknecht rang nach Atem. Und noch immer fragte er sich dies: Was in aller Welt war da eben eigentlich passiert?
»Bürgermeister!«, brüllte Haderlein, »schnell, er entkommt! Das ist mindestens ein Sechzehnender!«
»Ich weiß!«, brüllte der Bürgermeister zurück, »mindestens!« Er musste an seinen Hausarzt denken. Wenn der jetzt seinen Blutdruck messen würde, wär's sofort vorbei mit seiner täglichen Feierabendmaß zu Schweinebraten mit Semmelknödel. Sein Hausarzt, der verstand beim Thema Blutdruck aber auch gar keinen Spaß.
Der Bürgermeister ließ das Gewehr sinken, er warf einen langen Blick auf das gute Stück, das ihm seine Frau zum 50. Geburtstag geschenkt hatte, eine Holland & Holland Royal Ejector Doppelbüchse.
»Vorbei«, sagte er.
»Ja, vorbei.«
»Was für ein edles Tier.«
»Allerdings.«
»War es wirklich ein Sechzehnender?«
Haderlein überlegte kurz. »So genau weiß ich es nicht, vielleicht war es auch ein Achtzehnender«, wollte er gerade sagen, hielt es dann aber für besser, den Bürgermeister nicht noch mehr zu düpieren. »Genau genommen habe...
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