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Das Schneeglöckchen
In der vierten Klasse rannte ich einem Mädchen hinterher, der Goworowa. Sie spielte auf dem Klavier das »Schneeglöckchen« aus Tschaikowskis Jahreszeiten. Die Goworowa verkörperte für mich einen Traum. Sie konnte Klavier spielen, hatte Musikunterricht. Ich folgte diesem wunderbaren dicken Mädchen mit dem weizenblonden Zopf und den klaren, wenn auch nicht sehr großen blauen Augen wie ein Raubfisch überallhin.
Das war wie eine Psychose, die dazu noch ansteckend war. Nach mir wollte auch noch Lenka, ebenfalls ein dickes Mädchen, aber mit widerspenstigen schwarzen Haaren, mit der Goworowa befreundet sein. Sie saß hinter der Goworowa, ich zwei Bänke vor ihr. Die Goworowa fasste mit ihren molligen Fingern ihren weizenblonden dicken Zopf, streckte eine Schulter vor, und warf dann den Zopf nach vorn. Alle Mädchen ahmten diese Manier nach, sie schleuderten mal den einen Zopf nach vorn, mal den anderen, und die Köpfe drehten sich mal in die eine Richtung, mal in die andere. Lenka hatte ebenfalls Zöpfe, aber die standen bei ihr immer ab. Ich hatte einfache dünne Zöpfe, die hinter den Ohren zu einem »Körbchen« zusammengeflochten waren. Ich war noch klein und Lenka schon groß. Ihr Mund war wie eine feurige Höhle, umrandet von dicken Lippen, die immer ausgetrocknet und aufgesprungen waren und brannten.
Lenka war ebenfalls wie ein Fisch, sie atmete durch den Mund, sah aus wie eine Goldkarausche und schielte immer zur Goworowa hin, egal wo die sich befand.
Bei meinem überschwänglichen Gefühl für die Goworowa beherrschte mich nur der eine Wunsch: dass sie sich in der Aula im dritten Stock ans Klavier setzt und das »Schneeglöckchen« spielt. Ich war ganz verrückt nach Tschaikowski, nach diesem »Schneeglöckchen«, außerdem gefiel mir noch »Auf der Troika«, ebenfalls aus den Jahreszeiten. Die Goworowa flog mit ihren molligen, nicht sehr langen Fingern über die Tasten, und ich stand bei ihr, angespannt wie ein Jagdhund, und stierte auf das Notenblatt. Noten waren für mich damals ein Buch mit sieben Siegeln, aber auf der Seite daneben stand noch ein Text, den konnte ich lesen, und ich fing zu singen an: »Blaues reines Glöckchen im Schnee .«, weil ich dachte, das seien die Worte zum Lied, aber die Goworowa unterbrach mich schroff, nein, diese Worte gehören nicht zur Musik. Doch ich entgegnete: »Guck doch mal richtig hin!«, und sang weiter. Aber die Goworowa verzog ihr sonst so ruhiges Gesicht und hörte auf zu spielen. Was dann kam, war eine Tortur für mich. Ich musste hilflos zusehen, wie sie in aller Ruhe den Deckel zuklappte, aufstand, den einen Zopf hinter die eine Schulter warf und den anderen hinter die andere, dann mit der molligen Hand ihren Rücken anfasste, um nachzufühlen, ob das Kleid hinten richtig sitzt (das war auch so eine Angewohnheit von ihr), und mit ihren Noten wegging.
Mein Plan, dieses »Schneeglöckchen« zu singen, hing nun voll und ganz von dem Wort »Probe« ab. In der Schule war, wie immer zum Jahresende, ein Konzert der Schüler geplant, die Goworowa sollte als beste Pianistin auf dem Klavier spielen. Und ich sollte singen. Der ganze Witz bestand darin, dass mein Gesang im selben Abschnitt war wie ihre Klavierbegleitung. Aus diesem Grund hatte ich das Recht, in derselben Zeit wie sie zu proben, und ich schleppte die Goworowa nach oben, in die Aula, zum Klavier.
Meine Freundin Natascha Korowina und die anderen Mädchen aus der Sportgruppe traten mit einer Pyramidennummer auf. Die einen kletterten über Knie und Schultern der unten Stehenden nach oben und bildeten einen Turm, und dieses ganze Gewirr von Armen und Beinen erstarrte für einen Augenblick in einer schief stehenden Apotheose. Larissa Morewa rezitierte mit großem Pathos Gogols »Kennen Sie die ukrainische Nacht«, und ich sagte in französischer Sprache La Fontaines Fabel »Rabe und Fuchs« auf. Und dann sangen wir noch im Chor, aber völlig durcheinander, die Marseillaise, ebenfalls auf Französisch. (»Es singt die ganze Klasse!«, verkündete Larissa, unser Conférencier, wieder in ihrem pathetischen Singsang. Sie war Mitglied des Zirkels Künstlerisches Lesen im Pionierpalast, und ich verachtete sie für diese theatralische Manier.)
Wegen dieser Vorführung kenne ich die beiden französischen Texte bis heute auswendig. Und einmal konnte ich deshalb zu meiner eigenen Überraschung eine Zeile aus Puschkins geheimem Tagebuch entziffern. Das war allerdings viel später, als ich im Schriftstellerheim von Koktebel auf der Krim lebte. Puschkin hatte diese eine Zeile in Französisch geschrieben, und ein Wort verstand ich, weil ich es aus meiner Kindheit kannte.
Aber in dieser früheren Zeit war ich ganz verrückt nach Tschaikowski. Wahrscheinlich weil er für mich unerreichbar war. Ich hatte keine Musikstunden, und bei uns zu Hause stand kein Klavier. Wo hätte es auch stehen sollen? Meine Mutter und ich besaßen nur eine Matratze. Aber hartnäckig bestand ich darauf, das »Schneeglöckchen« mit den Worten zu singen, die im Heft standen.
Die Goworowa, ein praktisches Mädchen, die in der Zensurentabelle weit über mir stand (sie hatte nur Einsen und war außerdem die Tochter eines Mitarbeiters des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei und unsere Gruppenleiterin), reagierte auf meine Bitten ablehnend. Sie saß im Zentrum des Klassenraums neben einer anderen Bestschülerin, Milotschka, und die einzige, in der Mitte der Decke angebrachte Lampe beschien die beiden denkenden Köpfe, während ich ganz vorn am Lehrertisch saß, in der ersten Bank, wohl weil ich unter ständiger Kontrolle stehen sollte.
Ich wandte mich oft nach der Goworowa um und schaute sie wütend an. Ich schrieb ihr sogar Briefchen: »In der großen Pause proben wir, ja?« Sie aber beugte sich über ihr Heft und reagierte nicht.
Ich bekam nur Vieren in der Schule und machte niemals Hausaufgaben. In Mathe Vieren, in Geschichte Vieren.
Mama und ich konnten nachts manchmal nicht schlafen oder gingen zusammen raus auf die Straße, wenn Großvater besonders laut schrie.
In der Schule herrschte Sauberkeit, die gebohnerten roten Fußböden glänzten, auf den Fensterbrettern standen Blumentöpfe, die Mädchen trugen blütenweiße Schürzen. Aber zu Hause war alles anders. Ich schlief mit meiner Mutter unterm Tisch, in Gesellschaft blutrünstiger Wanzen, die, sobald wir eingeschlafen waren, in Heerscharen aus den Büchern hervorgekrochen kamen .
Aber wenn der Mensch ein Ziel hat, existiert alles andere für ihn nicht. Ich träumte von Tschaikowski. Die verfluchte Goworowa jedoch spielte nur dieses »Schneeglöckchen«, nicht einmal die »Troika« wollte sie einüben.
Unsere Lehrerin, die schöne Jelisaweta Georgijewna Orlowa, passte immer wachsam auf unsere Klasse auf, war zu allen streng. Mich aber drillte sie besonders, um mich irgendwie in den Griff zu kriegen. Ich saß ja direkt vor ihrer Nase. Wenn alle schrieben, musste auch ich mich über mein Heft beugen, und dachte ich an etwas anderes, lenkte Jelisaweta Georgijewna meine Aufmerksamkeit sofort wieder auf das Schreiben.
Ich liebte sie hingebungsvoll. Ich vergötterte sie geradezu. Manchmal träumte ich davon, dass sie uns verlassen würde, wenn wir die vierte Klasse beendet hätten. Ich wachte tränenüberströmt auf.
Mir scheint, dass auch sie mich auf ihre Weise liebte, es aber nie zeigte.
Es kommt vor, dass strenge Lehrer in der Seele eines Kindes eine tiefere Spur hinterlassen als weichherzige.
Im Dezember häuften sich die Proben. Unsere Lehrerin fragte mich, die Vorsängerin im Klassenchor, was ich singen wolle. Ich nannte ihr das patriotische Lied »Die Heimat hört«, obwohl ich eigentlich »Schneeglöckchen« sagen wollte.
»Die Heimat hört . Die Heimat sieht . Wie in den Wolken ihr Sohn vorüberfliegt.«, flötete ich bei den Proben.
Nach dem Unterricht ging ich nicht nach Hause in die Tschechow-Straße, sondern in die Stoleschnikow-Gasse, wo Mama nach mehreren schlaflosen Nächten (Großvater hatte seine Tobsuchtsanfälle) bei einem angeblich respektablen und nüchternen Herrenschneider ein Bett mietete.
Er hatte eine eigene Küche und ein Zimmer mit einem riesigen bunten Fenster, das über die ganze Wand ging.
Offenbar war dieses Zimmer früher einmal, vor der Revolution, das Atelier eines Malers gewesen. Das rechnete ich mir später aus, als ich nach vielen Jahren einmal an diesem verfluchten Ort vorüberging.
Der Schneider schlief mit seiner Frau und seinem Sohn in einem großen Bett, direkt gegenüber vom Fenster, in einem kleinen Kinderbett rechts vom Fenster in der Nähe der Tür schlief die Tochter des Schneiders, die ein Trachom hatte, eine ansteckende Augenkrankheit, ihre Augenlider waren vereitert und sahen aus wie durch den Wolf gedreht. Deshalb hatten sie für das Kind ein eigenes Bettchen angeschafft.
Mama und ich schliefen in einem engen Bett an der Wand dem Mädchen gegenüber, mit den Füßen zur Familie des Schneiders. Alles, was dort vor sich ging, konnte ich beobachten. Die Frau des Schneiders jammerte manchmal am Morgen und zog aus ihren Unterhosen irgendwelche blutigen Lappen hervor. Zu ihr kam oft eine gewisse Lidka, eine alte Prostituierte aus der Nachbarschaft, eine kleine, vertrocknete Säuferin. Immer wenn ich in der Küche erschien, sagte sie aus irgendeinem Grund hinter vorgehaltener Hand »Vierzehntausend« - Lidka und die Schneidersfrau flüsterten sich etwas hinter dem trüben, wunderschönen Glasfenster zu, auf dem die bunten Ornamente aus vorrevolutionärer Zeit leuchteten. Die beiden versteckten irgendwelche Pakete, sie führten ein geheimes Leben....
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