Schweitzer Fachinformationen
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Die Details schieben sich vor unseren Abschied: Das Blau von Giorgias Augenringen, die sichtbaren und unsichtbaren Präsenzen, die uns belagerten, ihr Duft - noch immer hängt etwas davon zu Hause in den Kissenbezügen, in den Kleidern, die sie zuletzt getragen hat, er hält sich hartnäckig, trotz der vier Monate, die seither vergangen sind. Jetzt riecht Giorgia anders, vielleicht wegen der Medikamente, vielleicht wegen der Desinfektionsmittel, mit denen die Laken in der Klinik imprägniert sind. Ich kann nicht aufhören, an ihren neuen Geruch zu denken, während ich von Mailand zu der inmitten von Reisfeldern begrabenen Anstalt fahre.
Die Lomellina steht wie eine lange Bank im Wasser, Eschen spiegeln sich kräuselnd in den Pfützen, und blasse aufgeblähte Wolken am Horizont drohen ein neues Gewitter an. Der Fiat Panda stößt Klagelaute aus, aber ich mache mir deswegen keine Sorgen. Seit ungefähr einem Monat macht mir gar nichts mehr Sorgen. So unausweichlich durchgetaktet ist jede Woche: Arbeit, Zuhause, Klinik, Zuhause, Arbeit. Eine perverse Abfolge, aber jetzt geht es schon besser als am Anfang. Ich habe die Panik nicht vergessen: Im Vergleich dazu ist die neuerdings eingetretene Schmerzunempfindlichkeit geradezu heilsam. Bei Giorgia war es genauso. Anfangs ließen die psychotischen Anfälle sie zertrümmert, wie in Stücke gerissen und nur schlecht wieder zusammengeflickt im Klinikbett zurück. Als die Medikamente zu wirken begannen, verfestigte sich das Krankheitsbild: ein anhaltender katatonischer Zustand.
In der ersten Zeit hegte ich noch die Hoffnung, dass Giorgia mit der richtigen Behandlung wieder ins Leben zurückkehren würde. Nachdem man sie in die Heilanstalt Anastasio verlegt hatte, musste ich der Wirklichkeit ins Auge sehen. Die Medikamente können zwischen Monströsem und Kostbarem nicht unterscheiden, sie schläfern zwar das Monster ein, reißen dabei aber alles andere gleich mit nieder, einschließlich Giorgia selbst: Alles ist vorbei, niedergemäht, sie erinnert sich weder an mich noch daran, wer sie ist, noch an sonst irgendetwas.
Es gibt seltene Momente der Klarheit, in denen ich weiß, dass diese Situation unerträglich ist. Das betonen auch meine Freunde, meine Eltern, aber niemand von ihnen kommt abends mit mir nach Hause. Niemand von ihnen ist gezwungen, auf Giorgias Fingerabdrücke auf den Schranktüren im Bad zu starren, auf das Make-up, das Giorgia hasste und trotzdem immer auflegte, und niemand von ihnen kann sich an das Gefühl erinnern, zuzusehen, wie sie ihre Haare wie Ringe um ihre Finger wickelt.
Der Klinikparkplatz ist fast leer, und der Panda schleppt sich dahin, bis er neben der Hecke steht. Ich fühle mich genau wie er, wir sind die Erweiterungen des jeweils anderen, ramponiert, ungepflegt und nicht sonderlich sauber. Der Weg vom Hof zur Klinik und dann hoch bis zu Giorgias Zimmer ist schon vorgeschrieben, und statt sich zu ereignen, bewahrheitet er sich eher, wie eine Prophezeiung. Ich fühle mich wie jedes Mal, und zwar als wäre ich nicht ich selbst, sondern ein anderer, in einer entfremdeten Version der Ereignisse. Ich schaue mir dabei zu, wie ich die schwere Glastür aufstoße - auf dem großen Bild an der Wand wartet die heilige Dymphna mit Leidensmiene auf ihre Enthauptung. Zu Füßen der Heiligen begrüßt mich die freundliche Dame vom Sonntagsdienst mit einem Lächeln, aber auch heute fragt sie mich nicht, wie es mir geht.
Um mich zu akklimatisieren, nehme ich lieber die Treppe als den Aufzug. Der erste Stock ist immer recht nah, der nachfolgende Flur hingegen scheint unendlich lang. An seinem Ende geht ein Fenster ohne Griffe auf den Garten, genau wie das in Giorgias Zimmer. An ihren besten Tagen starrt sie die ganze Zeit in den Himmel.
Ich bin schon fast an der Tür, die weit geöffnet und mit einer Kette an der Wand befestigt ist, als ein fremder Klang, eine Stimme, mich überrascht. Sie gehört weder Giorgia - sie spricht nicht mehr - noch der Pflegerin. Es ist eine Männerstimme, aber ich habe Mühe, die Worte zu verstehen. Kurz denke ich, es wäre der Chefarzt, aber der Tonfall ist anders, leichter.
»Doch kann ich ihn nicht lieben. Er konnte längst sich den Bescheid erteilen.«
Giorgia liegt zusammengekauert auf der Seite, den Rücken der Tür zugewandt, und da sitzt jemand neben ihr, mit einem Buch in der Hand. Es ist nicht der Chefarzt. Ich erkenne Mauro. Er hebt sofort den Blick, und sein Gesicht öffnet sich zu einem großmütigen Lächeln.
»Filippo!«
Ich sehe, wie er das Buch auf die Fensterbank legt und mir entgegenkommt, meinen Arm drückt: die perfekte Darstellung eines alten Freundes, den man lange aus den Augen verloren hatte. Als wir uns das letzte Mal getroffen haben, war Giorgia noch im Krankenhaus. Er war zu spät für die Besuchszeit und hielt sich nicht lange auf: gerade lang genug, um einen Blick auf sie zu werfen.
»Wie schön, du bist auch da«, Mauro lässt meinen Arm nicht los. »Ich war gerade dabei, Giorgia etwas vorzulesen, hast du was dagegen?«
»Nein, gar nicht.«
»Nimm du den Stuhl, ich stehe.«
»Wir können die Pflegerin bitten, einen .«
»Nein, nein, ich sitze sowieso schon zu lange.«
Um irgendetwas zu tun, um mich aus der Verlegenheit dieser unvorhergesehenen Begegnung zu befreien, laufe ich um Giorgias Bett herum.
Ihre Augen sind offen und starr, die Augenlider glänzen etwas bläulich, ihr Gesicht ist ausdruckslos. Die leichte Furche zwischen ihren Augenbrauen ist verschwunden, ihre Stirn ein glattes, weißes Blatt Papier, als hätte jemand mit einer Handvoll Kalk darübergestrichen, um alles auszulöschen. Giorgia ist Giorgia, aber sie ist nicht Giorgia. Die dunklen Haare, bei der samstäglichen Dusche gewaschen, wachsen langsam nach - anfangs hat sie sie sich immer ausgerissen, deshalb mussten sie abgeschnitten werden. Sie liegt zusammengekrümmt auf der Seite, die Hände unter ihrer Wange eng aneinandergelegt. Heute ist augenscheinlich ein mittelmäßiger Tag, nicht gefährlich, aber auch nicht gut.
Ich gehe zu ihr und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn, in ihrem Geruch liegt ein wenig von all dem, was ich schon kenne, Seife, Medikamente, oft getragener Schlafanzug; dann setze ich mich und schaue sie an. Normalerweise erzähle ich ihr von meinem Tag, von irgendetwas Interessantem, was diese Woche passiert ist, irgendwelchen Absurditäten der Kunden und, nur ab und zu, wie ich mich fühle. Ich passe gut auf, dass ich nichts sage, was sie verstören könnte, denn, das sage ich mir immer wieder, ich weiß ja nicht, was hinter jener Mauer vor sich geht. Vielleicht weint Giorgia dort drinnen, oder sie ist glücklich. Vielleicht ist es nur eine Frage der Tiefe.
Mauro blickt mich fragend an, ob er weitermachen dürfe, ich nicke. Er fängt wieder an zu lesen, und ich verstehe es nicht. Seine Anwesenheit hier ist unerwartet, und doch benimmt er sich, als wäre alles ganz normal. Mir kommen wieder Bruchstücke jener Nacht in den Sinn: seine Finger, wie sie Giorgias Knöchel umfassen, um sie daran zu hindern, weiter um sich zu treten, dann, wie seine Augen ihren Mund anstarren, der in einem endlosen Schrei aufgerissen ist. Ich räume mein Gedächtnis leer, indem ich mich energisch auf seine Stimme konzentriere, die langsam dahingleitet. Ich wiederhole seine Worte innerlich, eins nach dem anderen, bis alles verschwindet und die Muskeln sich lösen. Nach einer Weile wird das Gemurmel zu einem tröstenden Klang, es legt sich auf alles, auf die Laken und meine Beine, fließt wie Regenwasser hinunter auf den Fußboden. Vielleicht ist es die Müdigkeit, vielleicht das Gefühl, nicht allein zu sein - heimlich erfasst mich eine Art Entspannung und lässt mich in den Schlaf sinken.
Im Traum sitzt Giorgia am Fenster, beschienen von Sommersonne. Sie redet gerade, aber ihre Stimme ist nicht zu hören, ich sehe, wie sich ihre Lippen bewegen, wie sie maßvoll gestikuliert, ein weißes Knie vor die Brust gezogen. Jetzt weiß ich, dass sie mir von dem Stück erzählt, deshalb der glühende Blick, die vor übermenschlicher Anspannung funkelnden Augen. Es ist kein Traum. Es ist eine Erinnerung, die sich wieder auflöst. Ich wache plötzlich auf und werde in das blasse Bühnenbild der Klinik zurückgeworfen. Das Licht draußen ist bleiern. Auch Giorgia schläft. Die ganze Demütigung, eingeschlafen zu sein, erfasst mich: Die Wanduhr zeigt sechs Uhr abends an, es ist fast schon Zeit zu gehen. Von Mauro keine Spur. Ich verbringe die letzte halbe Stunde damit, Giorgia schweigend anzusehen, bis mich die Pflegerin auf dem Bett sitzend überrascht, wie ich an ihrem Gesicht vorüberstreiche, ohne es je zu berühren.
»Es tut mir leid, aber die Besuchszeit ist jetzt zu Ende.«
Ich bedanke mich und verabschiede mich von Giorgia auf unsere neue Art: ohne ein Wort zu sagen. Draußen vor dem Zimmer hat sich der Zweck dieses Tages erschöpft, und mir bleiben nur wenige Stunden für die Dinge des Überlebens, ein schneller Einkauf im Supermarkt - nie in dem, wo sie gearbeitet hat -, die Entscheidung für einen Film, unter dem ich den Abend begraben kann. Daran denke ich, als ich nach der Verabschiedung von der Frau am Empfang hinter der Glastür Mauro erkenne. Er hat mir den Rücken zugewandt und raucht, der weiße Rauchfaden steigt von der Zigarette nach oben auf, es sieht aus, als stünde sein Kopf kurz vor der Selbstentzündung. Unser Aufeinandertreffen ist unvermeidlich.
»Ah, da bist du ja«, meint er, kaum trete ich durch die Tür. »Ich habe auf dich gewartet.«
Er hat das Buch unter dem Arm und wirkt jetzt weniger zufrieden...
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