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Es muss Mitte der 1980er Jahre gewesen sein, als ich eines Tages die breite Treppe in einem schummrigen römischen Stadtpalais aus dem siebzehnten Jahrhundert - dem Palazzo Naro an der Piazza Campo Marzio, Hausnummer 3, unweit des Pantheon - hinaufstieg. Etwa achtzig Stufen und weitere zweiundzwanzig über zwei schmalere Treppenabsätze, um zur Atelierwohnung von Natalia Ginzburg zu gelangen. Ich hatte mit meinen dreißig Jahren bisher noch nicht allzu viel zuwege gebracht, während sie in diesem Alter bereits Mutter von drei Kindern war, mehrere Erzählungen, ein wunderschönes Gedicht sowie einen Roman veröffentlicht und außerdem Vercors' Das Schweigen des Meeres und Prousts Unterwegs zu Swann übersetzt hatte. Oben angekommen, überraschte mich ein Namensschild aus Messing an der Tür, auf dem in einer einzigen Zeile Gabriele und Natalia Baldini stand. Gabriele Baldini war ihr zweiter, 1969 verstorbener Ehemann gewesen; er hatte englische Literatur an derselben Universität in Rom gelehrt, an der ich studiert hatte. Doch in den Köpfen der meisten, so auch in meinem, war Natalia auf ewig die Witwe Leone Ginzburgs: eines Pater Patriae, einer großen Seele, wie ich seinerzeit gesagt hätte, als ich, nach einem Abstecher in die Vagabunden-Flowerpower-Welt der Hippies, gerade Yoga praktizierte und mich intensiv mit Gandhi beschäftigte. Leone Ginzburg war - neben Giulio Einaudi - der Gründer und »Kopf« eines Verlages gewesen, der meine Generation nicht minder geprägt hatte als die der Nachkriegsjahre; und das erschien mir fast noch wichtiger als die Tatsache, dass er sein Leben geopfert hatte, um die Welt zu verändern. Ich konnte bei Einaudi in Raten zahlen, und erstand meine Bücher peu à peu bei einem Verkäufer, der kaum älter war als ich und zu mir nach Hause kam. Gemeinsam blätterten wir den weißen Band mit den Neuerscheinungen durch und diskutierten die zahllosen großartigen Angebote. Meine Interessen waren grenzenlos und reichten von Literatur bis Anthropologie, von Poesie bis Folklore, von Magie bis Religionsgeschichte, von Märchen bis Psychologie, und dieser Katalog war eine nahezu unerschöpfliche Quelle für meinen Wissensdurst. Allein schon die Titel durchzugehen, ließ mein Herz höherschlagen, und ich gierte förmlich danach, jeden einzelnen dieser Texte zu besitzen.
Vor jenem Türschild, das mir eine Natalia Baldini präsentierte, die es hinnahm, hinter dem Namen des Ehemannes zu stehen, eine plötzlich ganz und gar gewöhnliche und häusliche Natalia, geriet ich, glaube ich, leicht ins Schwanken. Nicht nur, weil dies meinem leidenschaftlichen Feminismus zuwiderlief, sondern weil es sich nicht mit dem Bild deckte, das ich, ja das jeder von ihr hatte. Sie war die personifizierte Geschichte, denn sie war von Anfang an dabei gewesen, als ihr Mann Leone gemeinsam mit Cesare Pavese und Giulio Einaudi - während des Faschismus und ihm trotzend - besagten Verlag zu etwas Großem und Einzigartigem gemacht hatte.
Im Lauf der Zeit war sie »die Ginzburg« geworden, die Autorin des legendären Familienlexikons. Sie verkörperte die verlegerische Macht, die jedem anderen weiblichen Wesen verwehrt blieb. Sie war eine ungewöhnliche und dennoch erfolgreiche Bühnenautorin, schrieb als kämpferische Kolumnistin für große italienische Zeitungen, und ihre Positionen verwirrten, verblüfften und fesselten uns. Wie der Freibeuter Pasolini verstand sie es, die rebellischen Seelen der Post-Achtundsechziger in Aufruhr zu versetzen. Sie war eine ernste und traurige Frau, die selten lachte und sich im Stil einer Nonne kleidete - stets dunkel, mit flachen Männerschuhen. Ihre kurzen Haare, die sie niemals zurechtmachte, sahen aus, als hätte sie selbst zur Schere gegriffen, ohne sich auch nur einen Deut um das Ergebnis zu kümmern. Nicht der Hauch eines Make-ups, keine Wimperntusche, kein Puder, kein Lippenstift, nichts. Eine Laienschwester. Sie flößte den Leuten Ehrfurcht ein durch das, was sie repräsentierte, was sie war. Ich selbst war siebzehn, als einer ihrer Artikel in La Stampa (6. April 1969) mich dazu inspirierte, Hundert Jahre Einsamkeit zu lesen, und mir vor Augen führte, dass es weiterhin möglich war, auf verständliche Art zu schreiben, obgleich die Neoavantgarde die Kunst und den Roman für tot erklärt hatte. »Der Roman ist eines der Dinge auf der Welt, die nutzlos und notwendig zugleich sind«, hatte sie in ihrem Artikel über García Márquez postuliert; ihr Ton war immer ziemlich resolut, wenn sie für Zeitungen schrieb. Offenbar war es demnach nicht zwingend notwendig, sämtliche Texte zu zerpflücken, sie ihrer Struktur zu berauben, Erwartungen zu enttäuschen, den Zauber einer Erzählung fortwährend zu brechen, und man brauchte wohl auch nicht auf die Leser zu pissen, wie während der Aufführung eines Theaterstücks von Carmelo Bene geschehen: Ein Schauspieler hatte im wahrsten Sinn des Wortes auf das Publikum gepisst, das bezichtigt wurde, bürgerlich zu sein.
Sie hatte mich zu sich bestellt, um mit mir über ein Manuskript zu sprechen, das ich ihr zu lesen gegeben hatte, einen chaotischen Romanentwurf: das Porträt einer Frau, die völlig anders war als sie. Im Kern der Geschichte ging es um die Entscheidung zwischen dem Sturm des erotisch-sentimentalen Verlangens und dem Schreiben, das jedoch als Ausschweifung und Zügellosigkeit empfunden wurde. Angesiedelt war die Handlung vermittels der Figur einer unsterblichen Circe - ein wenig Zigeunerin, ein wenig Hippie, homerische Circe und zeitgenössische Verführerin zugleich - in einem metahistorischen Universum. Ich könnte heute nicht mehr sagen, warum ich gerade ihr diesen Stapel Blätter zur Begutachtung gegeben hatte; vermutlich setzte ich auf die im Grunde völlig belanglose Tatsache, dass sie eine Frau war. Ich wusste nicht, wie sehr es ihr widerstrebte, sich in der Zerbrechlichkeit, in der Verwirrung einer Frau zu spiegeln.
Schließlich öffnete sich die Tür, und sie selbst stand vor mir, in einem grauen Faltenrock und einer ausgeleierten blauen Strickjacke, mager, etwas größer als ich. Sie bat mich ins Wohnzimmer und ließ mich auf einem blauen Sessel neben dem Sofa Platz nehmen. Dann machte sie es sich in der Sofaecke bequem und legte den Arm auf die Lehne. Um mich anzusehen, musste sie den Kopf mit den kurzen, von ersten grauen Strähnen durchzogenen Haaren ein wenig drehen. Auf einem kleinen Tischchen vor ihr lag mein Manuskript. Ich erkannte die himmelblaue Mappe, in der ich die losen Seiten gesammelt hatte. Ihre kohlschwarzen Augen sahen mich prüfend an, sie waren scharf und durchdringend, »dunkle, forschende Mädchenaugen«, wie Cesare Garboli, der große Freund ihres Erwachsenenlebens, sie im Vorwort zu dem Erzählband Mai devi domandarmi (»Nie sollst du mich befragen«) beschrieb.
»Ich für meinen Teil habe dieses Buch nicht verstanden«, sagte sie. »Da ich es nicht verstanden habe, gefällt es mir nicht. Aber da ich es nicht verstanden habe, kann ich kein Urteil darüber abgeben.« Sie nahm die Mappe vom Tischchen und reichte sie mir zurück. Weiß der Himmel, was ich als Antwort hervorstotterte. Ich spürte, dass sie nichts einfach so dahinsagte, der Konventionen halber oder dergleichen. Sie war erschreckend ehrlich. Und das machte das Ganze noch schlimmer und bitterer für mich. Ich erinnere mich noch verworren an das Gefühl, es sei an mir, sie darüber hinwegzutrösten, dass sie mich hatte verletzen müssen, obwohl sie mich irgendwie mochte. Ab und an drangen aus der oberen Etage, in die man über eine Holztreppe im hinteren Teil des Zimmers gelangte - eine kurze Treppe, auf die einer dieser Sitzlifte für Behinderte montiert war -, seltsame Rufe herunter, die der Situation etwas Surreales verliehen. Vor meinem inneren Auge tauchte, warum auch immer, das Bild eines Vogels in einem Käfig auf. Bisweilen wuchsen sich diese Rufe zu richtigen Schreien aus. Natalia zeigte nicht die geringste Regung, noch fühlte sie sich zu einer Erklärung bemüßigt. Stattdessen ließ sie ihren intensiven Blick weiter auf mir ruhen, voller Neugierde und, ja, Zuneigung, vielleicht wegen meiner Jugend, oder auch wegen jenes Quäntchens an Unergründlichem und nicht Greifbarem, das sie in mir, der angehenden Schriftstellerin wahrnahm. Im Nachhinein kommt es mir vor, als wäre durch mich tief in ihrem Inneren ein Geist der Vergangenheit wiedererwacht; vielleicht erinnerte ich sie an etwas oder an jemanden, und das äußerte sich in einem unterschwelligen Sadismus, einer Art heimlichen Befriedigung, meine Träume zunichtegemacht zu haben. Zutiefst verletzt von dieser gnadenlosen Härte brach ich nach meinem Besuch draußen erst einmal schluchzend auf der Treppe zusammen.
Umso verblüffter war ich einige Zeit später, als ich ein paar Zeilen von Natalia erhielt, geschrieben auf dem Briefpapier der Abgeordnetenkammer (sie saß seit 1983 im Parlament). Diesmal gibt es, dank des Poststempels auf dem Umschlag, ein genaues Datum: den 7. März 1987. Sie hatte sich tatsächlich die Mühe gemacht, mir in großer, ungelenker Schrift mit warmherzigen Worten ihr Lob für eine meiner Erzählungen auszusprechen, die wenige Tage zuvor im Corriere della Sera erschienen war. Diese Erzählung, schrieb sie, habe ihr sehr gefallen, so sehr, dass sie sie ausgeschnitten habe, um sie aufzuheben.
Selbstverständlich habe ich ihren Brief ebenfalls aufgehoben. Und nun, wo ich über sie schreiben will, liegt er hier vor mir, zusammen mit einer leicht unscharfen Fotografie von ihr aus jungen Jahren, die mir Oreste Molina, unvergleichlicher technischer Direktor bei Einaudi seit der Nachkriegszeit, geschenkt hat. Er selbst hat die Aufnahme um 1947 gemacht: Natalia mit dreißig,...
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