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Als «Der ewige Brunnen» 1955 das erste Mal erschien, fand er umgehend Beachtung und weite Verbreitung. Dabei hatte der Herausgeber Ludwig Reiners auf eine viel ältere Idee zurückgegriffen. Der erste Impuls stammte von Goethe, und aus ihm ergab und ergibt sich bis heute die besondere Anordnung der weit über 1000 Gedichte. Denn im Unterschied zu anderen großen lyrischen Sammlungen wird hier nicht chronologisch geordnet, also eine Geschichte der deutschsprachigen Lyrik abgebildet. «Der ewige Brunnen» stellt Gedichte vielmehr so zusammen, dass sie Lebenssituationen erfassen, auf Herausforderungen reagieren, Erfahrungen in Bilder und Klänge übersetzen. Hier werden Legenden erzählt, sind Schmerz und Freude hörbar, sollen die Leserinnen und Leser getröstet, aber auch verunsichert werden. Die menschlichen Lebensphasen von der Kindheit bis ins hohe Alter kommen vor, und insgesamt dient die Sammlung dem besseren Verstehen und reicheren Empfinden jener Zusammenhänge, in denen wir uns bewegen. Auch in digitalen Zeiten kann der «Brunnen» durch die Auswahl aus den unzähligen Gedichten und die besondere thematische Anordnung diese Aufgabe erfüllen.
Aber noch einmal zurück zu den Anfängen: Goethe erhielt im August 1808 eine Anfrage von Friedrich Immanuel Niethammer, den er aus Jena kannte. Dieser schlug ihm die Herausgabe eines lyrischen vor. Goethe antwortete, dass er einen ähnlichen Plan schon länger in Gedanken verfolge. Daraufhin legte er eine Reihe von Notizen an: Die aufzunehmenden Gedichte sollen vielfältig sein. Ganz einfache Verse mit Alltagsbegebenheiten können neben dem Hohen und Ideellen stehen. Es müsse um Sitten und Tugenden gehen, aber auch naive Scherze und Derbheiten fänden ihren Platz. Finge man mit einer Ode an Gott an, könnte man mit Studenten- und Handwerksliedern fortfahren und mit einem Spottgedicht enden. Alle lyrischen Formen dürfen vertreten sein, der alte deutsche Knittelvers, aber genauso die ursprünglich romanischen Formen wie Sonette und Terzinen.
Ebenso sprach Goethe schon von Rubriken, nach denen zu ordnen wäre: Gedichte über Gott, Unsterblichkeit, höhere Sehnsucht und Liebe kämen zuerst, es folgten Sittlichkeit, Anhänglichkeit an Familie und Vaterland, schließlich Mythen, Fabeln und Legenden. Dabei sollten die Gedichte nie einfach Lehren vermitteln, sondern das Gefühl und Gemüt bewegen. So könnten sie auch auf den Charakter der Leser wirken - hier nimmt Goethe eine Bildungsidee seines Briefpartners Niethammer auf.
Mit dem «Ewigen Brunnen» wurde dieser Plan, den Goethe selbst nicht umsetzte, 150 Jahre später realisiert. Im Untertitel hieß er zuerst «Ein Volksbuch deutscher Dichtung», später wurde daraus die schöne Formulierung «Hausbuch». In der Neuausgabe haben wir auf sie verzichtet, denn in der Gegenwart wird zu oft umgezogen, bleibt der «Brunnen» daher seltener in einem Haus stehen, um dort der nächsten Generation zu dienen. Stattdessen wird er von Wohnung zu Wohnung mitgenommen, ist also eher als Lebensbegleiter gedacht. Doch wie in früheren Zeiten soll er bereitstehen, wenn man Ermutigung oder Trost braucht, ein Gedicht zu einem bestimmten Anlass benötigt, wenn man zu einer eigenen Naturerfahrung einen lyrischen Ausdruck sucht oder sich etwas zum Lachen gönnen möchte. Damit sind schon einige Rubriken dieser Neuausgabe benannt. Als es an den Plan dafür ging, hat sich im Verlag C.H.Beck eine kleine Arbeitsgruppe gebildet und überlegt, welche Lebenssituationen, Anlässe und Themen gegenwärtig relevant sein dürften. Dabei gibt es Gemeinsamkeiten mit der ersten Ausgabe, denn am Anfang stehen weiterhin die Lebensphasen von der Kindheit bis zum Alter, aber es finden sich auch neu aufgenommene oder veränderte Kapiteltitel wie «Aufbrüche, Umbrüche», «Glaube und Zweifel» oder «Krieg, Flucht, Vernichtung». So kann der neue «Ewige Brunnen» auch für Leserinnen und Leser interessant sein, die schon eine ältere Auflage besitzen.
Natürlich hat sich auch die Gedichtauswahl verändert. Mehr als 500 Gedichte des bisherigen Bestands wurden ausgetauscht. Das ist kein Votum gegen die Entscheidungen früherer Generationen, sondern folgt Veränderungen in der Lebensführung, im Denken und sicher auch im Gefühlshaushalt. Die Welt, aus der Ludwig Reiners (geb. 1896) und seine Lektorin Gertrud Grote stammten, war sozial, politisch und mental eine ganz andere als unsere. Daher hat schon Albert von Schirnding, der 2005 eine wichtige Überarbeitung vornahm, den ursprünglichen Gedichtbestand verändert. In seinem Vorwort zur Jubiläumsausgabe 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung spricht er von der gleichbleibenden Idee der Sammlung, die «möglichst immer griffbereit» sein sollte, um bei «den verschiedensten Gelegenheiten herangezogen» zu werden. Ebenso begründet er aber Streichungen und Neuaufnahmen von Gedichten.
Denn jeder Herausgeber ist von seiner Zeit und deren Vorlieben geprägt, und so war in Reiners' «Volksbuch» die Lyrik des 19. Jahrhunderts überreichlich vertreten. Auch Gedichte seiner Weggefährten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fanden sich in großer Zahl. Die Gedichtauswahl musste und muss aber in Richtung Gegenwart voranschreiten, und daher sind in dieser Neuausgabe die letzten Jahrzehnte mit vielen neuen Stimmen vorhanden, die direkte Gegenwartslyrik mit einigen. Signifikant höher ist die Zahl der Autorinnen, denn hier galt es, Ungleichgewichte einer männlich dominierten Literaturgeschichtsschreibung wenigstens ansatzweise auszugleichen. Auch ansonsten sollte dieser neue «Brunnen» vielfältiger ausfallen. Die kulturellen und religiösen Hintergründe der Gedichte liegen weiter auseinander, so sind jüdische Autoren, die auf Deutsch veröffentlicht haben, jetzt öfter zu lesen. Daher ist auch das Wort «deutsch» im Untertitel unserer Anthologie vor allem auf die Sprache zu beziehen. Paul Celan zum Beispiel, dessen «Todesfuge» im Kapitel «Krieg, Flucht, Vernichtung» steht, hat sich entschieden, auf Deutsch zu veröffentlichen. Er ist in Czernowitz, heute in der Ukraine, als Kind einer jüdischen Familie geboren. Seine Eltern wurden Opfer der Judenverfolgung, so dass er seine Gedichte in der Sprache der Täter schrieb.
Auch politisch hat sich die Neuausgabe verändert, denn Reiners besaß eine irritierende Unempfindlichkeit gegenüber Autoren, die sich zustimmend zum Nationalsozialismus verhalten hatten.[1] In diesem Bereich hat schon Albert von Schirnding Streichungen vorgenommen, die ich fortgeführt habe. Dabei konnte es allerdings nicht um eine vollständige politische Reinigung auf Kosten literarischer Qualität gehen. Agnes Miegel zum Beispiel, eine entschieden nationalsozialistische Autorin, ist weiterhin mit zwei eindrucksvollen und unpolitischen Balladen vertreten. Auch aus früheren Phasen darf nicht einfach das Fremde oder Irritierende gelöscht werden. Theodor Körners Gedicht «Lützows wilde Jagd» aus den Befreiungskriegen, das man kriegsbegeistert nennen kann, steht in der Nähe von Adelbert von Chamissos Porträt eines Invaliden aus eben diesen Kriegen. Beide Perspektiven hat es gegeben, beide sollen im kulturellen Gedächtnis des «Brunnens» aufbewahrt werden.
Eine leichtere und harmlosere Entscheidung betraf die Aufnahme von Lied- und Songtexten des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. «Der ewige Brunnen» sollte immer volkstümlich sein, schon Goethe hatte vom Vortrefflichen gesprochen, das zugleich populär sei. Also können Popsongs, die viele von uns im Kopf haben, einen Platz in der Anthologie einnehmen: von den Songs der Comedian Harmonists oder Marlene Dietrichs bis hin zu Udo Lindenberg oder Judith Holofernes mit ihrem «Denkmal». Lieder standen immer im Zentrum der Gattung Gedicht, und zwischen ernster Lyrik und vermeintlich nur unterhaltsamen Liedern sollte kein Graben aufgerissen werden.
Bei solchen Entscheidungen kommt man natürlich um individuelle Geschmacksurteile nicht herum. Welches Gedicht aus dem alten «Brunnen» ist für heutige Verhältnisse vielleicht zu bieder? Welches Liebesgedicht ist zu kitschig - wobei kitschige Töne ja nicht verboten sind? Welcher Humor zündet nicht mehr, oder wo wird in einer Weise über Frauen geredet, die heute schwer erträglich ist? Ich habe versucht, meine eigenen Vorlieben zurückzunehmen, habe erfahrene Gedichtleser um ihren Rat gefragt oder um Empfehlungen gebeten, habe andere Anthologien durchgesehen, aber vor allem noch einmal zahlreiche Gedichtausgaben von Autorinnen und Autoren aus allen Jahrhunderten wiedergelesen oder neu gelesen. Dabei sollten die Grenzen möglichst weit gehalten werden, damit ganz unterschiedliche Lesergruppen etwas finden, das ihrer Weltwahrnehmung oder ihren Stimmungen entspricht.
Die ältesten Gedichte stammen aus dem Mittelalter, das früheste...
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