Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
JETZT, IM DUNKELN, merkt man deutlich, daß die Motoren alt sind. Ich müßte brüllen, wenn ich mich jemandem verständlich machen wollte. Hin und wieder stottern sie kurz, drei, vier Schläge in einem anderen Takt, geringfügig leiser. Die Lautstärke ist aber zweitrangig. Ein Geräusch, das lange genug anhält und einem primitiven Rhythmus folgt, erzeugt Stille. Umgekehrt: Im schalldichten Raum kann man vom Rascheln des eigenen Hemds erschreckt werden, und der Schrecken läßt die Brust nur zögernd wieder los. Leichter Fahrtwind.
Die brennende Zigarette zwischen den Lippen, gäbe ich ein gutes Ziel ab.
Vereinzelt dringen Bruchstücke amerikanischer Schlager durch die Schwingtüren. In deren Scheiben sind sonderbare Ornamente geschliffen. Kordeln, Schrauben, Anker, exotische Blüten und Blattranken schlingen sich durch überliefertes Strahlengeflecht. Wenn dem Ganzen ein System zugrunde liegt, ist es nicht durchschaubar. Zu Hause nannten wir alle Passagierschiffe Dampfer. Weiter über die Reling gebeugt, würde ich das Gleichgewicht verlieren, bestünde zumindest die Gefahr. Bis zum Anlegen bliebe mein Verschwinden unbemerkt. Es sei denn, Livia fiele plötzlich ein, daß sie mir dringend etwas zu sagen hat. Damit rechne ich nicht.
Schwarz und dickflüssig ist der Bosporus inzwischen. Auf die Bewegung des Schiffs reagiert er zögernd. Vielleicht scheint es auch nur so, weil man die Wellen nicht gegen den Rumpf schlagen, weil man sie überhaupt nicht hört. Als glitten wir über einen Ölsee. Heute früh schimmerte das Wasser blau wie verkratzter Stahl, und in den Kratzern brach sich die Sonne. Letzte Wolken zogen Richtung Westen davon. Sie sahen nach Zierat aus, nicht nach Regen.
Kein Mond. Er geht erst gegen Mitternacht auf, wandert bis in den späten Morgen und fällt dann auseinander. Die Besatzung nicht mitgerechnet, befinden sich vielleicht dreißig Leute an Bord. Dafür schalten sie die Lampionketten gar nicht erst ein.
Wieder Schmerzen. Im Moment etwas stärker, nicht sehr. Es kann der Magen sein, Galle, Darm, Leber. Seit wir hier sind, haben sie zugenommen, aber die Angst ist weggegangen.
Die Spiegelungen der Uferlaternen werden in schmale gelbe Streifen geschnitten. Unter den vergilbten Photos, auf denen man früher sehen konnte, wie Schwimmwesten angezogen werden, schläft Professor Nager einen leichten Nachmittagsrausch aus. Er ist Mitte Vierzig und ein mäßig berühmter Bildhauer. Im Schein der Neonröhren wirkt sein Gesicht, als gehöre es einer ungeschminkten Leiche. Unverkennbar, daß der Tote stark getrunken hat. Stellenweise sprengt Rost die Farbe von den Planken. Die Holzbänke sind abgescheuert und mit vermischten Meldungen aus den letzten Jahrzehnten übersät. Türkisches mit Ausrufezeichen. Ein Phallus, aus dem es spritzt. »Fuck the U.S.«, »John was here, 3.7.71«. Herzchen sind selten. Miller hieß auch John, genaugenommen Jonathan, aber Ireen nannte ihn John. Ich weiß nicht, wann er zum ersten Mal in Istanbul gewesen ist, bezweifle aber, daß er seinen Namen in eine Bank geritzt hätte. Ich denke eine Weile an diesen John, damit seine Gravur nicht umsonst war.
Sommer '71 hat Vater das reetgedeckte Ferienhaus bei Marienhafe gekauft, ich sammelte Krabben und Seesterne, die in den Plastikschüsseln binnen weniger Stunden krepierten. Xaver blieb sitzen, Mutter weinte oft, aber nicht deswegen. Claes versuchte sein Meerschweinchen Charlotte zu operieren.
Der Schmerz zieht sich hin, dumpf, ohne Höhepunkte, er gehört jemand anderem. Als hätte eine Schlupfwespe ihr Ei injiziert. Das kann vor Jahren gewesen sein. Die Larve fand reichlich Nahrung. Ein praller, Schleim absondernder Wurm arbeitete sich vorsichtig und mit instinktiver Kenntnis der menschlichen Anatomie um die lebenswichtigen Organe herum. Ich durfte nicht sterben, ehe die Verpuppung eingeleitet war. Jetzt, gegen Ende, häufen sich Anzeichen: Schweißausbrüche, rasender Puls. Die Straßenhunde wittern etwas und machen mit eingezogenem Schwanz einen weiten Bogen. Nachts flüchtet der Schlaf, ich liege auf dem Rücken, kann das Pochen des fremden Blutes deutlich vom eigenen Herzschlag unterscheiden. Die Klimaanlage surrt gleichförmig, kein kurzes Gurgeln oder Blubbern, nicht einmal das Flattern eines Taus im Luftschacht. Und neben mir Livia, deren Atem eine Spur zu hastig scheint.
Nager und ich sind die einzigen hier draußen. Seinen Mädchen war kalt, sie haben sich unter Deck zurückgezogen. Livia ebenfalls. Die Jungs folgten mit etwas Abstand. Einer nach dem anderen, damit es nicht aussah, als würden sie ihnen nachlaufen. Jan zuerst, er sitzt bei ihr, darauf würde ich wetten. Livia redet und knipst. Ich frage mich, was sie an ihm findet. Ich frage mich, was sie an mir gefunden hat. Wenig später Hagen und Scherf, angeblich um Bier zu holen. Das war vor einer halben Stunde, bis zur Theke sind es keine zwanzig Meter. Fritz fror plötzlich auch. Niemand schläft gerne allein. Olaf Rademacher nuschelte: ». was zeichnen.« - Er ist der einzige, dem ich glaube, daß es kein Vorwand war. Seine Nasenflügel zuckten, als müsse er Witterung aufnehmen. Er hockt jetzt abseits und setzt Würfel auf Rechenpapier.
Livia wollte nach Istanbul, obwohl oder weil sie von der Stadt tausend Klischees im Kopf hatte. Mittlerweile hat sie beschlossen, diese Kunststudenten zu photographieren, die genausowenig wissen, weshalb sie hier sind, wie wir. Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgendein Magazin daran Interesse zeigt, aber das ist ihre Sache.
Am Ostufer, hinter den Sommerresidenzen der Kalifen, Wesire, Generäle, schießen sie Feuerwerkskörper hoch. Der Himmel gibt sich Mühe, festlich zu erscheinen. Als unsere Firma abbrannte, einschließlich aller Lastwagen, Bagger, Kräne, Raupen, 1978, war ich zwölf, vier Wochen später kam ein Telegramm aus Buenos Aires. Vater schrieb, wir bräuchten uns keine Gedanken zu machen, er habe für alles gesorgt, wolle jedoch nicht ins Detail gehen. Onkel Geralds Hühnerfarm erwirtschaftete schon damals trotz gelegentlicher Protestaktionen gute Gewinne, seine Überweisungen kamen pünktlich zum Ersten. Wenige Monate nach Vaters Verschwinden begann er mit dem Bau einer neuen Käfiganlage. Claes haßte Onkel Gerald. Es dauerte einige Zeit, bis ich mich zu Silvester wieder auf die Straße traute. - Vermutlich richtet irgend jemand, der Geld und Einfluß hat, seiner Tochter eine Hochzeit aus, von der die Gäste noch in zwanzig Jahren erzählen sollen. Eine brennende Halle voller Baufahrzeuge erzeugt ohrenbetäubenden Lärm, insbesondere, wenn die Treibstofftanks explodieren. Über dem Feuerwerk steht der Große Wagen, das einzige Sternbild, das ich sicher erkenne. Nager schnarcht mit den Motoren um die Wette. Je betrunkener er ist, desto unverhohlener sind seine Angebote an Mona, obwohl er in Köln eine deutlich jüngere Frau hat und zwei kleine Mädchen, für die er überall Mitbringsel kauft. Seine Frau bezeichnet er als prima Kerl. Sie sehe nicht schlecht aus, eigentlich sogar gut. Er sagt, ab einem bestimmten Alter wolle sich jeder Mann in erster Linie fortpflanzen, dann sei das Ergebnis wichtiger als die Liebe, der Sex. Sie ist die Sekretärin des Galeristen gewesen, der ihn auf die Dokumenta gebracht hat, wenn auch unter ferner liefen. Jetzt kümmert sie sich ausschließlich um seinen Nachwuchs. Er nennt sie nie beim Namen. Allerdings heißt er selbst in Wirklichkeit auch nicht Nager, sondern Walter Schaub-Scheffelbock, wie Livia von Jan weiß, der bei der Einreise seinen Paß gesehen hat. Er könnte mein Freund sein.
Ich bin sicher, daß Livia mit Jan schläft. Sie soll machen, was sie will. Es interessiert mich nicht.
Von der Brust her dehnt sich ein Ziehen bis in die Arme aus. Raki zum Mittagessen, die Garnelen waren sehr frisch. Ich versuche mein Spiegelbild im schwarzen Wasser zu entdecken, in Streifen geschnitten wie die Uferlaternen.
Es wird aufhören. Bald. Es war vergeblich. Von Anfang an hat etwas nicht gestimmt. Es ist mir nicht gelungen, einen Zusammenhang herzustellen. Ich bin zwischen Menschen und Orten hindurchgerutscht, auf einer glatten, abschüssigen Fläche. Simulierte Handlungen, weil man irgend etwas tun muß, weil man nicht nichts tun kann, aufgrund der äußeren Erfordernisse. Daraus wird im Rückblick ein Leben.
Der Große Wagen ist leer, eine durchgerostete Schubkarre. Ich hätte gerne gelernt, mich anhand der Sterne zu orientieren, wie ein Karawanenführer, ein alter Kapitän. Dann hätte ich Vaters Grab in Bahia Blanca gesucht und auf sein steinernes Ebenbild gespuckt. In unserer Familie gab es außer Claes jedoch keinen, der auch nur Vogelstimmen unterscheiden konnte, geschweige denn Sternbilder, und Claes hat es sich selbst beigebracht, mit Hilfe von Schallplatten. Ich hätte gerne erfahren, weshalb Jonathan Miller erschossen wurde. Ich habe ihn sterben sehen, das verbindet. Der Tod ist eine intime Angelegenheit, man sieht nicht vielen dabei zu. - Warum Messut Yeter so vehement bestreitet, daß Miller im Sultan gewohnt hat? Und wohin Ireen verschwunden ist? Wenn ich all das wüßte, würde sich nichts ändern. -
Stück für Stück bin ich Teil des fremden Organismus geworden. Ich bilde nur noch eine dünne Hülle um ein Wesen, das vollständig aus mir besteht. Es hat meine komplexe Primatenstruktur in den schlichten Bau eines vorzeitlichen Insekts zurückverwandelt. Ich spüre seine Bewegungen, wie es versucht, den Kokon abzustreifen.
Die Zigaretten werden bis ans Ufer reichen. Notfalls leiht...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.