Schweitzer Fachinformationen
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Er bewegte sich anonym durch die Stadt, auch wenn Hunderttausende seine Stimme kannten. Da er beim Radio und nicht beim Fernsehen arbeitete, wusste keiner, wie er aussah, zum Glück. Wiederum war er nicht auffällig geworden, hatte niemanden bei offenem Mikrofon beschimpft oder beleidigt, war nicht schreiend Amok gelaufen, weder im Sender noch auf der Straße, obwohl ihm danach zumute gewesen wäre, aber dazu hätte es einer Kraft bedurft, die ihm schon lange abging. Wenn bekannt wurde, was er dachte, wirklich dachte, einfach weil er wusste, was er wusste, wäre es trotzdem vorbei. Tag für Tag rechnete er mit dem finalen Shitstorm aus den Dunkelkammern des Internets, Folge einer unbedachten Bemerkung zwischen fünf und acht in der Frühe, die von unzähligen Leuten gehört worden wäre, während sie sich Kaffee brühten, die Lippen schminkten, eine Krawatte banden. Bevor die Empörung überkochte, waren sie vielleicht dankbar für den Aufreger, lachten kurz, dann blieb ihnen das Lachen im Hals stecken, sie schämten sich, die Scham wurde Wut. Die Empfindlichkeiten nahmen beängstigende Ausmaße an in letzter Zeit. Trotzdem musste er täglich aufs Neue versuchen, einen dieser abgeordneten Phrasendrescher, aalglatten Verbandssprecher, schmierigen Sportfunktionäre mit Hinterhalten, Provokationen aus der Reserve zu locken, ihnen klare, am besten entlarvende Antworten zu brennenden, heiklen oder auch einfach belanglosen Themen zu entlocken. De facto kamen ihm die meisten Themen belanglos vor nach über zwanzig Jahren beim Funk. Siebenstädter hatte schon alles gehört, aber in regelmäßigen Abständen schwappten die immer gleichen Geschichten als dritter, vierter, fünfter Aufguss ein weiteres Mal hoch. An den Strukturen änderte sich nichts, die Verfilzungen bestanden seit Jahrzehnten, Jahrhunderten, vermutlich seit Beginn der Menschheitsgeschichte. Er riss sich zusammen, am Mikrofon genauso wie jetzt auf dem Heimweg, später zu Hause. Ein falsches Wort und die Meinungsgülle, abgesondert von Leuten, die sonst nichts zu tun hatten, würde sämtliche Kanäle fluten. Schnell hätte jemand ein Foto von ihm aufgetrieben, Google kannte längst jedes Gesicht, binnen Stunden würde es sich verbreiten, dann gehörte es der Vergangenheit an, das Leben, in dem er sich eingerichtet hatte, mehr schlecht als recht, aber dennoch auf Dauer. Es folgten verlogene Distanzierungen des Chefredakteurs, des Intendanten, selbstmitleidige Entschuldigungen, dass man sich habe täuschen lassen. Sicher würde auch Reisiger, der die Morgensendung im Wechsel mit ihm moderierte, ihm in den Rücken fallen. Diverse Hinterbänkler brächten ihre Empörung zum Ausdruck, nachgereichte Rache für hartnäckige Fragen zu nachtschlafener Zeit oder im Gegenteil dafür, dass sie nie gefragt worden waren. Vielleicht würde ein vorgesetzter Kopf rollen, einer aus den Aufsichtsgremien träte symbolisch zurück, um bei vollen Bezügen eine Anstandsfrist lang auf den nächsthöheren Posten zu warten. Schließlich würde die Sendeanstalt, öffentlich-rechtlich, wie es so schön hieß, zu seinem offiziellen Rausschmiss noch einmal ihre Bestürzung darüber erklären, dass man jemanden wie ihn so lange in einer derart wichtigen Position belassen habe, wo doch jeder, der in letzter Zeit seinen Moderationen zugehört habe, hätte wissen können, dass er längst abgedriftet sei in eine Richtung, für die es im Sender definitiv keinen Platz gebe.
. Laber Rhabarber. Siebenstädter saß in der Straßenbahn, eine hellblaue Einwegmaske vor Nase und Mund, roch den eigenen Atem, Kaffee und Pfefferminz. Drei Plätze vor ihm stank einer nach Schnaps, dagegen halfen die Masken nicht - Aerosole auch das. »Denken Sie an Alkohol, Knoblauch, Schweiß«, hatte Prof. Garbsen zu Beginn der Pandemie in einem Interview gesagt, um ihm stellvertretend für die Hörer zu verdeutlichen, wie man sich die Übertragung vorstellen musste: als schlechten Atem.
Die Bahn bog scharf nach rechts, die Bahn war grellgelb lackiert, die Bahn fuhr Werbung für Gorbatschows Wodka. Gedenkstätte Berliner Mauer. Heute vor einunddreißig Jahren war sie gefallen, »Sind Sie der Meinung, dass die Demonstration der sogenannten Querdenker, die gestern in Leipzig völlig aus dem Ruder gelaufen ist, tatsächlich irgendetwas mit der friedlichen Revolution von '89 zu tun hatte?« war seine Frage um sechs Uhr zweiundvierzig an den innenpolitischen Sprecher der Neuen Rechten gewesen. An die Antwort erinnerte er sich nicht, er vergaß fast alles, was die Leute ihm erzählten, in dem Moment, wo das Gespräch endete. Bernauer Straße. Eine Schulklasse auf pädagogisch wertvollem Wandertag, Touristenspaziergänge vor dekorativ verrosteten Betroffenheitsinstallationen. Draußen an der frischen Luft sind sie vor Infektionen geschützt, hatte es im Frühjahr geheißen, inzwischen galten Jugendliche in Parks als Gefährder. Umsteigemöglichkeit in die U8, falls er nach Kreuzberg wollte oder - in entgegengesetzter Richtung - nach Wedding. Beiderseits fing nach ein paar Stationen der Orient an, Kopftuchfrauen und Shishabars, Erdogan-Wähler, Clankriminelle. Wolliner Straße. Dekorativ verklinkerte Nachwendehäuser, letzte Brachen, Biomärkte, Flohmarktgelände. Die Bahn fuhr stockend, musste sich bis zur nächsten Ampel ihre Spur mit den Autos teilen. Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark. Die Türen öffneten, die Türen schlossen sich, Ausstiege, Einstiege. Auf dieser Strecke waren nur neue Züge unterwegs, breiter und tiefer, weniger rappelig als die Vorgängermodelle, angenehmere Sitzabstände, außerdem gut klimatisiert. Seit die Erderwärmung im Sommer die Temperaturen zu immer neuen Höchstwerten trieb, spielte auch das eine Rolle. Vor dem evangelischen Altenheim waren Leute in Rollstühlen abgestellt, damit sie rauchen, frische Luft schnappen konnten. Eberswalder Straße.
Er war nicht ausgerastet, weder hatte er den stinkenden Trinker angeschrien, dessen Maske unterhalb des Kinns hing, noch den Hipster-bärtigen Araber oder Türken, der breitbeinig zwei Plätze in Anspruch nahm und alle mit seinem dudelnden Handy terrorisierte, mit dem Kopf gegen die Scheibe geschlagen, bis Blut und Gehirn ausliefen. Es waren immer nur Bilder, das Synapsenkino im Kopf, Gewaltfantasien, Metzelvisionen. Im wirklichen Leben, ganz gleich, ob sich jemand an der Supermarktkasse an ihm vorbeidrängte, ihn beleidigte, weil er seinen Hund ohne Leine auf dem Bürgersteig laufen ließ, hatte er Mühe, sich zu wehren, auf seinem Recht zu beharren. Er war schwach auf die Welt gekommen, zu kraftlos, um irgendetwas entschlossen zu tun, rutschte von dieser Entscheidung in jene, ohne zu wissen, wie man eine zurücknahm, die sich als falsch herausgestellt hatte.
Husemannstraße. Rechts das Paparazzi, der einzige Italiener im Osten der Stadt, den es schon zu DDR-Zeiten gegeben hatte, vietnamesische Restaurants, Outdoorläden, Burgerbratereien; seit die Polizei den Druck auf die libanesischen Clans in deren Kerngebieten erhöhte, eröffneten sie eben hier ihre Barbershops, Shishabars, Sportwettenläden.
In zwanzig Minuten war er zu Hause, bei der Frau, mit der er sein Leben teilte, Mutter seiner Tochter, Miteigentümerin des Labradorrüden »Tibor«. Siebenstädter freute sich nicht, freute sich überhaupt nur noch selten. Er hatte Irene geheiratet, weil sie schwanger gewesen war, nachdem er sich dazu hatte hinreißen lassen, mit ihr zu schlafen, obwohl er innerlich längst fort war, aber die Worte nicht fand, mit denen man eine Liebe beendete: Es ist aus. Er hatte ein Kind gezeugt, versehentlich, es war eben passiert, wie alles irgendwie passierte. Dort wo er herkam, übernahm man die Verantwortung für die Schwachheit des Fleisches. So hatten die Landpfarrer dergleichen Vergehen in ihren Sonntagspredigten noch genannt, als die Gleichaltrigen in Köln, Hamburg, Berlin sich längst ohne Hemmungen vom Establishment frei vögelten. Weder ließ man Kinder wegmachen, noch verabschiedete man sich mit: Es tut mir leid, es war nicht persönlich gemeint, dein Bauch, dein Kind, deine Sache. Schon damals hätte er schreien, schlagen, töten wollen, ohne zu wissen, wen. Stattdessen hatte er ordnungsgemäß zu spät einen Antrag gemacht, bei der Mutter seiner vor der Zeit fruchtbar gewordenen Braut, denn der Vater, der dort, in der rheinischen Provinz, noch immer symbolisch die Hand seiner Tochter vergab, war tot. Irenes Mutter, vorzeitig gealtert, hatte die Stirn gerunzelt, »Drei-Monats-Kind« gemurmelt, »Wie gut, dass der Papa es nicht mehr erfährt« und zum Schluss: »Besser, als wenn sie es allein aufziehen muss.« Und wenn sie nicht gestorben sind, bis dass der Tod euch scheidet, lachenden Munds. Frau Schilling, die Tontechnikerin, mit der er damals am liebsten gearbeitet hatte, befand, als er mit der Nachricht ins Studio kam: »Sie sehen nicht aus, als wären Sie glücklich.« »Zu spät«, hatte er gedacht, »Ja und wenn schon«, hatte er gedacht, aber gesagt hatte er: »Das täuscht, Frau Schilling, Irene ist eine wunderbare Frau, mit der ich mir jetzt eine bürgerliche Existenz aufbaue, wie ich es immer wollte: Kinder, ein Haus mit Garten, gemeinsamer Urlaub am Meer - man kann ja nicht ewig in Provisorien leben.«
»Du bist jetzt ein verheirateter Mann«, hatte sein Vater am Abend der Hochzeit gesagt, ihm die Hand auf die Schulter gelegt, erstmals beinahe von gleich zu gleich, und: »Die Hörner hast du dir ja lange genug abgestoßen.«
»Ich bin ein verheirateter Mann«, sprach Siebenstädter sich selbst noch immer gelegentlich vor und erkannte den Menschen nicht, der vor dem Badspiegel stand und diesen ganz und gar falschen, gleichwohl der Faktenlage entsprechenden Satz formulierte. Die...
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