Schweitzer Fachinformationen
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Mein Gott, ist das voll hier.« Helen winkte ihrem Kollegen über den Tisch hinweg zu, bevor sie sich ebenfalls setzte. Er hatte sich in eine Ecke gequetscht. »Und laut«, schob sie hinterher. Sie musste sich anstrengen, um gegen den Geräuschpegel des voll besetzen Lokals anzukommen.
»Freitagsspiel in der Bundesliga. Ich habe gerade schon am Nachbartisch nachgefragt, ob es etwas Besonderes gibt. Aber es ist nur Fußball. Gladbach spielt. Und im öffentlich-rechtlichen Fernsehen bekommt man die Freitagsspiele überhaupt nicht mehr zu sehen. Da ist hier im Wirtshaus wohl immer der Teufel los. Habe den letzten Platz überhaupt ergattert«, erzählte Henning Petersen, während Helen ihren Blazer über den Stuhl hängte. Es war entsprechend aufgeheizt im Lokal. Fußball verfolgte sie selbst kaum, aber bei Mönchengladbach dachte sie sofort an Rabe. Das war sein Verein.
»Schöne Bescherung. Hätte ich aber eigentlich wissen können. Genau deshalb hat der Vogel mir heute abgesagt.«
Petersen zog fragend die Augenbrauen hoch. »Was für ein Vogel denn, Kollegin?«
Helen musste lachen. Sie konnte es sich nicht abgewöhnen, Rabe mit seinem Spitznamen aufzuziehen.
»Entschuldige, Henning. Das kannst du nicht wissen. Aber du kennst doch meinen Bekannten Ralf Peter Voss, den Redakteur vom General-Anzeiger?«
»Deinen Bekannten? Ich dachte, da wäre etwas mehr zwischen euch.«
Helen ließ die Frage unbeantwortet im Raum stehen. Petersen hatte ja recht. Aber Rabe so offiziell gegenüber Dritten als ihren Freund oder sogar Partner vorzustellen? Das konnte sie einfach noch nicht.
Petersen ging zum Glück über die peinliche Stille hinweg. »Ja, Voss ist mir nicht verborgen geblieben. Er ist ja nicht ganz unbeteiligt an der Schrader-Sache gewesen.«
Helen nickte. »Genauso ist es. Aber er ist ja gar kein komischer Vogel, sondern sein Spitzname ist Rabe. Ich kann es nur einfach nicht lassen, meine Witze darüber zu machen. Vielleicht kannst du mir ja dazu mal deinen fachlichen Rat als Psychologe zukommen lassen.«
Henning Petersen schob seine Brille zurecht. Er konnte das gut. Diesen Analytikerblick. Seine Stimme klang plötzlich ernster. Tiefer und melodischer. »Ja, das ist tatsächlich interessant. Da verbirgt sich etwas. Den Partner durch solche Bemerkungen gefühlsmäßig auf Abstand halten. Ganz typisches Verhalten bei Bindungsängsten.«
»Jetzt hör aber auf.« Helen rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Für so eine gemütlich wirkende Gaststätte waren die Stühle doch recht hart. »Ich wollte mich mit dir treffen, um über Marie zu sprechen, nicht über mich.«
»Wenn du das sagst, muss es wohl so sein.«
Hennings Entgegnung ging fast im weiter anschwellenden Lärm des Wirtshauses unter. Ein Blick auf den Bildschirm bestätigte Helen, dass das Spiel gleich anfangen würde. Die Mannschaften liefen auf den Platz, jeder der Spieler hielt ein Auflaufkind an der Hand. Schöne Idee eigentlich. Wie lange gab es das schon? Und wie hatte das begonnen? Mit irgendeiner Weltmeisterschaft? Sie machte sich eine geistige Notiz, das beim nächsten Treffen Rabe zu fragen. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass genau so etwas die treffende Kurzanalyse ihres Gegenübers bestätigte. Sie hielt sich Rabe immer noch vom Leib. Versuchte, ihre Gespräche auf Belanglosigkeiten zu lenken. Small Talk eben. Und das trotz allem, was sie im letzten Jahr zusammen erlebt hatten. Trotz all seines Einsatzes für ihren Fall und für sie.
Aber genau deshalb war sie jetzt hier. Wirklich nicht, um über sich zu sprechen, sondern um zu erfahren, wie ihre Auszubildende Marie mit ihrem Schicksal klarkam. Helen hatte dem Mädchen empfohlen, nein, sie hatte darauf bestanden, dass Marie sich in die professionellen Hände eines Psychologen begab. Und ihr Kollege bei der Hochschule in Hennef, Henning Petersen, war ihre erste Wahl. Sie hatte ihn schon öfter an Mandanten empfohlen, die etwa durch ein Trauma nach einem Verkehrsunfall psychische Probleme bekamen. Einmal mehr wurde ihr bewusst, wie wichtig ihr die Nebentätigkeit an der Hochschule der gesetzlichen Unfallversicherung war. Ihre Mittwoche waren ihr heilig, nicht nur wegen der Lehrtätigkeit. Auch der Austausch mit den Kollegen aus den unterschiedlichen Fachbereichen war wertvoll. Helen war eine große Befürworterin einer ganzheitlichen Herangehensweise bei ihren Rechtsfällen. Denn gerade in den Fällen, die ihr häufig begegneten, seit sie sich einen Namen als Opferanwältin gemacht hatte, war man für die Mandanten meist viel mehr als nur Anwältin. Mehr Mediatorin, Beraterin und Beistand in allen Lebenslagen. Und sie war gut darin. Nur für ihr eigenes Leben hatte sie nicht die richtigen Ratschläge parat. Aber war es nicht immer so? War nicht der Schuster derjenige mit den schlechtesten Schuhen?
Wieder schwoll der Lärmpegel an. Anpfiff beim Fußball.
»Sollen wir uns nicht besser nach draußen setzen? Ich verstehe hier kaum mein eigenes Wort«, rief sie zu Henning herüber. So konnte man sich unmöglich über die psychischen Probleme einer lieb gewonnenen Auszubildenden unterhalten.
»Von mir aus gerne. Es sind ja schon ganz erträgliche Temperaturen für April«, antwortete Henning. Zumindest glaubte Helen, das verstanden zu haben.
Sie nickte. »Und zur Not habe ich ja meinen Blazer.«
Sie standen gleichzeitig auf und suchten sich einen Platz im Biergarten vor dem Wirtshaus. Auch hier waren so früh im Jahr etliche Plätze besetzt. Der ganze bisherige April war ungewöhnlich warm gewesen. Sie ergatterten einen am Rand gelegenen Platz, wo man sich ungestört unterhalten konnte.
»Also, wie macht sich meine Auszubildende?« Helen fiel unbesorgt mit der Tür ins Haus. Marie Glücklich hatte Henning Petersen ihr gegenüber von der ärztlichen Schweigepflicht entbunden.
»Sie macht sich gut.« Henning nahm einen Schluck von seiner Fassbrause, bevor er die Aussage präzisierte. »Sie spricht offen über ihre Gefühle. Zu Anfang fiel es ihr schwer, aber mittlerweile weiß sie genau, dass nichts von dem, was geschehen ist, ihre Schuld war. Zumindest verstandesmäßig. Aber gerade solche frühkindlichen Belastungen werden sie wahrscheinlich ihr ganzes Leben begleiten. Sie muss nur lernen, damit umzugehen. Sie in den rechten Kontext zu setzen. Das ist ein langer Weg.«
Marie war mit zwei Jahren von ihrem leiblichen Vater an ihren Adoptivvater Georg Glücklich verkauft worden. Das allein zu begreifen, wäre schon schwer. Damit nicht genug, war ihre leibliche Mutter durch beide Väter getötet worden, als sie sich nach zwanzig Jahren dagegen aufgelehnt hatte. Der Schrader-Fall war letztes Jahr mit der Verhaftung beider Männer abgeschlossen worden. Für die Angehörigen, allen voran Marie, war das Abschließen naturgemäß nicht so einfach.
»Und meinst du, es ist wirklich so eine gute Idee, dass sie Georg Glücklich im Gefängnis besuchen will?«
Henning nahm sich Zeit mit seiner Antwort. »Ich denke, sie ist bereit. Den größten Schritt hat sie schon getan, als sie seine Briefe gelesen hat. Das persönliche Treffen ist der nächste Schritt. Und er ist ja kein Unmensch. Der Glücklich. Er war ihr immer ein guter Vater.« Henning nahm seine Brille ab und begann sie zu putzen, während er fortfuhr: »Was mir momentan mehr Sorgen bereitet, ist, dass Marie von ihrer Mutter sehr beansprucht wird. Die scheint sich nämlich völlig zurückzuziehen. Das Verhältnis der beiden hat sich total umgekehrt. Marie ist nun diejenige, die versucht, ihre Mutter aus deren Tief herauszuziehen. Aber das kann sie nicht leisten. Und auf der anderen Seite scheinen ihre neu gewonnenen Großeltern sie auch auf eine gewisse Weise zu bedrängen. Sie wollen wohl all das nachholen, was sie bei ihrer Tochter verpasst haben.«
Helen hatte das auch schon beobachtet. »Ja, Marie macht manchmal solche Bemerkungen. Ich hatte so etwas schon befürchtet.«
Henning nickte. »Vielleicht kannst du ja mal mit ihnen sprechen. Sie sind schließlich deine Mandanten.«
»Ja, das sind sie. Scholz, also Maries leiblicher Vater, hat Berufung eingelegt. Der Fall ist immer noch nicht abgeschlossen. Zumindest Georg Glücklich aber hat das Urteil akzeptiert.«
»Trotzdem, über ihre Großeltern nimmt Marie auch dieser anstehende Prozess noch mit. Es wäre wirklich gut, wenn du die Eheleute Schrader diesbezüglich einmal ansprichst. Marie will und muss damit abschließen.«
Bevor Helen zu einer Antwort ansetzen konnte, klingelte ihr Handy. Sie schaute auf das Display. »Moment. Das ist meine Mutter. Da muss ich mal schnell rangehen. Sie war in letzter Zeit nicht gut...
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