Schweitzer Fachinformationen
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An einem milden Spätsommerabend im Jahr 1887 saß die fünfjährige Emma Banister, die dann später meine Mutter wurde, vor einem dampfenden Teller Sheperd's Pie im Gärtnercottage von Renishaw und hörte gebannt einer Unterhaltung ihrer Eltern zu.
Emma Banisters Mutter Alice, meine künftige Großmutter, war vor ihrer Hochzeit mit Victor Banister, dem obersten Gärtner auf Renishaw, mehrere Jahre als Küchenmagd im Haupthaus tätig gewesen und half dort gelegentlich aus, seit Emma entwöhnt war. So hatte sie nachmittags beim Apfelgelee-Einkochen erfahren, dass die junge Gutsherrin Lady Ida in Scarborough, im Haus ihrer Schwiegermutter, ein gesundes Mädchen zur Welt gebracht hatte, das auf den Namen Edith Louisa getauft worden war.
»Da hat sie doch tatsächlich einmal etwas leisten müssen, die feine Dame. Bei Presswehen zeigt sich, dass die Natur keine Stände kennt.«
Victor ignorierte den giftigen Kommentar seiner Frau und bestand darauf, das Glas zu Ehren des jungen Paars und seiner Erstgeborenen zu erheben: »Auf Sir George, Lady Ida und die kleine Edith Louisa. Möge ihr Leben reich gesegnet sein, und möge bald ein männlicher Erbe das Glück der Familie vollkommen machen!«
»Pah!«, schnaubte Alice und blieb für den Rest der Mahlzeit untypisch einsilbig.
Emma machte einen Versuch, das Gespräch wieder in Gang und in die von ihr gewünschte Richtung zu bringen: »Wann werden sie denn mit dem Kind zurück nach Renishaw kommen?«
Alice zuckte mit den Schultern. Victor fragte: »Warum möchtest du das wissen, Emma?«
»Einfach so«, antwortete Emma, obwohl es gelogen war.
Wovon Alice und Victor nämlich keine Ahnung hatten: Emma kannte die junge Gutsherrin persönlich und pflegte eine verschwiegene, aber nichtsdestoweniger glühende Kinderschwärmerei für sie. Auch wenn sich diese Verehrung wenig später ins Gegenteil verkehren sollte, konnte meine Mutter noch fünfzig Jahre danach von ihrer ersten Begegnung mit Lady Ida erzählen, als sei es erst gestern gewesen.
An jenem Morgen war Alice Banister mit einer fiebrigen Erkältung im Bett geblieben, und Victor hatte die kleine Emma mit zur Arbeit genommen, damit seine Frau etwas Ruhe bekam.
»Warte kurz, bis ich James erklärt habe, was er mit den Rosen machen soll, dann gehen wir zu den Obstbäumen«, hatte Victor Emma angewiesen, als die beiden bei den Treibhäusern angekommen waren. Emma kletterte auf ein niedriges altes Mäuerchen neben dem Eingang, ließ ihre Beine baumeln und vertrieb sich die Zeit damit, in die Wolken zu schauen.
Nach einigen Minuten kam Victor aus dem Treibhaus zurück und erklärte Emma, dass er, wenn er die Gloria Dei so behandelt sehen wolle, wie er es für richtig hielt, seinen Gehilfen James bei der Arbeit beaufsichtigen müsse. Es würde also noch dauern, bis sie weiterkönnten.
»Willst du nicht lieber solange mit reinkommen?«
»Nein!«, rief Emma trotzig. Sie mochte die stickige Luft in den Treibhäusern nicht und ärgerte sich, dass ihr Vater das vergessen hatte.
»Du wirst dich langweilen, so alleine.«
»Kann ich im Garten herumlaufen? Dann langweile ich mich nicht.«
»Aber geh nur so weit, dass du die Glashäuser noch sehen kannst, und pass auf, dass du dem See nicht zu nahe kommst!«
Emma versprach, brav und vorsichtig zu sein, und hüpfte fröhlich singend davon. Bei den Kräuterbeeten balancierte sie über die Einfassung, dann lief sie über die Grünfläche vom weißen Garten in den blauen Garten, wo im Sommer alles voller Schlüsselblumen war. Sie gelangte zu der Wiese mit dem kleinen Pavillon, der sie mit seinen kreisförmig angeordneten Säulen und der halbnackten Steinfrau in der Mitte an ein Bild aus ihrem Märchenbuch erinnerte. Zunächst dachte sie darüber nach, sich in den Pavillon zu setzen und entführte Prinzessin zu spielen, entschied sich dann aber dafür, den kleinen Wald hinter der Wiese zu erforschen, der so verwunschen aussah.
Nachdem sie eine Weile ausprobiert hatte, wie viele Sprünge sie von einem Stamm zum anderen benötigte, legte sie sich rücklings ins Gras, obwohl es noch ein wenig kalt und feucht war. Über ihr funkelte und glitzerte es, die Sonne fand ihren Weg durch das dichte Buchenlaub, ließ Lichtflecken über Emmas Arme und Beine tanzen. Gerade dachte sie darüber nach, woran man es wohl merken würde, wenn man in einen Feenwald geraten war, da kam etwas Großes, Leuchtendes aus dem Durchbruch zwischen den Hecken seitlich des Pavillons auf sie zugeschwebt. Emma sprang erschrocken auf. Das große Etwas stoppte, riss die Arme hoch und stieß einen schrillen Schrei aus.
Im ersten Moment glaubte Emma, es sei tatsächlich eine Fee gekommen, so wunderschön und überirdisch-fremd erschien ihr die große schlanke Person mit den dunklen Locken und dem wehenden weißen Seidenkleid. Als sie genauer hinsah, wurde ihr jedoch klar, dass es sich bei dieser Erscheinung eher nicht um ein Zauberwesen handelte. Sie kannte Feen aus ihrem Märchenbuch, die liefen nicht einfach so über Wiesen und rissen dann furchtsam die rot verweinten Augen auf, wenn ein kleines Mädchen vor ihnen stand. Feen hatten immer lächelnde Gesichter, sie boten Menschen die Erfüllung geheimer Wünsche an, jedenfalls die guten unter ihnen. Dies hier war eine menschliche Person, wenn auch keine von der Sorte, mit der Emma schon einmal zu tun gehabt hatte. Emma machte einen etwas wackeligen Knicks und streckte der Frau die Hand entgegen, weil ihr das in jedem Fall angemessener erschien, als wegzulaufen.
Die Fremde ergriff die Kinderhand, ging dabei vor Emma in die Hocke, so dass ihre beiden Gesichter nahe beieinander waren.
»Hast du mich erschreckt!«, japste die Dame, atemlos vom Laufen oder vom Weinen oder von beidem zusammen.
»Tut mir leid«, murmelte Emma, der das Herz bis zum Hals schlug. Sie schaute an sich herunter, entdeckte braungrüne Schmutzflecken auf ihrer alten Schürze, fühlte das Kittelkleid feucht an ihrem Rücken kleben und bereute es, am Morgen nicht etwas Besseres zum Anziehen bekommen zu haben, etwas, das nicht mehrfach geflickt war, in dem sie nicht nach »Kobold« aussah, wie der Kosename ihres Vaters für sie lautete.
Die schöne Fremde verströmte einen Duft von Veilchen und Jasmin, ihre Hand fühlte sich unfassbar zart und weich an, viel weicher als die rauen, abgearbeiteten Hände von Emmas Eltern. Vielleicht war sie so etwas wie ein Zwischenwesen, der Vater ein König, die Mutter eine Fee. Gab es so etwas wie Halbfeen? Während Emma angestrengt über diese komplizierte Frage nachdachte, schaute die Dame sie an, als überlege sie ebenfalls, welcher Spezies das Kind wohl angehörte.
»Wie heißt du?«
»Emma«, sagte Emma und rang mit sich, ob sie es wagen dürfe, irgendetwas zu unternehmen, um die Fremde aufzuheitern. Falls sie tatsächlich eine Halbfee war, würde sie vielleicht zumindest einen kleinen Wunsch erfüllen können.
»Was für ein wunderhübsches Kind du bist!«, sagte die Erscheinung, und Emma war beeindruckt. Ihr Vater hatte zwar schon oft gesagt, sie sei das schönste Mädchen von ganz Derbyshire, aber es aus diesem Mund zu hören, war doch etwas anderes.
»Ich bin übrigens Ida und wohne neuerdings in diesem schrecklichen dunklen und kalten Haus da drüben hinter all diesem komischen grünen Gestrüpp. Weißt du zufällig, wie man das Zeug nennt?«
Emma spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss, denn ihr war plötzlich klargeworden, wen sie da vor sich hatte.
»Eibe, man nennt das Eibenhecke«, wisperte sie heiser. Ihr Vater schnitt diese Hecken mit großem Aufwand zu klaren geometrischen Formen, und es würde ihn sicher aufregen, wenn er mitbekäme, dass die neue Gutsherrin sie als »komisches Gestrüpp« bezeichnete.
»Du scheinst dich ja gut auszukennen. Was treibst du eigentlich hier?«, unterbrach die Dame Emmas Gedanken.
»Meine Mutter ist krank, und mein Vater hat erlaubt, dass ich hier bin.«
Emma konnte vor lauter Aufregung kaum sprechen.
»Und wer ist dein Vater, dass er dir das erlauben darf?«
»Mein Papa ist der Gärtner. Er sagt, wenn im Frühjahr die Gloria Dei nicht gut gepflegt werden, dann sind sie im Sommer nur halb so prächtig. Deshalb arbeitet er im Treibhaus, und ich bin hier draußen.«
Lady Ida kicherte. Emma fand das zwar seltsam, aber aus irgendeinem Grund schien ihr Gestammel der Lady zu gefallen. Die Gutsherrin sah jetzt auch gar nicht mehr aus wie jemand, der geweint hatte. Das war, selbst wenn vermutlich kein Wunsch erfüllt werden würde, in jedem Fall gut.
»Was darf ich mir unter einer gut gepflegten Gloria Dei vorstellen?«, fragte Lady Ida lächelnd.
»Das ist eine Rose!«, antwortete Emma, froh, dass sie etwas Sinnvolles zu sagen wusste. »Die Blütenblätter sind gelb und haben einen rosafarbenen Rand. Sie riechen so stark, dass das ganze Zimmer duftet, wenn man sie in eine Vase stellt.«
»Ich liebe Rosen!«, begeisterte sich Lady Ida. »Eure Gloria Dei scheinen mir ja ganz besonders prachtvoll zu sein. Ich will sehr viele von diesen Rosen haben, sie werden mir den grässlichen alten Kasten, in dem ich diesen Sommer über eingesperrt bin, vielleicht ein bisschen erträglicher machen. Jedes Zimmer soll damit bestückt werden! Sag das deinem Vater!«
Emma nickte zaghaft. Sie wusste, dass er für den Blumenschmuck im Haus gar nicht zuständig war. Außerdem betrachtete er es als sein besonderes Privileg, seine Aufträge von Sir George persönlich entgegenzunehmen, solange die Herrschaft auf Renishaw weilte.
Der junge Herr liebte seine Gartenanlagen, schätzte die...
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