Schweitzer Fachinformationen
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Sommer 1996
Am Dienstagmorgen um 8:47 Uhr rief Torsten Lenz auf dem Nokia an und sagte: »Unser einziger Zeuge ist tot.«
Larsen war schon im Präsidium, aber noch im Treppenhaus. »Wo?«, fragte er. »In der Werkstatt?«
»Ein Unfall«, sagte Lenz. »Offenbar ist er unter die Hebebühne geraten. Einer der anderen Mechaniker hat ihn entdeckt, als er zur Arbeit kam.«
»Wer von uns ist da?«
»Noch niemand. Der Mechaniker hat die Kollegen vor Ort informiert. Aber die Spurensicherung ist schon unterwegs.«
»Gut, ich fahre hin.« Larsen drehte auf dem Treppenabsatz um. »Ich brauche einen Wagen. Olaf und Mareike sollen nachkommen.« Er lief auf den Parkplatz und sah, dass Mareike schon da war. Sie stand neben einem der Einsatzfahrzeuge, in der Hand die unvermeidliche Thermoskanne mit Kaffee. »Wir können gleich los«, sagte sie, trank noch einen letzten Schluck aus dem Plastikbecher und schraubte die Kanne zu.
Sie fuhren, ohne zu reden. Sie hatten das Blaulicht aufs Dach geheftet, und wenn der Verkehr dichter wurde, schaltete Mareike die Sirene ein. Die Oberkommissarin war auch unter diesen Umständen eine gute Fahrerin, die niemandemunnötig die Vorfahrt nahm, andere Wagen nicht bedrängte und die Signale der Ampeln beachtete, wenn es notwendig war. Manchmal warf sie Larsen einen Seitenblick zu, behielt ihre Gedanken, Beobachtungen und Mutmaßungen aber für sich. Dafür war er dankbar.
Wir hätten ihn nicht auf freien Fuß setzen dürfen, dachte er. Oder ihn wenigstens rund um die Uhr überwachen müssen. Nein, nicht wir - ich. Ich habe versagt. Der Vorermittlungsrichter hat gehandelt, wie er handeln musste, das Gesetz ist eindeutig. Aber für mich gilt das nicht, für mich gibt es »eindeutig« nicht. Er zwang seine Hände, ruhig zu bleiben, seine Füße auch. Bei seinen Gedanken gelang ihm das nicht, sein Puls raste. Lothar Schmidt hatte Angst, aber wir haben das nicht ernst genommen. Nicht ernst genug.
Bis zu der Werkstatt im Gewerbegebiet von Mersfeld brauchten sie genau eine Dreiviertelstunde. Wir werden keine Spuren finden, dachte Larsen, keinen Hinweis auf eine Gewalttat, keine Zeugen. In einer Gegend wie dieser sind die Straßen von Feierabend bis in den Morgen verwaist. Niemand sieht oder hört irgendetwas; Wölfe könnten nachts im Licht der Peitschenlampen über den Asphalt streifen. Alles wird so aussehen, wie Torsten gesagt hat - ein Arbeitsunfall, tödlicher Leichtsinn.
Als sie auf den Hof von Böhlich & Söhne bogen, standen die Mechaniker ratlos zwischen den reparierten Kundenfahrzeugen und einem Streifenwagen der örtlichen Polizei, der noch immer blaue Blitze in den sonnigen Vormittag schickte. Die Jalousie der Werkstatt war hochgefahren. Ein uniformierter Streifenpolizist versperrte auf der Schwelle den Zutritt, während sein Teamkollege mit einem Mann in einem roten Overall sprach.
Larsen stieß den Schlag auf, zeigte seinen Ausweis und ging an den Streifenbeamten vorbei in die halbdunkle Halle. Er steuerte die Hebebühne an, wo der Zeuge auf dem Rücken unter einem nach hinten gekippten Porsche Carrera RS 2.7 lag. Es war eine Vier-Säulen-Hebebühne, deren befahrbare Rampen mit einem hydraulisch steuerbaren Seilzugsystem gehoben und gesenkt werden konnten. Eine der beiden Rampen hatte Schmidts Brustkorb eingedrückt und seinen Kopf zerquetscht. Das Gesicht bestand nur noch aus einer breiigen Masse, durchsetzt mit Knochensplittern, Hautfetzen und blutigem Fleisch. Auch das Hemd des Toten war blutgetränkt und immer noch feucht. Um den Kopf hatte Blut eine dunkelrote Lache gebildet, die an den Rändern bereits getrocknet war.
Der Beamte, der auf der Schwelle Wache gehalten hatte, trat neben Larsen. »Ich kann mir das nicht erklären«, sagte er. »Der Lothar war einer von den ganz Vorsichtigen. Die Hydraulik muss einen Kurzschluss gehabt haben.«
»Vielleicht war er betrunken.« Larsen beugte sich zu der Leiche. Aus der Nähe überlagerte der süßliche, leicht eisenhaltige Geruch des Blutes sogar den Ölgestank in der Halle. »Oder er stand unter Drogen. Er hatte ein paar harte Tage hinter sich. Er könnte ausgerutscht und gestürzt sein. Im Fallen ist er an einen Knopf oder Hebel der Bühne gekommen, und die Rampe hat sich abgesenkt, während er bewusstlos darunterlag.« Vielleicht war es so, vielleicht auch nicht, dachte er; wahrscheinlich eher nicht. Kein Unfall, kein Selbstmord. »Ist die Rechtsmedizin informiert?«
»Ja.«
»Wer hat Sie gerufen?«, fragte Larsen.
»Der Italiener dahinten, Aldo. Böhlich, der Chef, ist noch nicht da. Der kommt immer etwas später. Der Italiener sagt, vor ein paar Tagen hätte jemand von euch den Toten zur Befragung mitgenommen, nach Bremen. Ich meine, als er noch nicht tot war. Er - Aldo - dachte wohl -«
»Das ist jetzt ein Tatort«, sagte Larsen, »wahrscheinlich war es Mord. Haben Sie hier irgendwas angefasst oder verändert?«
»Nein.«
»Gibt es Zeugen? Hat jemand etwas beobachtet?« Und selbst wenn?, dachte Larsen. Selbst wenn jemand einen silbernen Mercedes 500 SL, Listenpreis 220000 Mark, auf der Straße gesehen hätte, wäre damit nichts bewiesen. Ja, stimmt, ich musste noch mal ins Lager, würde der Täter sagen, auf die Werkstatt gegenüber habe ich da gar nicht geachtet.
Larsen dachte die Worte der Täter, denn er hatte keine Zweifel. Es war der dritte Mord, und der Täter plante einen vierten und vielleicht auch einen fünften oder sechsten. Sie kannten seinen Namen, sein Gesicht, seine Adresse. Aber bisher konnten sie ihm nicht einmal die ersten beiden Morde nachweisen, jetzt erst recht nicht, nachdem ihr einziger Zeuge tot war.
Warum war er so spät noch allein in der Werkstatt? Der Junge wollte Zeugenschutz, den wir ihm nicht geben konnten. Warum ist er nicht irgendwohin gegangen, wo er sicher war, wenigstens eine Zeit lang?
Larsen sah nach oben, zur Decke, in die Winkel über dem Rolltor. »Wissen Sie, ob es hier Videoüberwachung gibt?«, fragte er den Streifenbeamten. »Überprüfen Sie das mal. Und niemand soll hier irgendwas an- oder ausstellen, bevor wir nicht untersucht haben, ob tatsächlich ein Versagen der Hydraulik vorliegt.«
Der Wagen der Rechtsmedizin bog auf den Hof, gefolgt vom Team der Spurensicherung und einem schmutzigen gelben Mazda, in dem Oberkommissar Olaf Sundermann saß.
Die beiden Techniker stiegen aus und zogen ihre Overalls an. Als sie fertig waren und mit ihren Koffern in die Halle kamen, sagte Larsen: »Wir behandeln das wie einen Mord. Alles ist wichtig.«
Dann durchzuckte ihn ein Gedanke, ein weißes Flimmern bis in die Fingerspitzen, als hätte er einen elektrisch geladenen Weidezaun angefasst: Es gab vielleicht noch einen Zeugen! Grit Weichsel alias Nicole - das blonde Mädchen, das immer Glück im Spiel hatte, aber nur da. Das Mädchen, das 200000 Mark unter dem Bett und zu viele Männer darin hatte. Das Mädchen, das Robert Kosinski etwas von ihrem Glück abgeben wollte, bevor er von hinten erschossen wurde.
Freundin des Täters, Freundin des Opfers.
Hastig griff Larsen nach seinem Mobiltelefon und wählte die Nummer, die Grit ihm bei seinem Besuch vor einigen Wochen gegeben hatte. Am anderen Ende der Leitung ertönte das Freizeichen, einmal, zweimal, dreimal. Endlich wurde abgehoben, und eine belegte Frauenstimme meldete sich. »Ja?« Nur ein Wort, aber Larsen roch den Restalkohol in ihrem Atem sogar durchs Telefon. »Larsen, Kripo Bremen«, sagte er. »Ist Ihre Tochter schon nach Hause gekommen?«
Grits Mutter antwortete nicht sofort, als wäre sie nicht ganz sicher, ob sie überhaupt eine Tochter hatte, die nach Hause kommen konnte. Dann sagte sie: »Sie haben vielleicht Nerven, zu so einer Zeit hier anzurufen. Wenn meine Kleine Spätschicht hat, ist sie nie -«
»Ist Ihre Tochter nach Hause gekommen?!«
Ein Seufzen, dann wurde der Hörer hingelegt, und eine Minute verging, ehe die Stimme wieder da war. »In ihrem Zimmer ist sie nicht, aber wie ich gerade gesagt habe, wenn sie auf Spätschicht ist -«
Larsen unterbrach die Verbindung und winkte Mareike zu sich. »Hast du die Mobilnummer von Grit Weichsel dabei?«
»Von der kleinen Nutte? Ja.« Sie holte ein zerfleddertes Notizbuch aus der Jackentasche, schlug es auf und nannte ihm die Nummer, die er wählte, während sie noch redete. Nach drei Freizeichen ertönte Grits Stimme: »Hallo, lieber Anrufer, hier ist die Nicole. Ich bin gerade mit etwas Schönem beschäftigt und kann nicht ans Telefon kommen. Aber wenn du mir sagst, wer du bist, rufe ich dich ganz schnell zurück. Tschühüss!«
»Mailbox.« Larsen spürte, wie die Handykante in seine Finger schnitt. »Mareike, fahr sofort in die Helenenstraße und sieh nach, ob mit ihr alles in Ordnung ist. Ruf mich an, sobald du etwas weißt.«
Mareike nickte, sprang in den Einsatzwagen und raste mit quietschenden Reifen und eingeschalteter Sirene vom Hof. Larsen ging zurück in die Werkstatt, wo sich die Spurensicherung um die Leiche und ihr Streufeld kümmerte, jede Schraube, jeden Fußabdruck, jeden Blutspritzer fotografierte. Der Rechtsmediziner lehnte wartend an einem limettengrünen Thunderbird mit beigem Verdeck, der neben der Hebebühne stand. Schweigend sah er zu, wie die Zahl der Täfelchen mit den Ziffern auf dem ölschillernden Hallenboden wuchs, während er darauf wartete, das Opfer zu untersuchen.
»Wenn der jetzt von den Toten aufersteht und einfach hier rausmarschiert, war alles umsonst«, sagte einer der Techniker von der Spurensicherung.
»Wie oft haben Sie das schon erlebt?«, fragte Larsen.
Ich bin unfähig, dachte er wieder. Ich konnte ihn nicht beschützen. Er ist getötet worden, weil er mit uns geredet hat, und ich...
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