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Sabine
Bis zu diesem Tag, einem Freitag im Mai, war Sabine ein glücklicher Mensch gewesen, und sie dachte, das würde immer so bleiben. Solange sie denken konnte, hatte das Glück sie begleitet, und es war sogar gewachsen, jeden Tag ein bisschen, wie eine Perle in einer Muschel, auf die von morgens bis abends die Sonne schien. Ihr Vater sagte, eine Perlmuschel lebt im Wasser, tief unten, das Sonnenlicht erreicht sie kaum, aber das war Sabine egal. Glück war einfach Glück, selbst auf dem Meeresboden; die Schalen der Muschel tarnten und schützten es. Dabei wusste sie, dass es nicht viele Menschen gab, die so eine Perle in sich trugen und dazu noch von ihrem Vater eine Wohnung geschenkt bekamen, so wie sie zum fünfundzwanzigsten Geburtstag vor vier Wochen. Eine Muschel für die Muschel, hatte er gesagt, ganz dicht am Wasser.
An diesem Mittwoch fuhr Sabine gegen 0:30 Uhr in ihrem gelben Morris Mini Cooper in die Tiefgarage der umgebauten Lagerhalle am Alten Hafen, in der sich ihre neue Wohnung befand. Sie hatte keine Angst vor schlecht beleuchteten Tiefgaragen oder dunklen Kellern oder einsamen Straßen nach Einbruch der Nacht, einfach, weil sie vor gar nichts Angst hatte. Nicht einmal der Umstand, dass bisher erst ein Drittel der großen Studios und Apartments mit Blick auf die Hafenanlagen bewohnt war, flößte ihr Furcht ein. Im Gegenteil, sie genoss die Ruhe. Sie war gern allein, so wie jetzt, als sie den Mini auf ihren Parkplatz mit der Nummer 9 steuerte.
Neun war ihre Glückszahl, obwohl es sich ja eigentlich um eine Ziffer handelte. Sie schaltete die Scheinwerfer aus, und die mit reflektierender gelber Farbe an die Betonwand gemalte Nummer erlosch. Die laute Musik aus dem Radio des Cabrios hallte in dem fast leeren Parkdeck, Prince mit When doves cry. Sabine blieb noch ein paar Sekunden hinter dem Steuer sitzen, bis der Song aufhörte. Dann schaltete sie auch das Radio aus.
Die Stille wurde jetzt nur noch unterbrochen vom Summen der blassen Leuchtstoffröhren an der Garagendecke. Eine der Röhren flackerte unregelmäßig, obwohl sie eigentlich noch neu sein mussten. Aus einem Rohr an der Wand neben der Zufahrtsrampe tropfte Wasser. Die meisten anderen Parkplätze waren leer bis auf sechs oder sieben Wagen - ein Jaguar, zwei Porsche, ein BMW Cabrio und noch zwei, deren Marke Sabine nicht kannte.
Sie griff nach der Mappe auf dem Beifahrersitz. Plötzlich spürte sie ein Kribbeln zwischen den Schulterblättern. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, wie manchmal, wenn sie im Freibad ganz oben auf dem Sprungturm stand und hinunter auf das blaue funkelnde Viereck des Schwimmbeckens schaute. Ihre erste eigene Ausstellung als Künstlerin in einer wirklich angesehenen Galerie war ein Erfolg!
Sie stieg aus und nahm die Mappe mit den neuen Zeichnungen vom Beifahrersitz. Der Galerist, in dessen Räumen die Ausstellung stattfand, hatte sie gebeten, für einen reichen Sammler exklusiv eine Handvoll kleiner Tuschskizzen vom verlassenen Hafengelände anzufertigen. Der Sammler hatte angeregt, die Skizzen noch mit Farbkreide oder vielleicht sogar Watercolor zu Pop-Art-Motiven aufzublasen, als Kontrast zum Schwarz und Weiß der Entwürfe. Aber sie hatte eine bessere Idee, nicht so retro, kein kopierter Warhol oder Lichtenstein.
Sie ging zur Rampe, um das Garagentor zu schließen. Die Zufahrt wurde von zwei Lampen beleuchtet, die an alte Schiffslaternen erinnerten. Der Himmel war klar und tiefblau, voller Sterne. Eine schlaflose Silbermöwe mit schneeweißen Flügeln schwebte lautlos unter dem Mond dahin wie ihr eigener Geist, dem Wasser entgegen. Was man von da oben alles sehen konnte, und wie weit weg es war: der Hafen, die rostigen Skelette der letzten Kräne, der Fluss, die Kais und die Lagerhallen.
Die ganze Welt lag unter einem, auch die neue Wohnanlage, die hier am Wasser gebaut wurde, Legohäuser, weiße Betonquader mit bodentiefen Fenstern, modern und sauber, wie Sabine es gernhatte - sauber und übersichtlich, alles andere auf Möwendistanz, der ganze Rest. Hier hört dich keiner schreien, hatte Regine, ihre beste Freundin, bei ihrem ersten Besuch gesagt. Und Sabine hatte gelacht, weil sie nie schrie, wäre ja noch schöner.
Sie zog an der Kette, die das Rolltor in Gang setzte, wartete aber nicht, bis es sich schloss. Stattdessen wandte sie sich ab und ging zur Eisentür, die zum Treppenhaus führte. Als sie an einem der Stützpfeiler vorbeikam, bemerkte sie einen nassen Fleck über dem reflektierenden Leitstreifen und darunter die glitzernden Scherben einer zerbrochenen Wodkaflasche.
Die Kellertür war unverschlossen. Sie zog sie auf, hielt sie mit der linken Schulter offen und tastete mit der rechten Hand nach dem Lichtschalter an der Wand dahinter. Sie hörte ein Klicken, aber sonst geschah nichts. Bis zum Fahrstuhl waren es nur ein paar Schritte, die sie im Dunkeln zurücklegte. Sie drückte auf den Rufknopf. Der Knopf leuchtete auf, und mit einem fernen Ruck setzte sich die Liftkabine in Bewegung. Ein leises Surren ertönte, als der Lift langsam abwärtsglitt.
Sie lauschte. Hinter der Tür zu den Kellerräumen am anderen Ende des kahlen Gangs vernahm sie ein dumpfes Scheppern, leise und nur kurz. Als kippte etwas gegen eine Wand. Darauf folgte ein Scharren, näher und weniger gedämpft. Es war nicht mehr hinter der Tür, es war die Tür selbst. Sie öffnete sich einen Spalt und blieb so, fiel nicht wieder zu.
Sabine konnte nicht sehen, was sich hinter dem Spalt befand. Sie glaubte, jemand atmen zu hören, rsch, rsch, rsch. Aber dann dachte sie, dass es sich vielleicht um das Geräusch einer Waschmaschine handelte, deren Trommel sich langsam drehte. Obwohl es dafür eigentlich zu spät war, fast Viertel vor eins.
Die Tür bewegte sich einen Zentimeter, schwang weiter auf, noch weiter, dann wieder zurück, bevor Sabine dahinter etwas erkennen konnte. »Ist da jemand?«, fragte sie. Mit der Mappe unter dem linken Arm ging sie auf die Tür zu, gerade als der Lift im Kellergeschoss hielt. Durch das kleine Fenster in der Fahrstuhltür fiel ein Lichtkeil in den Gang. Das Surren erstarb. Sabine blieb stehen, kramte ihre Schlüssel aus der Tasche und kehrte um.
Ein erstickter Laut drang aus der Waschküche, lang gezogen, wie ein mechanisch verzerrtes Stöhnen. Es kam ihr vor, als hörte sie ihren Namen irgendwo in diesem Röcheln. Sie erstarrte. »Ist da jemand?«
Rsch, rsch, rsch. Nein, das war keine Waschmaschine, keine Wäsche, die sich in Seifenlauge drehte. Es waren Atemzüge, die nicht wie Atem klangen. Sabine starrte auf den schwarzen Spalt, der jetzt breiter wurde, nicht langsam wie bisher, sondern schnell, mit einem Ruck. Eine Gestalt tauchte auf, schien aus dem Spalt zu schnellen. Kein Mensch. Ein Wesen aus einem Science-Fiction-Film, schwarz, mit einem Insektenkopf.
Reglos starrte Sabine die Gestalt an. Ein Jux, dachte sie, jemand spielt dir einen Streich. Gleich fängt die Person an zu lachen, und dann musst du auch lachen. »Sabi.«, sagte die Gestalt. Es klang fast wie die Stimme eines Menschen, versetzt mit dem mechanischen Röcheln, und als sie näher kam und in das Licht des Fahrstuhls geriet, erkannte Sabine, dass es kein Science-Fiction-Wesen war, kein Alien mit einem Insektenkopf, sondern ein Mensch mit einer Maske und einer großen Ledertasche in der linken Hand.
»Sabine .«, sagte die Stimme noch einmal, ganz deutlich. Es war eine Männerstimme, und der Mann war jetzt so nah, dass sie ihn riechen konnte, Schweiß und Wodka und dazu Kunststoff, das Material der Gasmaske, die er trug, den schwarzen Gummianzug. Dicht vor ihr blieb er stehen, starrte sie nur an durch die Plexiglasaugen der Maske.
Rsch. Rsch. Rsch.
Renn, sagte eine Stimme in ihr, eine Stimme, die sie noch nie in ihrem Leben vernommen hatte. Renn weg, das ist kein Jux! Aber sie konnte sich nicht bewegen. Wie in einem Albtraum stand sie da, als wäre sie gelähmt. Sie presste die Mappe mit den Zeichnungen an den Oberkörper.
»Wer sind Sie?« Sie merkte, dass ihre Stimme zitterte. Wie früher, fuhr es ihr durch den Kopf, als ich klein war, wenn ich etwas angestellt hatte. Papa kam und - »Woher wissen Sie meinen Namen?« Reden, dachte sie, einfach weiterreden, so wie du früher immer geredet hast, wenn Papa mit dir böse war. Plötzlich erkannte sie, dass sie gar nicht immer glücklich und furchtlos gewesen war. »Was wollen Sie von mir?«
»Halt den Mund.« Rsch, rsch. »Nicht reden. Wir gehen in deine Wohnung.« Der Mann griff hinter sich, seine rechte Hand verschwand, und als sie wieder zum Vorschein kam, schimmerte etwas darin, glitt durch das Licht aus dem Fahrstuhl. Ein Messer, mit einer langen, schimmernden Klinge. Sabine erstarrte. Das Blut schien aus ihrem Herzen zu stürzen, mit einem kalten Ruck. »Ich wollte oben auf dich warten«, sagte die mechanische Stimme, »aber du hast ein neues Schloss, ich bin nicht reingekommen.«
Renn!
Sie ließ die Mappe fallen, versetzte dem Mann einen Stoß und rannte zu der Stahltür hinter sich. Sie hatte sie fast erreicht, als er ihren Arm zu fassen bekam und sie gegen die Wand schleuderte. Ihr Kopf prallte gegen den Beton. Sie verspürte einen heftigen Schmerz, hinter der Stirn und in den Zähnen.
»Das war dumm«, sagte der Mann mit seiner verzerrten Stimme. »Mach das nicht!« Er bückte sich zu seiner Tasche, die jetzt dicht beim Fahrstuhl auf dem Boden lag. Der Reißverschluss war halb offen. Aus dem Bauch der Tasche quoll etwas hervor, das aussah wie ein Trainingsanzug, daneben lagen ein Paar Handschellen und eine Art Schwert. »Das ist für oben in deiner Wohnung«, sagte er.
Sabine stieß sich von der Wand ab, warf sich gegen den Mann. Er taumelte zurück. Sie stürzte zum...
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