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Wendelin Weingartner
Ein Tiroler Gedenkjahr steht wieder vor der Tür. Alle 25 Jahre wird an den tapferen, aber letztlich erfolglosen Widerstand der Tiroler gegen die französisch-bayerische Übermacht erinnert.
Die bisherigen Gedenkjahre standen jeweils unter einem anderen Motto, das auf die jeweilige geschichtliche Situation Bezug nahm. Im Jahr 1859 war es der Aufruf zur Abwehr des Feindes aus dem Süden, denn italienische Freischaren unter der Führung Giuseppe Garibaldis bedrohten Tirol. Im Jahre 1909, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, war es das Treuegelöbnis an den Kaiser, das im Mittelpunkt der Feierlichkeiten stand. 1934 erklang der Appell für die Erhaltung der Unabhängigkeit Österreichs vor der drohenden Machtübernahme durch Nazi-Deutschland. Im Jahre 1959 standen die auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufrecht gebliebene Teilung Tirols und die bedrohten Rechte der Südtiroler im Mittelpunkt des Gedenkjahres. Schließlich wurde das Gedenkjahr 1984 unter das Motto gestellt: „Gemeinsam Tirol gestalten, Erbe und Auftrag.“ Die zusammenfassende Botschaft der Gedenkfeiern des Jahres 1984 war dann: Jeder soll an seiner Stelle ein Stück gemeinsames Tirol bauen.
Was wird das Motto des Gedenkjahres 2009 sein? Tirol in einer Identitätskrise? Neben allen Festveranstaltungen und patriotischen Umzügen, neben Festreden und neuen Gedenkstätten muss ein solches Gedenkjahr auch zu einer geistigen Auseinandersetzung über das gemeinsame Tirol im 21. Jahrhundert genützt werden. Ansatzpunkt hiefür könnte zunächst die Frage sein, wie die Aufträge aus dem letzten Gedenkjahr 1984 erfüllt wurden. Der damalige Südtiroler Landeshauptmann Silvius Magnago hat bei einem großen Treffen in Brixen, das in Vorbereitung des Gedenkjahres am 30. April 1983 stattgefunden hatte, erklärt: „Wir werden die Kleinmütigen, die resignierend von Entfremdung und Identitätsverlust reden, durch die Kraft unseres Selbstbewusstseins überzeugen, dass Tirol eine unzerstörbare Einheit ist und bleibt. Diesen Geist müssen wir vor allem auch der Jugend weitergeben, denn die Jugend ist die Zukunft und unsere Zukunft heißt: Ein Tirol.“
Die äußeren Bedingungen für ein gemeinsames Tirol haben sich zweifellos entscheidend verbessert: Keine Grenzbalken und keine Grenzkontrollen, keine unterschiedlichen Währungen und keine große Sorge mehr, dass deutsche Sprache und Kultur von außen gefährdet werden. Aber neue Gemeinsamkeiten wachsen nur sehr langsam, und manch alte Gemeinsamkeit wurde am Altar des Eigennutzes geopfert. Haben die Kleinmütigen und Resignierenden in Tirol die Oberhand gewonnen? Kann es noch eine Zukunft für die ursprüngliche Dimension des gemeinsamen Tirol geben? Für ein gemeinsames Tirol in einem Europa, in dem nationale Grenzen verblassen und gewachsene regionale Identitäten neue Bedeutung gewinnen? Einer Diskussion über diese Fragen darf im Gedenkjahr 2009 nicht ausgewichen werden.
Im Sinne des Völkerrechtlers Felix Ermacora ist Südtirol ein europäischer Lehrfall. Ein Lehrfall zunächst für all das, was einem Volk nicht angetan werden darf, ein Lehrfall für nationalistische Brutalität: Gebietsabtrennung ohne Selbstbestimmung, Verdrängung der angestammten Muttersprache, Aussiedlung unter falschen Verheißungen, versuchter Todesmarsch durch Unterwanderung, Folterung als Antwort auf verzweifelte Widerstände. Noch heute kann sich ein demokratisches Italien nicht von Symbolen faschistischer Macht trennen.
Südtirol ist aber auch ein Lehrfall dafür, dass es Wege geben kann, die Rechte einer bedrohten Volksgruppe zu schützen und damit den Konflikt zu entschärfen – durch eine international abgesicherte Autonomie. Wer aber in Sonntagsreden immer wieder versucht, Südtirol als Muster für die Bereinigung von Volkstumskonflikten anzupreisen, der vergisst, dass die Lösung für Südtirol nicht am Reißbrett konstruiert, sondern leidvoll gewachsen ist. Der verkennt auch, dass diese Lösung von einer klaren Trennung der Volksgruppen ausgeht, ja diese Trennung die Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit des Modells ist. Das System des Autonomiestatuts folgt dem Modell der Konkordanzdemokratie. Dieses Modell geht von der Fragmentierung der Gesellschaft in streng abgegrenzte Subsysteme aus und verteilt die Macht zwischen diesen Systemen. Diese Trennlinie ist im Fall Südtirol die ethnische Zugehörigkeit. Um Auseinandersetzungen zwischen den beiden ethnischen Teilen der Gesellschaft zu verhindern, ist im Autonomiestatut festgelegt, dass die Machtverteilung nicht nur vom Resultat des Konkurrenzkampfes um die Stimmen abhängt – wie in der normalen Konkurrenzdemokratie –, sondern auch durch die Beteiligungsgarantien, die für die einzelnen Volksgruppen festgelegt sind. Diese Beteiligungsgarantien sichern den beiden Volksgruppen – in gewissem Maße auch der ladinischen – die proporzmäßige Teilhabe an der Macht. Die Regelungen dieser Machtverteilung gehen sehr ins Detail.
Dieses für Südtirol gewählte Modell hat sich zur Lösung des Konfliktes zweifellos bewährt. Es zwingt die Eliten der gesellschaftlichen Subsysteme zur Kooperation. Nach den Auseinandersetzungen in den 1960er Jahren hat es zur Befriedung der Volksgruppen wesentlich beigetragen. Heute ist Südtirol eine friedliche, wohlhabende Region mit vielen eigenen Kompetenzen.
Für eine Diskussion zum Tiroler Gedenkjahr 2009 kann es aber nicht genügen, die Situation Südtirols nur aus dem Blickwinkel des Türspalts der Gegenwart zu betrachten. Wer den Türspalt erweitert und versucht, in die Zukunft des Landes zu blicken, für den ergeben sich zwei Fragen.
Zum einen die volkstumspolitische Frage: Die ethnische Fragmentierung ist die Voraussetzung dafür, dass der Volksgruppenschutz des Autonomiestatuts funktioniert. In dem Ausmaß, in dem diese Fragmentierung abgebaut wird, verliert das Statut seine Schutzwirkung. Vor allem in den urbanen Räumen Südtirols wird diese Trennung von der tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklung bereits überholt. Für die nächsten Generationen wird die Frage, welcher Volksgruppe sich jemand zugehörig fühlt, immer weniger eine zentrale Frage sein. Das beginnt beim Kindergarten und reicht über Schule bis zu Sport und Beruf. Die Aufweichung der ethnischen Trennung kommt daher nicht von oben, nicht von den politischen Eliten, deren Machtbefugnisse ja von dieser Trennung abgeleitet werden, sondern von unten.
Ist es dann nicht nur mehr eine Frage der Zeit, wann die von Italien angestrebte Assimilierung Wirklichkeit wird? Wird man da nicht an die Worte Degasperis erinnert, der im Mai 1953 als italienischer Ministerpräsident in Trient erklärt hat: „Einmal stimme ich mit Mussolini überein, der im Jahre 1938 feststellte, dass man, um Südtirol zu entdeutschen – stedeschizzare sagte er – die Südtiroler nicht isolieren dürfe, sondern am nationalen Leben teilhaben lassen müsse.“ Diese Assimilierung ist heute in den urbanen Räumen deutlich erkennbar. Außerhalb dieser Zentren ergibt sich allerdings ein anderes Bild. So scheint Südtirol auch räumlich fragmentiert.
Wer als Antwort auf diese Entwicklung die Re-Ethnisierung fordert, liegt zwar auf der Linie des Autonomiestatuts, aber wohl nicht auf der Linie der Entwicklung einer friedlichen Gesellschaft in Südtirol. Einer Gesellschaft, die auf das Wiederbeleben alter Feindbilder verzichtet. Um der „Entdeutschung“ Südtirols entgegenzuwirken, aber die friedliche Entwicklung nicht zu behindern, bedarf es neuer Strategien, die über das Autonomiestatut hinausgehen. Die Assimilierungsstrategie Italiens hat im nationalstaatlichen Denken ihre Wurzel. Die Überwindung dieses Denkens ist jenseits nationalstaatlicher Strategien zu suchen. In einem kosmopolitischen Europa der regionalen Differenzen jenseits nationalstaatlicher Grenzen.
Die zweite Frage ist, inwieweit die mit dem Autonomiestatut verbundene ethnische Fragmentierung der Gesellschaft Potentiale für künftige Entwicklungen einschränkt. Also die Frage, ob damit auch die Möglichkeiten für Südtirol – aber auch für das Bundesland Tirol –, als europäischer Verbindungsraum zu wirken, geschmälert werden. Kann diese ethnische Trennung nicht auch zu einer geistigen Enge führen und zu einer Einschränkung der kreativen Elemente? Werden nicht die Möglichkeiten der Energien, die sich aus dem Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen ergeben, eingeschränkt? Besteht nicht die Gefahr, dass das Land sich als Gegengewicht zu dieser möglichen Enge manchen Modernismen ausliefert? Führt diese Situation nicht zwangsläufig auch zu einem Kleinstaatsdenken mit all seinen Folgen?
So ist die Autonomie heute zweifellos ein sicheres Fundament. Zweifellos ein großer Erfolg konsequenter Politik Südtirols. Aber sie kann nicht Endpunkt sein. Das Schlagwort der „dynamischen Autonomie“ wird oft gebraucht. Aber wie soll die Autonomie dynamisiert werden? Vielleicht durch mehr Kompetenzen für die Provinz, aber damit wohl auch durch mehr Abhängigkeit von römischen Geldtöpfen. Vielleicht wäre es doch an der Zeit, auf dem Fundament der Autonomie ein neues Projekt zu wagen.
Ein Projekt, das allen Teilen Tirols...
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