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Sommer 1979: Der Mantel Marias
Heute würde ich mein Erlebnis als Schlüsselerlebnis bezeichnen. Damals habe ich seine Bedeutung nicht einschätzen können. Anfangs war ich schockiert. Später versuchte ich nachzudenken. Was war das? Eine Berührung? Eine Vision? Ein kurzer Moment der Erkenntnis, den die Gestaltpsychologen als Gestalt- oder Ganzheitserlebnis bezeichnen?
Inzwischen kann ich verstehen, was damals geschehen ist. Die kurze Begegnung vor dem Bild der Madonna hat eine Wahrheit zum Vorschein gebracht, die schon lange in meinem Unbewussten gespeichert war. Doch wie so oft bei diesen Dingen - sie zu erklären fällt mir nicht leicht. Der jüdische Philosoph Martin Buber (1995) hat sich ausführlich mit Vorgängen dieser Art auseinandergesetzt. Der gebürtige Österreicher gilt als ein Pionier der Erlebnispädagogik (Michl 2015), einer reformpädagogischen Strömung, die während der 1920er-Jahre vor allem im deutschen Sprachraum verbreitet war. Buber hat ihre psychologischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen ausformuliert.
Man kann die Wirklichkeit »er-fahren« und »er-leben«. Erfahrungen sind zielgerichtet. Ihr Fokus liegt auf den Dingen, die uns von Nutzen sind. Wir halten fest, was uns auffällt, »zerlegen« es in seine Eigenschaften und verwenden dabei die Begriffe, die wir kennen. Auf diese Weise wird jedes Erlebnis zu einem Bestandteil unserer allseits bekannten und miteinander geteilten Welt. Erfahrungen kann man »machen«. »Gemachte« Erfahrungen lassen sich ändern, indem man einzelne Komponenten anders interpretiert. Man kann sie auch vollständig rückgängig machen, indem man ihre Bestandteile vollkommen neu definiert.
Meine Begegnung ist keine Erfahrung, die sich beliebig umdeuten lässt. Ich betrachte sie als Erlebnis, das mein Leben verändert hat. Zwischen Erfahrungen und Erlebnissen besteht ein deutlicher Unterschied. Erlebnisse begegnen uns oft unerwartet - wie das Lächeln der Kommilitonin in der Studentengemeinde vor langer Zeit - oder der Anblick der halbverfallenen Dörfer auf der Reise zum Montserrat -, plötzlich, von einem Moment zum anderen, treten sie auf - wir können sie nicht planen oder kontrollieren. Jedes Erlebnis ist ein elementares Ereignis, das alle Bereiche unseres Daseins umfasst - unseren Körper und unseren Geist, unser Denken und unser Gefühl. Man kann ein Erlebnis verdrängen oder vergessen - aber ändern kann man es nicht. Vielmehr bringen Erlebnisse alte, vergessene oder verdrängte, aber auch neue, noch unbekannte Facetten unserer Realität ans Licht. Etwas von dieser Art ist mir auch auf dem Montserrat »widerfahren«. Es ging mir so wie dem Trommler im Märchen der Brüder Grimm (Drewermann 1992). Ich fing an, mich zu erinnern. Und eines war bereits klar: Ich würde nicht mehr weitermachen können wie bisher.
Ich und Du
Es erweitert unser Verständnis für den Glauben und seine Quellen, wenn wir genauer betrachten, wie Martin Buber Erkenntnisprozesse deutet und analysiert. Wir verdanken ihm eine Entdeckung, die die Sozialwissenschaften revolutioniert. Der psychologisch gebildete Soziologe betrachtet die Erkenntnistätigkeit des Menschen als »dialogisches« Geschehen, das heißt als einen Vorgang, an dem zwei verschiedene Seiten beteiligt sind - ein »Ich« und ein »Du« (Buber 2006). Mein »Ich« ist der Mittelpunkt meiner Realität. Was ich als wirklich erlebe - Maria, den Schmuck, den sie trägt, die Kirche mit ihren Gewölben, den Berg und das Hochland, das ihn umgibt -, ist so nur vorhanden, weil ich es so sehe. Wenn ich sterbe, erlischt mein irdisches Ich, und mit ihm vergeht dann auch meine Welt. Doch unser Ich ist nur schwer zu erfassen. Wir merken erst, dass wir da sind, wenn wir auf andere stoßen, die von uns verschieden sind. Auch diese, die anderen, sind ein Bestandteil unserer Welt. Der romantische Philosoph Johann G. Fichte, ein gebürtiger Ostpreuße und ein großer Verehrer Immanuel Kants, Professor in Jena und später Rektor der neu gegründeten Friedrich-Wilhelms-Universität (heute der Humboldt-Universität) in Berlin - hat sie dem »Nicht-Ich« zugeordnet, einem Begriff, der alles bezeichnet, was sich von mir als dem »Ich« unterscheidet (Fichte 1997). Nach Buber setzt sich das Nicht-Ich aus zwei verschiedenen Seiten zusammen, die vom Blickwinkel des Betrachters abhängig sind - dem lebendigen »Du« und dem gegenständlichen »Es«. Die Welt des Es besteht aus »Gegenständen«, das heißt aus »Sachen« oder »Sachverhalten«, die uns schaden oder nützen können. Mit ihnen gehen wir um. Das Du hingegen ist aktiv. Wenn wir die Welt als Du betrachten, wird sie zu einem »Gegenüber«, mit dem wir im Austausch stehen. Das Du verhält sich nicht immer, wie wir es von ihm erwarten. Es folgt seiner eigenen Logik, überrascht uns mit Dingen, an die wir nicht denken, und bringt dabei Fragen zum Vorschein, die wir beantworten müssen, weil unser Leben von ihnen abhängig ist. Das Du ist der Spiegel, in dem wir uns selber sehen. Es reflektiert unser inneres Sein - Wünsche, Gedanken oder Gefühle -, eine komplexe Gesamtheit, die in vielfacher Hinsicht mit dem äußeren Sein in Verbindung steht. Bei mir ist ein Schleier gefallen. Plötzlich konnte ich sehen, was er verborgen hatte. Ich fragte mich, warum ich Gott bekämpfte, und was mich immer noch mit ihm verband. Mich in der Rolle seines Verfolgers zu sehen bestürzte mich. Was uns das Du offenbart, ist oft schwer zu verkraften. Um in den Spiegel zu schauen, müssen wir tapfer sein.
Das Ich und das Du, so können wir formulieren, setzen einander voraus. Das Ich und das Nicht-Ich, schreibt Fichte, konstituieren sich wechselseitig. Buber bezeichnet die Menschen als »dialogische« Wesen, deren Denken, Fühlen und Wollen als kommunikativer Vorgang anzusehen sind. Zu kommunizieren bedeutet, sich auszutauschen. Wenn wir etwas erleben, kommunizieren wir mit einem Gegenüber, das uns etwas zu zeigen oder zu sagen hat. Nach Buber kann dieses Gegenüber aus verschiedenen Partnern bestehen - unbelebten und belebten Dingen, Pflanzen, Tieren und Menschen, anderen oder uns selbst. Sie alle bilden unsere Welt - ein lebendiges Ganzes, mit dem wir im Austausch stehen.
Ich halte diese Entdeckung für eine fundamentale Erkenntnis, die unser Denken verändert hat. Der Austausch des Ich mit dem Du findet ständig statt. Er ist so real wie der Umgang des Ich mit dem Es - wir senden und empfangen, ob wir wollen oder nicht. Man kann nicht nicht kommunizieren, schreibt der österreichische Psychologe Paul Watzlawick (Watzlawick/ Beavin/ Jackson 2017). Selbst wenn wir allein sind, kommunizieren wir. Wir betrachten, was wir erleben, und denken darüber nach. Wir überlegen, was sich ereignet und was uns dabei geschieht. Aber solange wir denken, kommunizieren wir mit uns selbst. Wir werden zu unserem eigenen Du. Jedes noch so kleine Erlebnis - und sei es nur ein Gedanke - ist eine Begegnung, und jede noch so kurze Begegnung enthält eine Botschaft, die sich entschlüsseln lässt.
Das große Du
Man kann vielleicht sagen, dass Buber zu den letzten Vertretern der Deutschen Romantik gehört. Wie Fichte, Hegel und Schelling ist ihm bewusst, dass die menschliche Realität nicht aus simplen, erkenntnisunabhängigen Fakten, sondern aus komplexen Beziehungen und Zusammenhängen besteht, verzweigten Strukturen, die man mit dem Philosophen und Sprachwissenschaftler Johannes Heinrichs (2014) als Subjekt-Objekt-Beziehungen ansehen kann. In allem, was wir als wirklich erkennen, zeigt sich unsere persönliche und menschliche Natur - mit allem, was wir haben oder sind. Aber natürlich stellt sich die Frage, woher wir kommen und wer hinter uns steht. Wie die frühen Vertreter der romantischen Schule behält auch Buber das Ganze im Blick. Alle Erlebnisse hängen zusammen. Ob Stein oder Pflanze, Tier oder Mensch - in jeder Begegnung erscheint uns dieselbe Realität, ein Wesen, das alles durchdringt und umfasst. Hegel bezeichnet es als den »Geist«, Schelling und Marx - unter unterschiedlichen Vorzeichen - als die »Natur«, und Jung, der Begründer der Tiefenpsychologie, als unser »kollektives Unbewusstes«. Buber, ein gläubiger Jude, nennt es das »ewige Du«, das heißt, er sieht es als die eine, alles umfassende, aber auch übergreifende Realität - das eine große Gegenüber, das an jeder Interaktion beteiligt ist. Buber verzichtet darauf, diese Entität zu benennen. Ich nenne sie Gott.
Soweit der jüdische Philosoph. Wenn Buber recht hat, bin ich Gott begegnet - ganz sicher nicht zum ersten Mal, aber doch so, dass ich ihn hören musste.
Herbst 1979: Am Fluss
Diese relativ kurze Begegnung - das Schlüsselerlebnis vor dem Gnadenbild der Madonna - löste in mir eine tiefe, lang anhaltende Krise aus. Anfangs hielt ich meine Gefühle für überspannte Phantastereien - Grübeleien eines skrupulösen Menschen, der Gefahr lief, an sich selbst zu scheitern. Aber allmählich musste ich anerkennen, dass sie mit anderen Dingen zusammenhingen, die sich nicht so leicht abtun ließen. Ich ging an die Isar, saß lange am Ufer, suchte mir flache Kiesel und ließ sie über das Wasser springen. Während ich zusah, dachte ich an die Spaziergänge mit meinem Vater zurück, Gänge ins Freie, die zu den festen Bestandteilen meiner Kindheit gehörten. Wir streiften an der Rur entlang. Der Fluss, berühmt für sein weiches Wasser, kam aus der Eifel, durchquerte die...
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