7 Das Hohelied der Arbeit
Als hätte die Glocke - als Goethes wandelnde Glocke - ihn gerufen, war er überzeugt, er würde den Weg zum Urheber der Glasfenster von Genf finden ("Die Glocke tönt, und so ist dir's befohlen"). Da er in der Bibliothek die Memoiren Max Pechsteins nicht fand, suchte er im Antiquariat nach ihnen und fand eine wie von Pechstein persönlich gestaltete Ausgabe mit 105 Zeichnungen des Künstlers, einen Nachdruck der 1960 im Limes Verlag erschienen Ausgabe (das war der Verlag Gottfried Benns), von der Deutschen Verlagsanstalt in ein warmes weiches Leinen gebunden, das ihm in der Hand lag wie ein uraltes in Samt gebundenes Gesangbuch.
Der Leser will es dem Herausgeber der "Erinnerungen", dem Direktor der Berliner Nationalgalerie, kaum glauben, wenn er darauf hinweist, dass Hermann Max Pechstein seine Memoiren einer Sekretärin diktiert habe, frei aus dem Gedächtnis, denn der Krieg hat viele Zeugnisse dieses ereignisreichen Lebens zerstört. "Aber eine Neigung zum Nachdenken, zur Rückschau ist mir geblieben." Auch die Bilder, von denen er spricht, wird er nicht beleghaft um sich gehabt haben, keine Kunstbände und Kataloge, wie Pitt sie jetzt besitzt.
Und da ist jetzt die Seite 111 und zwischen einem Angler an wildbewegtem Wasser oben rechts auf der Seite und einem Angler an einem stillen See links unten der elektrisierende Text, den Max Pechstein 1946 diktiert hatte: "Noch im Jahr 1926 fertigte ich im Auftrag der Reichsregierung eine fünfteilige Glasfenstergruppe an, die als Spende für das Internationale Arbeitsamt in Genf bestimmt war. Auf diesen Fenstern suchte ich das Hohelied der Arbeit zu singen. Im oberen Teil des Mittelfensters placierte ich die Glocke, deren Klang das Tagewerk bestimmt. Unter ihr und neben ihr gestaltete ich den Arbeiter in Eisen, linksseits den Bergarbeiter, als nächstes links den Bauer, die Landwirtschaft, rechts vom Mittelfeld den Bauarbeiter und abschließend den Transportarbeiter. Jedes dieser Fenster war figurenreich. Über ein Jahr arbeite ich daran bis tief in die Nacht. Ich hatte keinen Sonn- und keinen Festtag. Alle Gläser, die verwandt wurden, suchte ich selbst aus, bestimmte die Stärke der notwendigen Verbleiung, so wie ich als Muster für den Glasmaler das eine Fenster selbst in dem Schwarzlot wischte."24
Zur Schweiz hatte Pechstein eine glückliche Verbindung. Dort lebte in Montreux der Arzt Dr. Walter Minnich, der nicht nur seine Bilder sammelte, sondern sich auch als ein Mäzen der besonders großzügigen Art erwies. Er besuchte ihn häufig, korrespondierte mit ihm, und in den Jahren 1924 und 1925 stellte er ihm eine 3-Zimmer-Wohnung in Montreux zur Verfügung, von der aus er Reisen nach Italien unternahm, mit Ideen und Entwürfen zurückkehren und sie in der Atmosphäre des Genfer Sees ausarbeiten konnte. Seinem Freund Gerbig berichtete er, er könne von seinem zum See hinausgehenden Fenster den Dent du Midi und den Grandmont sehen. Und der Genuss ist doppelt: denn der Aufenthalt bedeutet in der schwierigen Zeit nach der Inflation, dass er seiner Arbeit "ohne Nahrungssorgen" nachgehen könne - "und dies will in jetziger Zeit viel heißen."25 Die finanziellen Sorgen lagen auch darin begründet, dass ihm der Kunsthändler Wolfgang Gurlitt Schaden zugefügt hatte.
Die Glasmalereien für Genf sind nicht am Genfer See entstanden. Doch das Erlebnis der grandiosen Szenerie am See mit seinem Perlenkranz anregender Städte, dem Gebirgspanorama und dem Licht, in dem sich die Wellen des Nordens und des Südens mischen, wird in der Berliner Werkstatt als frischer Eindruck wieder erfahren worden sein und geholfen haben, den Stress, das großformatige Werk für die ILO zu schaffen, als leichter empfunden zu haben. Hatte doch das Reich einen seiner prominenten Künstler in die Pflicht genommen, sein Geschenk zur Feier der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund würdig und sinnhaft zu gestalten!
Es ist nicht bekannt, ob Pechstein den künftigen Standort seines Werks in Augenschein genommen hat. Offenbar ist er sogar bei der Übergabe des Werks an die Genfer Hausherren nicht gegenwärtig gewesen. Der Auftraggeber und Spender des Werks war der Reichsarbeitsminister. Er hat das erste Fenster in Berlin gesehen, denn in einem Brief an Dr. Minnich schreibt der Künstler von seiner Hoffnung, dass sich der Minister "heute" mit dem Werk einverstanden erklären könne. Eine große Last wird von seinen Schultern gefallen sein.
Im Brief an Dr. Minnich von Anfang März 1926 finden wir ein Kurzprotokoll des Arbeitsprozesses. Für fünf Fenster des Treppenhauses musste er zahlreiche Studien ("figurenreich") machen, um seine Entwurfskartons vollenden zu können, jeder war 4 zu 1,50 Meter groß. Nach vier Wochen hatte er den ersten Karton fertiggestellt. Er müsse jetzt die Gläser aussuchen für diesen Karton und nach Ostern gehe er in die Werkstatt zur Arbeit - "es ist eine Arbeit von einem halben Jahr, die ich jetzt mit Entwürfen, Skizzen und fertigen Kartons in der Hälfte der Zeit leisten muss." Anfang April hatte er den letzten Karton in die Arbeit gegeben und "jetzt währt es nochmals 3 Monate, bis die Fenster fertig sind." Das Fenster, das der Minister gesehen hat, war schon Mitte Mai fertig.
Am 11. August 1926, zur Feier der sieben Jahre alten Verfassung des Deutschen Reiches, wurden die Fenster im Reichstag gezeigt. Der Künstler hat an diesem Tag alle fünf Fenster zum ersten Mal vereint gesehen - "und bin ich zufrieden". Er ist enttäuscht, dass sich der Minister oder sein Ministerium jenseits der formellen Akzeptanz weder positiv noch negativ zu der Arbeit geäußert habe. Sogar zur Pressekonferenz des Sponsors war er nicht eingeladen worden. War die deutsche Öffentlichkeit immer noch nicht bereit, den Schritt in den Völkerbund mit Überzeugung und ein bisschen Begeisterung zu gehen? Auch die Bürokratie des noch jungen Internationalen Arbeitsamtes, der Nutznießerin der staatlichen Bilderspende, erwies sich als lau oder ahnungslos. "Nicht einmal in der Festschrift des Int. Arbeitsamtes hat man unter der Veröffentlichung des Mittelfensters meinen Namen als Künstler genannt."26
Er ist skeptisch hinsichtlich der Höflichkeit auf dem Genfer Parkett, auf dem sich doch auch Diplomaten tummeln, und er vermutet, dass er wohl zur Übergabe des Werks in Genf nicht eingeladen werde - die er gewiss gern gemeinsam mit Dr. Minnich erlebt hätte. Jeder Künstler braucht PR, und so wolle er versuchen, wenigstens die Kartons zu den Fenstern in Berlin auszustellen. Wenn Pitt bedenkt, wie schwer es ihm gefallen ist, in den Besitz einer Fotografie des großen Werks zu gelangen, vermutet er, dass die Ausstellung kein großes Berliner Event gewesen ist.
Wenn es in der kunstgeschichtlichen Literatur nur diese knappen Informationen über die Entstehung der Glasmalereien für Genf geben sollte, würde Pitt von einem Skandal sprechen, der auch die Kunstgeschichte unter Anklage stellen müsste. In seinen Lebenserinnerungen widmet Max Pechstein keinem seiner wohl über 500 Werke so viele Zeilen wie seinem "Hohelied der Arbeit", dem er ja wohlbedacht, durchdrungen vom Gewicht seines Auftrags und in künstlerischem commitment in seinen Erinnerungen diesen pathetischen Titel gegeben hat. Hat das Werk überhaupt diesen Titel, oder dient er Pechstein nur zur Eigenwürdigung seiner Leistung und der Charakterisierung eines besonderen Sujets? Die Katalog-Werke mit allen Erläuterungen, ihrer kunsthistorischen Fundierung, den Interpretationen sind mit ungeheurer Gründlichkeit erarbeitet worden. Warum gibt es nur dürftige Informationen über das Werk für Genf? Pitt war froh, in einem Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart (1931) immerhin unter dem Stichwort Pechstein die "Glasfenster f. d. Internationale Arbeitsamt in Genf" unter den "Hauptgemälden"27 rubriziert zu finden.
Fündig zu werden im Katalog einer Ravensburger Ausstellung von 2016 mit dem so wunderbar auf das Genfer Gemälde passenden Titel "Max Pechstein - Körper Farbe Licht" hatte er gehofft. Dort gab es zwar das (nicht in der Ausstellung gezeigte) Bild des Glasgemäldes im Rathaus von Eibenstock von 190628, das im Jugendstil schwelgt, doch das Bild der harten Körperlichkeit der Arbeit in Farbe und Licht - ignoriert? Das nährt in Pitt den Verdacht, die landläufige Nichtbeachtung dieses Werks könne auch darauf zurückzuführen sein, dass die kunstgeschichtliche Kompetenz mittlerweile weitgehend in Frauenhand liegt.
Müsste nicht jeder anspruchsvolle Bildband, der das Lebenswerk Pechsteins belegt, eine Abbildung des fünfflügeligen Werks oder eines Flügels oder eines der 15 Quadratfelder aus einem der 5 Teile enthalten? Gut, das Werk ist immobil, es könnte in Ausstellungen höchstens im fotografischen Surrogat präsentiert werden, und in Auktionen spielt das unverkäufliche Werk keine Rolle. Was in der Öffentlichkeit oder bei den Aficionados der Kunsthallen nicht ins Bewusstsein getreten ist, hat gewissermaßen den Kopierschutz der...