Schweitzer Fachinformationen
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Seit meiner Pubertät trage ich fast nur Schwarz. Als es losging, konnte meine Mutter nicht verstehen, warum ich die adretten Blusen und Faltenröcke, die sie mir aussuchte, nicht mehr anziehen wollte. Mein Vater zog mich ständig mit der Frage auf, ob ich vorhätte, auf eine Beerdigung zu gehen. Diese Frage kann ich seit gestern mit einem eindeutigen Ja beantworten. Klamotten, die farblich für den Anlass passen, habe ich also mehr als genug, aber kaum was Adrettes, das meiner Mutter gefallen würde. Wenn ich jedoch eine Jeans zur Beerdigung trage, selbst wenn sie schwarz ist, wird sie mir das nie verzeihen, was rein rational gesehen Blödsinn ist, weil sie es natürlich nicht mehr mitbekommen wird. Sie ist tot. Aber ich höre sie trotzdem mahnen: »Tosca! Zieh was Anständiges an, es ist immerhin meine Beerdigung!«
Ich schlüpfe in ein schwarzes Etuikleid, das ich noch nie anhatte, das Preisschild hängt noch dran. Es sitzt etwas eng. Das ist vermutlich auch der Grund, weshalb es sein Dasein in den hintersten Ecken des Kleiderschranks fristet. Es war von Anfang an sehr unbequem, der Stoff ist viel zu starr, darin kann ich nicht atmen.
Wenn ich mich im Spiegel betrachte, sehe ich nur wenig, das mich an meine Mutter erinnert. Sie hat mich mit vierzig Jahren bekommen. Ich bin inzwischen ein ganzes Stück älter, als sie damals war, und sehe genauso alt aus, wie ich bin. Optisch bin ich Mittelmaß und habe traurige Mundwinkelfalten. Meine Mutter dagegen hatte eine alterslose Haut mit ein paar adretten Lachfältchen.
Da ich als junge Frau auf keinen Fall wie meine Mutter werden wollte, fand ich es in Ordnung, dass ich die Kluge und nicht die Schöne war. Aber klar, manchmal habe ich mich auch gefragt, wie es wäre, wenn ich so gut aussähe wie sie. Wäre ich dann Schauspielerin oder Schlagerstar geworden, wie ich mir das als Kind manchmal ausgemalt habe? Wären mir Männer in Scharen hinterhergelaufen, so wie ihr? Hätte mich das anders werden lassen, glücklicher oder oberflächlicher? Wäre mein Leben leichter oder schwerer?
Wenn das Wörtchen »wenn« nicht wär, wär ich längst schon Millionär! Auch ein Sprichwort, das meine Mutter gerne zitierte, vor allem wenn sie wieder mal darüber nachdachte, was gewesen wäre, wenn alles ganz anders gekommen wäre. Wenn die Deutschen nicht in Polen einmarschiert wären und einen Krieg begonnen hätten. Wenn meine Mutter nach dem Krieg nicht in Polen geblieben wäre. Oder wenn sie mit ihrem polnischen Mann und den Kindern nicht nach Bayern, sondern nach England oder Australien ausgewandert wäre, wo ein paar ihrer Freundinnen lebten, von denen manchmal Briefe kamen. Was wäre gewesen, wenn sie später statt meines Vaters einen richtigen Traummann geheiratet hätte, einen mit Tonnen von Geld, einen Gentleman, der sie nach Strich und Faden verwöhnte? Was hätte nicht alles aus ihr werden können, wenn das Wörtchen wenn nicht wär!
Irgendwann, als sie wieder mal mit dem »Was wäre, wenn« anfing, habe ich ihr erklärt, dass man das Leben nur vorwärts leben und rückwärts verstehen kann. Sören Kierkegaard, ein dänischer Philosoph, habe das gesagt, und er liege ganz richtig damit, er sei schließlich ein kluger Kopf gewesen. Meine Mutter, die weder von Kierkegaard noch Puccini jemals gehört hatte, sah mich spöttisch an und schüttelte dann den Kopf über mich, aber auch über diesen Mann mit dem komischen Namen, der keine Ahnung vom Leben haben konnte, sonst hätte er doch nicht so einen Blödsinn erzählt. Wusste er nicht, dass der Mensch über manche Dinge eben nie hinwegkommt und sich deshalb ausmalen muss, wie alles hätte auch anders kommen können?
Ich nahm diese Infragestellung eines Philosophen persönlich und fing eine Diskussion mit ihr an, die damit endete, dass ich ihr ihre fehlende Bildung und sie mir meine Arroganz vorhielt. Wir sprachen ein halbes Jahr lang nicht mehr miteinander. In Wahrheit, aber das wird mir eben jetzt erst klar, ist es so, dass ich über Vergangenes, das sich nicht mehr ändern lässt, genauso gerne nachdenke wie meine Mutter.
Ich stelle die Boombox lauter und beginne im Takt der Musik herumzutänzeln. Tanzen ist die Bewegungsart, die die meisten Muskeln beansprucht. Das habe ich mal irgendwo gelesen. Ich tanze am liebsten allein. Mit Grauen denke ich an den Tanzkurs in der Kleinstadt zurück, wo ich mit Jungs, deren Hände genauso schweißnass waren wie meine, auf der Tanzfläche herumschwanken musste. Meine Mutter dagegen war die Königin des Standardtanzes. Sie schwebte graziös übers Parkett und ließ sich wie eine Feder von ihren Tanzpartnern führen.
Wenn ich schon nicht so schön bin wie meine Mutter, hätte ich zumindest eine steile berufliche Karriere hinlegen können. Das war jedenfalls die Vorstellung meiner Mutter. »Mach was aus dir, Tosca!« Doch wenn ich ehrlich bin, habe ich mich lediglich in das unterbezahlte akademische Prekariat Berlins eingereiht. Zur Professorin habe ich es nie gebracht, sondern nur zur Lehrbeauftragten an einer unangesehenen Hochschule, was meine eigene Schuld ist. Ich habe nie meine Doktorarbeit zu Ende geschrieben. Da ist es wieder. Das »Was wäre, wenn«. Was hätte aus mir werden können, wenn ich nur diese verdammte Arbeit fertig geschrieben hätte!
Ich lasse mich aufs Bett sinken und schließe die Augen.
Der Nachmittag an der Hochschule war anstrengend. Es fiel mir nicht leicht, mich zu konzentrieren. Bei aller Liebe zur Lyrik und zu Emily Dickinson empfand ich es als Schwerstarbeit, einem Referat zu lauschen, dem der fehlende Enthusiasmus anzumerken war. Der Vortrag der Studentin sickerte zäh dahin wie der Springbrunnen in Ron Ferbers Hinterhof, bis jemand rief: »Ich kann diese Scheiße nicht mehr hören!« Die Bemerkung kam von Pia, der Studentin, die mir in diesem Seminar schon seit Semesterbeginn am meisten auf die Nerven geht. Heute sprach sie mir fast aus der Seele. Trotzdem antwortete ich ganz automatisch: »Lass deine Kommilitonin bitte weiter referieren.« Woraufhin sie mich wissen ließ, dass das Wort »Kommilitonin« militaristische Sprache sei. Mein Seminar sei sowieso völlig veraltet und aus einer weißen Perspektive gestaltet. Peng! Emily Dickinson sei extrem uninteressant. Peng! Und dann sagte sie zum Abschluss: »Du bist eben eine total veraltete Altachtundsechzigerin, Tosca.« Peng! Peng! Peng!
Sätze wie Pistolenschüsse, und jeder traf mich und rieb noch mehr Salz in die Wunde, dass ich auf ganzer Linie gescheitert bin. Wie dumm, dass ich ihnen allen das Du angeboten hatte. Leider holte ich nicht erst einen tiefen Atemzug, sondern sagte: »Sehe ich so aus, als ob ich Rudi Dutschke persönlich kannte?« Das löste Gelächter unter den Studierenden aus, dabei wussten sie wahrscheinlich nicht mal genau, wer das überhaupt war. Pia, der ein Teil des Spotts galt, denn sehr beliebt ist sie nicht, hatte mal wieder bewiesen, dass sie keine Ahnung hatte. So alt war ich nun wirklich nicht, dass ich ein Altachtundsechziger hätte sein können!
Ich hätte es bei dem einen Satz belassen sollen, aber stattdessen hielt ich Pia dann noch vor, dass sie doch selbst weiß sei und mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einer privilegierten Akademikerfamilie stamme, während ich mich aus der Arbeiterschicht hochgearbeitet habe. Für einen Hungerlohn müsse ich mir nun ihr Gesülze an dieser Hochschule anhören. Peng. Peng. Peng. Statt sachlich zu argumentieren, triefte ich vor Selbstmitleid.
Pia wurde rot, stand auf und schmiss wütend die Tür zu. Vielleicht hätte ich mich entschuldigen und erklären sollen, dass meine Mutter gerade gestorben ist und ich neben der Spur bin. Aber ich hatte keine Lust und auch keine Energie mehr, ihr nachzulaufen.
Nach dem Seminar ging ich zu meiner Chefin und bat sie um Sonderurlaub wegen der Beerdigung. Louise kondolierte mir mit den Worten: »Das ist natürlich schwierig.«
Zuerst dachte ich, sie meinte meine Situation, also dass es nicht leicht ist, die eigene Mutter zu verlieren. Mein zweiter Gedanke war, dass sich der Zwischenfall mit Pia schon rumgesprochen hatte. Dann erst dämmerte mir: Louise passt es nicht, dass ich eine ganze Woche Sonderurlaub brauche.
Als ich danach mein Handy vom Reparaturdienst abholte, heulte ich vor Erleichterung los und konnte gar nicht mehr damit aufhören, weil man Menschen eben nicht so einfach wieder ganz machen kann wie ein Handy. Der Gefühlsausbruch war mir peinlich, deshalb erklärte ich dem Mann im Laden, dass meine Mutter gerade gestorben ist. Er sah aus wie ein Bodybuilder und sprach einen Satz, von dem sich Louise eine Scheibe hätte abschneiden können: »Wallah, das tut mir voll leid für Sie.«
Das Einzige, was Louise dagegen beschäftigt, ist, ob mein veraltetes Altachtundsechziger-Seminar stattfinden wird oder nicht. Wenn ich daran denke, muss ich mich davon abhalten, ihr nicht sofort meine Kündigung per SMS zu schicken.
Ich hieve mich vom Bett und suche ganz hinten in meinem Schrank nach Pumps, die ich mir mal für eine Feier gekauft habe. Sie liegen noch im Originalkarton. Als ich hineinschlüpfe, spüre ich einen vertrauten Schmerz an der Ferse. Das ist der Grund, weshalb ich sie nie trage. Meine Mutter konnte mit solchen Schuhen sogar Walzer tanzen. Ich bin froh, wenn ich damit nicht am Friedhof umkippe. Nein, ich kann sie unmöglich tragen.
Meine Beine fangen schon wieder an zu zittern.
Ich mag keine Friedhöfe. Ich mag keine Krankenhäuser. Ich mag nicht, dass Menschen sterben. Was soll ich bloß tun? Ich könnte Flo anrufen. Oder Nele. Flo ist ein guter Zuhörer, Nele kennt die Lösung für fast alle Probleme. Sie hat mich zu Ron geschickt. Warum nur habe ich zu ihm gesagt, dass ich nicht weiß, was ich sagen soll? Das war gelogen. Ich wusste es...
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