Schweitzer Fachinformationen
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Dad sagte immer, ein Mensch braucht einen fabelhaften Grund, um seine Lebensgeschichte aufzuschreiben, wenn er will, dass jemand sie liest.
»Wenn man nicht Mozart heißt oder Matisse, Churchill, Che Guevara, Bond - James Bond -, dann sollte man seine Freizeit lieber damit verbringen, mit Fingerfarben zu malen oder Shuffleboard zu spielen, denn außer deiner Mutter mit den Wabbelarmen und der Betonfrisur und dem Kartoffelbrei-Blick, mit dem sie dich immer ansieht, möchte niemand die Einzelheiten deiner jämmerlichen Existenz hören, die zweifellos genauso enden wird, wie sie begonnen hat - mit einem Ächzen.«
Angesichts so rigider Parameter war ich bisher davon ausgegangen, dass ich meinen fabelhaften Grund frühestens mit siebzig finden würde, wenn ich Altersflecken und Rheumatismus habe, einen Verstand so scharf wie ein Tranchiermesser, ein kompaktes kleines Stuckhaus in Avignon (wo ich 365 verschiedene Käsesorten esse), einen zwanzig Jahre jüngeren Liebhaber, der auf dem Feld arbeitet (keine Ahnung, auf was für einem - jedenfalls ist es golden und leuchtet), und nachdem ich, mit ein bisschen Glück, einen kleinen Triumph auf dem Gebiet der Naturwissenschaften oder der Philosophie eingeheimst habe, der mit meinem Namen verbunden ist. Und doch kam die Entscheidung - nein, die zwingende Notwendigkeit -, zum Stift zu greifen und über meine Kindheit zu schreiben - vor allem über das Jahr, in dem sie aufgeribbelt wurde wie ein alter Wollpullover - sehr viel früher, als ich gedacht hatte.
Begonnen hat es mit schlichter Schlaflosigkeit. Da war es schon fast ein Jahr her, dass ich Hannah tot aufgefunden hatte, und ich dachte, ich hätte es geschafft, alle Spuren jener Nacht aus meinem Inneren zu tilgen, so wie Henry Higgins mit seinen gnadenlosen Sprechübungen Elizas Cockney-Akzent ausradierte.
Ich hatte mich geirrt.
Ende Januar lag ich wieder einmal mitten in der Nacht hellwach im Bett. Im Flur draußen war alles still. Spitze Schatten lauerten in den Ecken der Zimmerdecke. Ich hatte nichts außer ein paar dicken, anmaßenden Lehrbüchern, zum Beispiel die Einführung in die Astrophysik, und dem traurigen, stummen James Dean, der, eingesperrt in Schwarz und Weiß und mit Klebeband hinten an unserer Tür befestigt, auf mich herunterblickte. Als ich durch die fleckige Dunkelheit zu ihm schaute, sah ich, in mikroskopischer Klarheit, Hannah Schneider.
Sie hing einen Meter über dem Boden, an einem orangeroten Verlängerungskabel. Die Zunge - aufgequollen, kirschrot wie ein Küchenschwamm - hing ihr aus dem Mund. Ihre Augen sahen aus wie Eicheln oder wie stumpfe Pennymünzen oder wie zwei schwarze Mantelknöpfe, die Kinder für das Gesicht eines Schneemanns nehmen würden, und sie sahen nichts. Oder aber, und genau da lag das Problem, sie hatten alles gesehen; J. B. Tower schrieb, dass man im Augenblick des Todes »alles, was je existiert hat, auf einmal sieht« (obwohl ich mich fragte, woher er das wusste, da er in den besten Jahren war, als er Sterblichkeit schrieb). Und ihre Schnürsenkel - eine ganze Abhandlung könnte man über diese Schnürsenkel schreiben -, sie waren burgunderrot, symmetrisch, zu perfekten Doppelknoten gebunden.
Aber als ewige Optimistin (»Die van Meers sind von Natur aus Idealisten und positive Freigeister«, befand Dad) hoffte ich, dass das eklige Wachliegen eine Phase sein würde, aus der ich schnell herauskomme, eine Art Mode, so wie Pudelröcke oder Lieblingssteine, aber dann, eines Abends Anfang Februar, während ich gerade die Aeneis las, erwähnte meine Zimmerkollegin Soo-Jin, ohne von ihrem Lehrbuch für Organische Chemie aufzublicken, dass ein paar Erstsemester auf unserem Flur vorhätten, uneingeladen zu einer Party außerhalb des Campus zu gehen, die irgendein Doktor der Philosophie gab, aber mich wollten sie nicht mitnehmen, weil alle fänden, dass ich in meiner Grundhaltung mehr als nur ein bisschen »düster« sei: »Besonders morgens, wenn du zu deiner Einführung in die Gegenkultur der sechziger Jahre und die Neue Linke gehst. Dann wirkst du immer irgendwie so gequält.«
Das war natürlich nur Soo-Jin, die das sagte (Soo-Jin, deren Gesicht für Wut und Begeisterung denselben Ausdruck hatte). Ich bemühte mich, die Bemerkung auszublenden, wie einen unangenehmen Geruch aus einem Reagenzglas, aber dann fielen mir alle möglichen Dinge auf, die bei mir tatsächlich düster waren. Zum Beispiel, als Bethany am Freitagabend Leute zu einem Audrey-Hepburn-Marathon einlud, merkte ich, dass ich im Gegensatz zu all den anderen Mädchen, die auf ihren Kissen saßen, eine Zigarette nach der anderen pafften und Tränen in den Augen hatten, eigentlich hoffte, dass Holly ihre Katze Cat nicht finden würde. Wenn ich mir selbst gegenüber ganz ehrlich war, dann wollte ich sogar, dass Cat für immer wegbliebe und ganz allein vor sich hin miaute zwischen den kaputten Holzverschlägen in dieser schrecklichen Gasse in Hollywood, der bei diesem Sturzregen in weniger als einer Stunde vom Pazifik verschlungen würde. (Diesen Wunsch behielt ich natürlich für mich und lächelte entzückt, als George Peppard fieberhaft nach Audrey Hepburn tastete, die ihrerseits fieberhaft nach Cat tastete, die aber gar nicht mehr aussah wie eine Katze, sondern wie ein ertrunkenes Eichhörnchen. Ich glaube, ich gab sogar eins von diesen mädchenhaft quiekigen »Uuuh«-Geräuschen von mir, das perfekt zu Bethanys Seufzern passte.)
Und damit nicht genug. Ein paar Tage später war ich in meinem Kurs über Amerikanische Biographie, gehalten von Glenn Oakley, dem Assistenten mit dem teigigen Maisbrot-Teint und der schrecklichen Angewohnheit, immer mitten im Wort zu schlucken. Er redete gerade über Gertrude Stein auf dem Totenbett.
»>Was ist die Antwort, Gertrude?<«, zitierte Glenn in manieriertem Flüsterton, die linke Hand erhoben, als hielte er, mit gespreiztem kleinen Finger, einen unsichtbaren Sonnenschirm. (Er ähnelte Alice B. Toklas, mit dem Phantomschnurrbart). »>In diesem Fall, Alice, was ist die Fra-schluck-ge?<«
Ich unterdrückte ein Gähnen, schaute auf mein Heft und sah, dass ich in Gedanken mit seltsam verschnörkelter Schreibschrift ein sehr beunruhigendes Wort gekritzelt hatte. Leb wohl. Für sich betrachtet war es banal und harmlos, klar, aber ich hatte es, wie eine Irre mit gebrochenem Herzen, mindestens vierzigmal geschrieben, über den ganzen Rand der Seite - und auch noch ein bisschen über die vorhergehende.
»Kann mir jemand sagen, was Ger-schluck-trude mit diesem Satz ausdrücken wollte? Blue? Nein? Könnten Sie bitte etwas besser aufpassen? Wie wär's mit Ihnen, Shilla?«
»Das ist doch offensichtlich. Sie spricht von der unerträglichen Leere der Existenz.«
»Sehr gut.«
Es sah so aus, als hätte ich, trotz meiner Bemühungen, das Gegenteil zu tun (ich trug flauschige Pullis in Gelb und Rosa, frisierte meine Haare zu einem meiner Meinung nach höchst munteren Pferdeschwanz), mich genau dorthin begeben, wovor ich Angst hatte, seit das alles passiert ist. Ich wurde immer verkrampfter und verdrehter (nur Stationen auf dem Weg zu komplett verrückt), eine Frau, die dann mit vierzig jedes Mal zusammenzuckt, wenn sie irgendwo Kinder sieht, oder absichtlich in einen Schwarm Tauben fährt, die ganz unschuldig ihre Krümel aufpicken. Sicher, mir lief es schon immer kalt den Rücken hinunter, wenn ich irgendeine Schlagzeile oder Werbung las, die mich wider Willen daran erinnerten: »Stahlboss stirbt überraschend mit fünfzig, Herzstillstand«, »Camping-Ausrüstungen - Räumungsverkaufsfinale«. Aber ich sagte mir immer, dass jeder Mensch - jedenfalls jeder, der einigermaßen interessant ist - seine Narben hatte. Und auch mit Narben konnte man ja eher wie, sagen wir mal, Katharine Hepburn sein als wie Captain Queeg, was die allgemeine Lebenseinstellung und das Verhalten anging, und man konnte ein bisschen mehr Ähnlichkeit mit Sandra Dee haben als mit Scrooge.
Mein Abstieg in die Welt der Dunkelheit wäre vielleicht unaufhaltsam gewesen, hätte ich nicht an einem kalten Nachmittag im März einen ungewöhnlichen Anruf bekommen. Es war, fast auf den Tag genau, ein Jahr nach Hannahs Tod.
»Für dich«, sagte Soo-Jin und reichte mir das Telefon, den Blick auf ihr Diagramm 2114.74 »Aminosäuren und Peptide« gerichtet.
»Hallo?«
»Hi. Ich bin's. Deine Vergangenheit.«
Es verschlug mir den Atem, nein, eine Verwechslung war ausgeschlossen - die tiefe Stimme, Sex und Highways, halb Marilyn, halb Charles Kuralt, aber sie hatte sich verändert. War sie früher zuckrig und brüchig gewesen, so war sie jetzt breiig wie Haferschleim.
»Keine Bange«, sagte Jade. »Ich will nicht mit dir über früher reden.« Sie lachte, ein kurzes Ha!, wie wenn man mit dem Fuß gegen einen Stein kickt. »Ich hab aufgehört zu rauchen«, verkündete sie, offensichtlich stolz auf sich, und dann erzählte sie, dass sie es nach St. Gallway nicht aufs College geschafft habe. Stattdessen hatte sie sich, wegen ihrer »Schwierigkeiten«, in eine Institution »à la Narnia« einweisen lassen, wo man über seine Gefühle redete und lernte, Obst zu aquarellieren. Entzückt berichtete sie, dass auf ihrem Stockwerk, das heißt, auf dem relativ angepassten dritten Stock (»nicht so suizidal wie der vierte und nicht so manisch wie der zweite«) ein »echt berühmter Rockstar« untergebracht war und sie sich »nähergekommen« seien, aber wenn sie seinen Namen nennen würde, hieße das, dass sie alles preisgäbe, was sie in dieser zehnmonatigen »Wachstumsphase« in Heathridge Park gelernt hatte. (Jade betrachtete sich jetzt offenbar als eine Art...
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