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Freitag, 14. Oktober 2014, Nachmittag
Der Barmann stellt Wachtmeister Grossenbacher ein frisches Bier vor die Nase und wischt kurz mit einem Tuch über die Steinplatte. »Zum Wohl!«
Es ist ein düsterer Nachmittag, der mehr an einen Novembertag erinnert, als an einen stahlblauen Tag im Spätherbst. Der Barmann schaltet das Licht an. Seit Tagesanbruch ist es nie richtig hell geworden und zu allem Überfluss bleibt es für den Rest des Tages kalt und nass. Regenwolken verhüllen den Üetliberg. Der rote Punkt am Sendeturm blinkt unscharf.
Wachtmeister Paul Grossenbacher blickt auf seine Uhr. Halb vier. Jahrelange Erfahrung hat ihn gelehrt, wie man als Staatsbeamter das Wochenende verlängern kann. Zum Beispiel mit dem Besuch der Helvti-Bar. Und fürs Wochenende haben sie größere Pläne. Anna, seine Frau, hat ihn für ein verlängertes Weekend ins Hotel Castell nach Zuoz eingeladen. Damit sie gleich nach seiner heutigen Sitzung Richtung Oberengadin losfahren können, hat sie schon gestern Abend gepackt. Anna wird ihn oben im Balgrist abholen.
Grossenbacher steht schon seit einiger Zeit am Tresen und beobachtet die Regentropfen, welche über die großen Scheiben laufen, und sinniert nach dem zweiten Bier darüber, ob er vor seinem Besuch in der Klinik noch ein drittes bestellen soll. Er überlegt sich, wie es wohl wäre, wenn er dafür kein Geld zahlen müsste und stattdessen der Tauschhandel wiedereingeführt werden würde. Am Morgen hat er in der Zeitung gelesen, dass das Tauschen in vielen Internet-Communities wieder total hip ist. Tauschen hat gewiss auch seine Vorteile, denkt Grossenbacher. Warum sonst gibt es wohl Fernsehsendungen, die >Frauentausch< oder ähnlich heißen.
Aber was könnte er zum Tausch anbieten?
Vielleicht Gauner, Ganoven und Verbrecher?
Ganz fasziniert von diesem Einfall versucht er sich vorzustellen, wie viele Biere wohl ein erwischter Verbrecher wert wäre. Und ob er den Schurken über die Theke schieben müsste, wenn er noch ein drittes Bier bestellen will. Wie viel wohl ein Einbrecher wert ist? Zehn, zwölf Stangen vielleicht? Wenn er jeden zweiten Tag einen Dieb fangen würde, so wäre sein Bierkonsum gesichert. Ein befriedigender Gedanke. Was bekäme er wohl für einen Mörder? Grossenbacher ist überzeugt, dass ein gefasster Mörder mindestens ein Fass Bier wert sein muss. Aber was wäre, wenn eine Ermittlung nun länger dauern würde? Und das geschieht bekanntlich oft. Also, nehmen wir einmal an, denkt er, so zwei Wochen oder so, was ja immer noch schnell ist. Aber würde er während dieser Zeit kein Bier bekommen, weil er eben nicht bezahlen konnte? Müsste er, wenn er den Bösewicht nicht schnell genug ergreifen konnte, kläglich verdursten? Je länger er über diese Theorie nachdenkt, desto klarer wird ihm, dass der Tauschhandel wohl nur zum Nutzen der Verbrecher wäre. Und da es ja sein Job und der des Staates ist, genau gegen diese anzukämpfen, wird sich der Staat sicher hüten, das Tauschgeschäft wiedereinzuführen.
Schmunzelnd leert er die drei Zentimeter Restbier in sich hinein und versucht sich vorzustellen, wie in diesem Fall eine Finanzkrise aussehen würde.
Unvermittelt bricht Grossenbacher in lautes Gelächter aus. Die Barbesucher werfen ihm mehr als erstaunte Blicke zu.
»Man stelle sich das einmal vor«, prustet Grossenbacher los und kann sich kaum beruhigen. Wenn alle Gauner hinter Gitter gebracht sind und keiner mehr auf der Straße herumlaufen würde, so ergäbe sich sozusagen eine Verknappung des Geld-, sprich des Tauschflusses. Dies wiederum würde die Zinsen für ein Verbrechen in die Höhe schnellen lassen. Es ginge immer so weiter. Es würde eine Blase entstehen. Sie würde immer größer und größer bis zur Explosion. Was dann wiederum zu einer Negativspirale in den Geld- oder Tauschmärkten führen würde, die alles um sie herum mit sich reißen, bis schlussendlich die Weltwirtschaft in Trümmern am Boden liegen würde. Grossenbacher kommt zum Schluss, dass alles, was er von Wirtschaft versteht, sich hier vor ihm auf dem Tresen abspielt: Der Wirt schafft das Bier heran!
»Kann ich noch eine Stange haben?«
Der Wachtmeister dreht sich von der Theke weg, während er darauf wartet, dass der Wirt ein frisches Bier bringt, und stützt sich in klassischer Wildwestmanier mit beiden Ellenbogen auf die Bar. Etwas gelangweilt mustert er die Gaststube. Sein Blick fällt auf den kleinen runden Tisch unter der geschwungenen Holztreppe, die quer vor dem Fenster in den Essbereich des Restaurants hinaufführt. Wohl als Bestellanimation sind auf dem Tischchen leere Rotweinflaschen aufgereiht. Aber wer bestellt eine leere Flasche? Wieder einmal bricht der scharfsinnige Polizist in ihm durch. Er schafft es einfach nicht, auch sein Hirn ins Weekend zu schicken. Wie eben jetzt, wenn er die dicke Staubschicht auf den Flaschen betrachtet, die sowieso mehr Lust auf Bier macht. Der Treppenabsatz endet neben dem Windfang. Noch weiter im Raum hängen große, mit Stuckatur verzierte Lampenschirme und beleuchten besonders kleine Tische. Den Wänden entlang angeblich moderne, darum unbequeme niedrige Lounge-Möbel. Auch vor den großen Fenstern zur Sihlbrücke hinaus sind diese Yogamatten aufgereiht. Durch die verspritzten Scheiben kann man die sich gegeneinander verschiebenden Trams und den stehenden Verkehr beobachten. Über die Dächer der Autokolonne hinweg erkennt man durch den Regenschleier kaum das kleine Restaurant, das jedes Mal, wenn man hinguckt, anders heißt. Einmal Tramstation, dann Bubu und im Augenblick Helvti-Diner. Auch wenn sich der Name dauernd ändert, sieht es aus wie eine alte Tankstelle. Und dann erblickt Grossenbacher einen Mann, der, so scheint es, ihn ebenso anstarrt wie er ihn.
Ein hagerer, rauchender Mann mit im Wind flatterndem weißem Bart und fast noch helleren aber ebenso langen Haaren. Er steht an die Wand gelehnt unter dem Vordach der alten Tramstation und glotzt ihn ungeniert an. Die abgetragenen Kleider passen nicht so recht zu dieser Stadt, in der es mehr Kleidergeschäfte als Einwohner gibt. Und noch weniger zur Jahreszeit. Und dann erkennt Grossenbacher den Alten wieder, der beinahe seinen Zigarettenstummel frisst. Es ist Saxer, ein stadtbekannter Clochard. Und mit dem Erkennen tauchen auch die passenden Bilder wieder auf. Bilder, die mit dem bärtigen Alten und mit seinem anstehenden Besuch im Balgrist zu tun haben. Der Film läuft beängstigend schnell rückwärts und stoppt abrupt bei einer Szene, Tage bevor Grossenbacher vor vier Jahren Saxer kennengelernt hat.
Es war an einem Tag, genauso verregnet wie heute, nur dass inzwischen vielleicht drei oder vier Jahre vergangen sind. Vielleicht waren es auch fünf, Grossenbacher ist nicht so gut im Rechnen. Damals hatte es wie heute vom frühen Morgen an ununterbrochen geregnet. Wachtmeister Paul Grossenbacher von der Kriminalpolizei des Kantons Zürich stand, wenn auch nicht in der John-Wayne-Stellung, doch ebenso wie heute, seit einiger Zeit am Tresen der Helvti-Bar und beobachtete das Regentropfenrennen an den großen Scheiben. Er wunderte sich darüber, dass die einen aufprallten und gleich auseinanderspritzten und die anderen, nachdem sie auf dem Glas auftrafen, in langen dünnen Fäden nur der Schwerkraft folgten. Grossenbacher fragte sich, wer diese Entscheidung traf? Den Wasserperlen war das ziemlich egal und so schmierten sie in Bächen über das Glas, sodass der Verkehr auf dem Stauffacherquai aussah wie zähflüssiges Gel. Die riesigen Buchstaben des OBER-Schriftzuges auf dem Dach des Swiss Casinos an der Gessnerallee drüben konnte man nur erahnen. Dumpf durchdrang das Glockengeläut der St.-Jakobs-Kirche das Rauschen vor der Tür. Es war genau 16 Uhr. Grossenbacher hatte an diesem Nachmittag ausnahmsweise etwas früher Feierabend gemacht und versuchte, sich nach dem zweiten Bier darauf zu konzentrieren, ob er noch ein drittes bestellen sollte.
Bea Pelli parkte das Dienstfahrzeug vor der Helvti-Bar auf dem Trottoir und schaltete gewissenhaft die Warnblinkanlage ein. Durch das Seitenfenster konnte sie ihren Chef am Tresen stehen sehen. Unbeweglich und starr. Eine eingefrorene Bewegung. Genau wie die wilde Sammlung halb fertiger Gipsfiguren, welche sie neulich durch das offene Tor in einem Hinterhof an der Badenerstrasse erspäht hatte. Polizeigefreite Bea Pelli wartete eine Minute. Es passierte nichts. Die Gipsfigur am Tresen bewegte sich nicht. Sie warf einen Blick in den Innenspiegel und zwängte eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr. Dann schaltete sie den Polizeifunk ein. Es war nur das Rauschen aus dem Orbit zu hören, darum drehte sie die Lautstärke aufs Minimum zurück. Im Außenspiegel sah sie den 2er am Stauffacher losfahren. Die Ampeln an der Kreuzung schalteten auf Rot. Ein Coop-Lastwagen bog in die Kasernenstrasse ein und eine Frau versuchte mit einem Regenschirm sich und den Kinderwagen, den sie vor sich herschob, trockenzuhalten. Pelli betätigte den Scheibenwischer und spähte wieder durchs Schaufenster in die Bar. Die Szene an der Theke hatte sich nicht verändert. Grossenbacher stand nach wie vor mit dem Rücken zum Ausgang. Nicht einmal die Hand mit dem halb vollen Bierglas hatte sich verschoben.
»Was ist denn jetzt schon wieder?« Grossenbacher grunzte in das Bierglas vor seinem Gesicht und nahm einen kräftigen Schluck, als ob er das Gesehene damit gleich wieder herunterspülen könnte. In der Spiegelung im Eiskübel auf der Theke hatte er einen gestreiften Dienstwagen entdeckt, der auf dem Gehsteig parkte und mit der Warnblinkanlage Aufmerksamkeit auf sich zog. Aus Erfahrung wusste er, das konnte nichts Gutes bedeuten. Stur schaute er darum in die der...
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