VORSPIEL - LONDON, 18. MAI 1730
Hans Kaspar Graf von Bothmer gibt in 10 Downing Street eine Abendgesellschaft und erzählt seinem Freund Georg Friedrich Händel vom Klützer Winkel
Dutzende Fackeln erhellen in der Downing Street die Fassade von Haus Nummer zehn, dem Bothmar-House, wo sich eben die dunkle, schwere Haustür öffnet. Als wäre dies ein Kommando, setzt sich eine lange Reihe von Kutschen in Bewegung, die entlang der nächtlichen Straße gewartet haben.
Es ist ein Donnerstag. Einmal im Monat an einem Donnerstag empfängt Hausherr Hans Kaspar Graf Bothmer einen Kreis hoher Herren aus der Londoner Gesellschaft. Damen sind nicht geladen. Bothmer lebt nun schon so lange in Downing Street, 10 Downing Street, dass seine Residenz Bothmar-House genannt wird. Eine weltberühmte Adresse sollte das Haus allerdings erst viel später werden und auch nicht mehr unter Bothmers Namen, sondern als Sitz der britischen Premierminister.
Dreißig, vierzig Gäste sind jetzt vom Grafen zu verabschieden. Alles drängt zum Aufbruch. Aber da es sich der Hausherr nicht nehmen lässt, jeden Gast in der Tür mit seinem kräftigen Händedruck und einem segnenden Wort in die etwas regnerische Londoner Mainacht zu entlassen, zieht sich der Abschied hin.
Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass bei Bothmer gute Laune gezeigt werden muss. Das Leben sei anstrengend genug, pflegt der Graf zu sagen. Und die Arbeit in der Deutschen Kanzlei sowieso, der Bothmer seit vielen Jahren vorsteht und deren Umkreis auch die meisten der Gäste in 10 Downing Street angehören. Also wollen wir uns amüsieren, setzt der Graf dann gern hinzu, während er sich in echter oder gespielter Vorfreude seine Hände reibt, was ein trockenes Geräusch erzeugt.
So kommt es, dass nur vorsichtig über Ernstes und gar Politisches gesprochen wird, über das Verhältnis zwischen dem Welfenhaus in Hannover und dem Welfen Georg II., dem König auf dem englischen Thron. Kaum über den Hof und schon gar nicht über das mächtige Parlament, das Misstrauen zwischen der katholischen Partei und der protestantischen, die Heiratspolitik und sonstige üble Machenschaften. Nur hinter vorgehaltener Hand wird über die einflussreiche Deutsche Kanzlei und ihre vielen ebenfalls mächtigen britischen Widersacher gesprochen.
Streng hält man sich in Downing Street an das Gute-Laune-Gebot. In der großen Runde ist nur Lachen zu hören. Ernste Gesichter erscheinen allein in irgendwelchen Ecken, und dann gehören zu ihnen immer nur vier Augen. So ist denn auch beim Abschiednehmen immer wieder lautes Lachen aus der Diele des Hauses zu hören. Der alte Osborne erzählt den Umstehenden von seinem neuen Pferd, einem edlen Blut natürlich. Vor zwei Tagen habe er es dem König vorzustellen die Ehre gehabt, sagt er. "Majestät drängt auf so etwas, und ich weiß nicht recht, ob es daran liegt, dass Majestät ein Pferdenarr ist, ein Deutscher oder ein Neidhammel. Jedenfalls führe ich Totila heran, das Pferd so stolz wie ich, wie Ihr Euch vorstellen könnt. Und was macht der teure Gaul?
Meine Aufregung muss sich auf ihn übertragen haben. Er mistet. Er scheißt vor seiner Majestät und will damit überhaupt nicht wieder aufhören."
"Ein Pferd des Parlaments", lacht Thackeray.
"Vielleicht katholisch", bemerkt Sedley.
"Oh, nein, Thackeray. Wer Totila heißt, ist nun einmal so oder so ein König, selbst als Pferd", mischt sich Oberst Crawley ein. Und zu Sedley gewandt sagte er: "Und ein Totila ist auch niemals katholisch, eher hält er es mit Wotan."
In das Lachen hinein nimmt Osborne wieder das Wort: "Majestät sah es jedenfalls gelassen. Osborne, sagte Majestät, jetzt müssen wir beiden hineintreten. In die Scheiße, sagte Majestät doch tatsächlich. Das bringe Glück. Der Haufen dampfte noch. Aber ." An dieser Stelle wird der alte Osborne abberufen. Seine Kutsche ist soeben vorgefahren. Gastgeber Bothmer an der Tür winkt ihn heran.
Haxthausen, der noch auf der Schwelle zum Saal steht, weil der Andrang in der Diele derart groß ist, unterhält die Gesellschaft um ihn herum derweil mit einem Witz. "Stehen zwei Herren vor einer Aktdarstellung. Sagen wir, es sind Thackeray und Crawley. Fragt Thackeray, ob die Dame auf dem Bild sich ankleide oder auskleide, denn es sind auch lauter Kleidungsstücke um die Dame herum verstreut zu sehen. Geht der gute Crawley näher an das Bild heran und sagt: Thackeray, die Sache ist klar, die Dame kleidet sich an. Thackeray natürlich: Wieso, wieso? Crawley: Hier steht doch - nach dem Stich eines alten Meisters." Crawley gilt als Schwerenöter. Nicht alle der ihm in der Londoner Gesellschaft angedichteten Frauengeschichten hat es tatsächlich gegeben, aber die meisten bestimmt.
Indes, auch Haxthausen kann seinen Erfolg nicht auskosten, denn nun steht sein Gefährt vor der Tür. Er muss eilen, will er den allgemeinen Abschied nicht durch eigene Schuld noch weiter in die Länge ziehen.
Nur dem armen Dobbin, einem hochgewachsenen und spindeldürren Major, fällt es sichtlich schwer, in dieser Gesellschaft ausreichend gute Laune zu zeigen und bereitwillig über alles und alle zu lachen. Ausgerechnet seine Kutsche steht ganz am Ende der Schlange. Er ist von Natur ein Pechvogel.
Nun kann keineswegs behauptet werden, dass Bothmers Gäste, obwohl sie so viel lachen, auch Grund zum Lachen haben. Im Gegenteil. Sedley drücken seine enormen Spielschulden, die sich womöglich noch in dieser Nacht weiter erhöhen, denn Sedley lässt sich bestimmt von Downing Street schnurstracks in die nächstgelegene Spielhölle fahren. Haxthausen hingegen befürchtet seit Längerem eine Intrige am Hof, die ihn zu Fall bringen will, und er fragt sich im Stillen, wer unter all den lustigen Herren in 10 Downing Street auf seinen Sturz wartet oder ihn gar betreibt. Er fürchtet, der Hausherr selbst gehört zu letzteren.
Auf den ist übrigens auch Thackeray schlecht zu sprechen. Tausende Reichsthaler hat er Bothmer gezahlt, damit der seinen Plan begünstige, eine besonders schnelle Postverbindung zwischen Hannover und London aufzubauen. Aber noch immer ist Thackeray über die Idee nicht hinausgekommen. Crawley schließlich fühlt sich von seiner jungen Geliebten, einer Bürgerlichen mit grandioser Oberweite, erpresst, die alles den Zeitungen erzählen will. Nicht auszudenken, wenn Mrs. Crawley, die reizende, einst mit viel Mitgift im Gepäck aus der nordamerikanischen Kolonie herübergekommene Cora, durch die Zeitung erfahren müsste, was ihren Mann derart oft am Hof im St.-James-Palast oder im Parlament aufgehalten hat. Sie würde mit Aplomb die Scheidung einreichen. Und er wäre politisch und gesellschaftlich erledigt. Ihn schaudert bei dem Gedanken, dass womöglich schon dies hier seine letzte Einladung bei Bothmer gewesen sein könnte. Der alte Osborne hingegen sorgt sich um seine Frau, die mit hohem Fieber darniederliegt. Den armen Dobbin schließlich quält, dass seine Länge es ihm nicht recht erlaubt, beim Warten auf Bothmers Handschlag unter der Tür an den Gesprächen teilzunehmen. Er versteht nichts, denn sein Kopf überragt alle. Er müsste sich in peinlicher Weise verbiegen, um von den Reden unter ihm etwas mitzubekommen. Steht er aber aufrecht, wie es sich für einen Militär nun einmal gehört, dringt nur ein Rauschen der Rede zu ihm herauf, ein allgemeines Gemurmel.
So ist es auch, als Berenger an ihn herantritt, der große Pferdekenner und Autor der vielbeachteten "History and Art of Horsemanship". Vermutlich geht es bei dem, was er Dobbin erzählt, wie eigentlich immer bei diesem Mann, um Pferde, weshalb Dobbin, um auch etwas zu sagen, auf das Geratewohl einwirft: "Ja, England ist das Paradies der Frauen, aber eine Hölle für die Pferde." Er trifft es nicht recht, denn Berenger sieht ihn entgeistert an und dreht sich von dem unglücklichen Offizier fort, übrigens in einer militärisch so exakten Kehrtwende, dass Dobbin bei aller Peinlichkeit doch ein wenig genießerisch schnalzen muss.
Auch Bothmer selbst ist natürlich im Herzen keineswegs unbeschwert. Keiner seiner Gäste weiß von dem, was dem Grafen schlaflose Nächte bereitet - für Bothmer mit seiner kräftigen Konstitution etwas ganz und gar Ungewöhnliches. Der Graf lässt nämlich seit einigen Jahren seinen Alterssitz bauen, und zwar auf dem Kontinent, im fernen Mecklenburg, wo er nach und nach riesige Ländereien erworben hat. Für die Londoner Gesellschaft soll es ein Geheimnis bleiben, dass Bothmer da inzwischen eine Art eigene Grafschaft besitzt.
Mit wem auch hätte er darüber reden können, ohne für verrückt erklärt zu werden? Jedenfalls mit keinem aus der Londoner Gesellschaft und niemandem aus der Deutschen Kanzlei. Mit Händel könnte er es vielleicht tun. Der ist Deutscher wie er und lebt seit...