Schweitzer Fachinformationen
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Heute morgen bekam ich ein Billett von meiner Tante: ob ich zum Lunch kommen könne? Ich weiß, was das heißt. Da ich jeden Sonntag zum Abendessen hingehe und heute Mittwoch ist, kann es nur heißen: sie wünscht eins ihrer seriösen Gespräche. Es wird äußerst ernst sein, entweder eine schlechte Neuigkeit über ihre Stieftochter Kate oder ein seriöses Gespräch über mich und meine Zukunft. An sich genug, einem die Laune zu verderben, doch ich bekenne, daß ich in der Einladung insgesamt nichts Unangenehmes sehe.
Ich erinnere mich an den Tag, als mein älterer Bruder Scott an Lungenentzündung starb. Ich war acht Jahre alt. Meine Tante war bei mir, und sie nahm mich mit auf einen Spaziergang hinter das Krankenhaus. Es war eine interessante Straße: auf der einen Seite Kraftwerk, Gebläse und Verbrennungsofen des Krankenhauses, alle summend und einen heißen Fleischgeruch ausstoßend; auf der andern Seite eine Reihe von Negerhäusern. Kinder, alte Leute und Hunde saßen auf den Veranden und betrachteten uns. Ich bemerkte mit Vergnügen, daß Tante Emily alle Zeit der Welt zu haben schien und willig beredete, was auch immer ich zu bereden wünschte. Etwas Außerordentliches, Gutes war geschehen. Wir gingen langsam, im Gleichschritt. »Jack«, sagte sie, mich fest an sich drückend und zu den Negerhütten hinüber lächelnd, »du und ich, wir sind doch immer gut miteinander ausgekommen?« »Yes ma'am.« Mein Herz tat einen heftigen Schlag, und hinten am Nacken kribbelte es wie bei einem Hund. »Ich habe eine schlechte Nachricht für dich, Kind.« Noch nie hatte sie mich so eng an sich gedrückt. »Scotty ist tot. Nun bist du der einzige. Es wird schwer für dich sein, aber ich weiß, daß du handeln wirst wie ein Soldat.« Wahr: es fiel mir leicht, zu handeln wie ein Soldat. War das alles, was ich zu tun hatte?
Das erinnert mich an einen Film, den ich letzten Monat draußen am Lake Pontchartrain gesehen habe. Linda und ich gingen aus, in ein Kino in einem neuen Vorort. Es war offensichtlich, daß sich jemand verrechnet hatte, denn der Vorort hatte zu wachsen aufgehört, und das Kino, ein rosa Stuckwürfel, stand ganz vereinzelt in einem Feld. Ein starker Wind warf die Wellen gegen den Deich; auch im Kino drinnen war der Krach zu hören. Der Film handelte von einem Mann, der bei einem Unfall sein Gedächtnis und folglich alles verlor: Familie, Freunde, Geld. Er kam zu sich als Fremder in einer fremden Stadt. Hier mußte er neu anfangen, einen neuen Platz zum Leben finden, einen neuen Beruf, eine neue Frau. Die Geschichte seiner Verluste war auf eine Tragödie angelegt, und er schien sehr zu leiden. Andererseits war seine Lage schließlich nicht so arg. Er fand binnen kurzem einen pittoresken Wohnplatz, ein Hausboot auf einem Fluß und ein sehr hübsches Mädchen, die Bibliothekarin des kleinen Ortes.
Nach dem Film standen Linda und ich vor dem Eingang und sprachen mit dem Geschäftsführer, oder hörten ihm eher zu, wie er sich beklagte: das Kino war fast leer, was mir gefiel, aber nicht ihm. Es war eine schöne Nacht, und ich fühlte mich sehr wohl. Über uns war der schwärzeste Himmel, den ich je gesehen hatte; ein schwarzer Wind trieb den See auf uns zu. Die Wellen sprangen über den Deich und bespritzten die Straße. Der Geschäftsführer mußte brüllen, um sich verständlich zu machen, und aus dem Trottoirlautsprecher gerade über seinem Kopf zirpte die Konversation zwischen dem Mann ohne Gedächtnis und der Bibliothekarin. Es war die Stelle, wo sie die Zeitungsstöße nach einer Spur seiner Identität durchsuchen (er hat die vage Erinnerung an einen Unfall). Linda stand unglücklich daneben. Sie war aus demselben Grund unglücklich, aus dem ich glücklich war - weil wir in einem Vorortkino draußen in der Ödnis waren, und ohne Wagen (ich habe einen Wagen, aber ich fahre lieber mit Bussen und Straßenbahnen). Ihre Vorstellung von Glück: ins Zentrum chauffiert zu werden und im Blue Room des Roosevelt Hotels zu dinieren. Dazu bin ich von Zeit zu Zeit verpflichtet. (Und es zahlt sich auch aus.) Bei diesen Gelegenheiten wird Linda so aufgeregt wie ich jetzt. Ihre Augen schimmern, ihre Lippen werden feucht, und wenn wir tanzen, streift sie mit ihren schönen langen Beinen leicht die meinen. In solchen Momenten liebt sie mich tatsächlich - und nicht, um sich für den Blue Room erkenntlich zu zeigen. Sie liebt mich, weil es dieser romantische Ort ist, der sie erregt, und nicht ein Film draußen in der Ödnis.
Aber all das ist Vergangenheit. Linda und ich haben uns getrennt. Ich habe eine neue Sekretärin, ein Mädchen namens Sharon Kincaid.
Seit vier Jahren lebe ich ohne besondere Vorkommnisse in Gentilly, einem Mittelklassen-Vorort von New Orleans. Gäbe es nicht die Bananensträucher in den Patios und die Eisenschnörkel am Walgreen Drugstore, würde man nie denken, in einem Teil von New Orleans zu sein. Die meisten Häuser sind entweder Bungalows im altkalifornischen Stil oder neumodische Daytona Cottages. Aber das ist es, was ich daran mag. Ich kann die »Alte-Welt«-Atmosphäre des French Quarter nicht leiden, auch nicht den gezierten Charme des Garden District. Ich habe zwei Jahre lang im Quarter gelebt, aber schließlich wurde ich überdrüssig der Birmingham-Businessmen, die blöd in der Bourbon Street herumgrinsen, und auch der Homosexuellen und Connoisseure in der Royal Street. Onkel und Tante bewohnen ein graziöses Haus im Garden District und sind sehr freundlich zu mir. Aber sooft ich dort zu leben versuche, verfalle ich zuerst in eine Raserei, die mich starke Meinungen zu verschiedenen Themen äußern und Briefe an Herausgeber schreiben läßt, und dann in eine Niedergeschlagenheit, in der ich stundenlang stocksteif liege und zu dem Stuckmedaillon an der Decke des Schlafzimmers hinaufstarre.
Das Leben in Gentilly ist sehr friedvoll. Mein Onkel betreibt eine Börsenmaklerei, und ich kümmere mich um ein kleines Filialbüro. Mein Heim ist die untere Wohnung eines erhöhten Bungalows, der Mrs. Schexnaydre gehört, der Witwe eines Feuerwehrmanns. Ich bin ein Modellmieter und ein Modellbürger, und es gefällt mir, alles zu tun, was von mir erwartet wird. Meine Brieftasche ist gestopft mit Identitätskarten, Bibliothekskarten, Kreditkarten. Letztes Jahr habe ich einen flachen, olivfarbenen Geldschrank gekauft, glatt und robust, mit doppelten Wänden als Feuerschutz: da habe ich meine Geburtsurkunde hineingelegt, das College-Diplom, die Ehrenvolle Entlassung, die G.??I.-Versicherung, ein paar Aktien und meine Erbgutbescheinigung: ein Anteil an zehn Morgen einer ehemaligen Entenjagd drunten im St. Bernard Bezirk - einziges Überbleibsel von meines Vaters vielen Begeisterungen. Es ist ein Vergnügen, die Pflichten eines Bürgers zu befolgen und dafür eine Quittung oder eine saubere Kunststoffkarte mit dem eigenen Namen drauf zu kriegen, die einem sozusagen das Existenzrecht bescheinigt. Wie es mich befriedigt, jeweils gleich am ersten Tag das Autoschild und den Bremsen-Sticker abzuholen! Ich bin Abonnent der Consumer Reports und besitze folglich einen erstklassigen Fernseher, ein (nicht gerade ruhiges) Klimagerät und ein sehr lang vorhaltendes Deodorant. Meine Achselhöhlen stinken nie. Ich höre aufmerksam alle Radiodurchsagen über geistige Gesundheit, die sieben Anzeichen von Krebs, und über sicheres Fahren - obwohl ich es, wie gesagt, vorziehe, den Bus zu nehmen. Gestern sprach einer meiner Helden, William Holden, im Radio ein Statement über den Abfall in der Landschaft. »Gestehn wir's ein«, sagte Holden. »Niemand kann was dran ändern - ausgenommen Sie und ich.« Das ist wahr. Ich bin seitdem achtsam gewesen.
An den Abenden schaue ich gewöhnlich fern oder gehe ins Kino. Die Wochenenden verbringe ich oft an der Golfküste. Unser Kino in Gentilly hat eine Inschrift am Vordach: »Wo Glück so wenig kostet.« Ich bin tatsächlich ganz glücklich in einem Film, sogar in einem schlechten. Andre Leute (so habe ich gelesen) horten erinnernswerte Momente ihres Lebens: den Sonnenaufgang, als man dem Parthenon entgegenstieg, die Sommernacht, als man im Central Park ein einsames Mädchen traf und mit ihr eine zärtliche und natürliche Beziehung einging (wie es in den Büchern heißt). Auch ich habe im Central Park einmal ein Mädchen getroffen, aber da gibt's nicht viel zu erinnern. Dagegen erinnere ich mich an den Moment, als John Wayne, in Stagecoach auf die staubige Straße fallend, mit einem Karabiner drei Männer tötete, und an den Moment, als im Third Man das Kätzchen Orson Welles im Torweg fand.
Meine Begleitung bei solchen abendlichen Ausgängen und Wochenend-Trips ist gewöhnlich meine Sekretärin. Ich habe bis jetzt drei Sekretärinnen gehabt, Marcia, Linda und nun Sharon. Vor zwanzig Jahren muß nahezu jedes zweite in Gentilly geborene Mädchen Marcia genannt worden sein. Etwa ein Jahr danach war es »Linda«. Dann Sharon. In jüngster Zeit, habe ich bemerkt, ist der Name Stephanie Mode geworden. Drei meiner Bekannten in Gentilly haben Töchter namens Stephanie. Letzte Nacht habe ich einen Fernsehfilm über einen Kernexplosionstest gesehen. Keenan Wynn spielte einen Physiker im Zwiespalt, der es oft schwer mit seinem Gewissen hatte. Er unternahm einsame Spaziergänge in der Wüste. Aber es war klar, daß es ihm in seinem innersten Herzen bei der Seelen-Erforschung sehr gut ging. »Welches Recht haben wir, zu tun, was wir gerade tun?« pflegte er, mit einer bitteren Stimme, seine Kollegen zu fragen. »Ich denke vor allem an meine vierjährige Tochter«, sagte er zu einem andern Kollegen und zog einen Schnappschuß hervor. »Welche Zukunft...
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