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»Erzähl mir mal deine Geschichte.«
»Ich hab keine Geschichte.«
»Komm, jeder Mensch hat seine Geschichte. Nun rück schon raus mit deinem Waisenhaus, deiner Ehe, deinen Selbstmordversuchen .«
»Ich mag diese Geschichten aber nicht. Du brauchst nichts von mir zu wissen. Ich wollte auch nichts von dir wissen, bis du mit deinem Wahnsinn angefangen hast.«
Jörg Fauser in Der Schneemann1
Eine junge Frau. Die ersten Kohlmeisen stehen gerade auf, beginnen vergnügt zu zwitschern, die Frau kommt von der Nachtschicht. Schließt die Haustür auf, geht mehrere Stockwerke hoch zur kleinen Wohnung unterm Dach. Erschöpft und ausgelaugt. Zu müde, um das alles langweilig zu finden. Ihr Freund ist wach. Nicht schon, sondern noch. Wohl auf Amphetamin, Speed. Ritalin, um genau zu sein. Wach und vorm Spiegel. Geschminkt und bemalt, in Unterwäsche. Ihrer. Irgendwas, Strapsgürtel, vielleicht ein Unterrock. Eine merkwürdige Begebenheit, das Bild in der Erinnerung verbuddelt wie Sachen, die man im Morgenrot eben schnell wegstopft und vergisst, jahrelang. Die man nie jemandem mitteilt.
Wenige Jahre vorher, schwer verliebt in England, schreibt der junge Mann seinem Vater, »vielleicht ist die wichtigste Erfahrung die einer nahtlosen Gespaltenheit in allem, was ich tue«.2
Etliche Jahre später, als Rebell im Cola-Hinterland im Jahr 2004 erscheint, ist in einer überregionalen Zeitung zu lesen, »Fauser wäre heute 60 Jahre alt und vergessen - wenn er noch lebte«. In der Tat war er zu dem Zeitpunkt im Buchhandel nicht vorhanden, erhältlich nur noch ein Titel bei winzigem Verlag ohne Vertrieb, Vertreter, Präsenz.
Unvergesslich blieb er dennoch, auch für viele, die selbst schreiben wollten - wegen Alles wird gut, wegen den Gedichten, seinem Journalismus, wegen Harry Gelb in Rohstoff. Der wiederum ist »ein Candide der Gegenkultur: nicht gänzlich passiv wie Voltaires Held, aber kaum politisch motiviert« (Clive Sinclair in The Times Literary Supplement) oder ein »zeitgenössischer Asphalt-Anton-Reiser«,3 erschaffen von einem »Autor, der gern den harten Mann markiert« (FAZ 1984) . und der seriell markige Sprüche absonderte1.
Kurz: nicht zu fassen.
Eine andere Erinnerung, zum Besten gegeben von einem Kollegen beim Tip, auch 2004 weggesteckt und nicht in der ersten Jörg-Fauser-Biografie erwähnt. Berlin, Anfang der 1980er-Jahre. »Da erzählte er mir . Da saß er mal in der Kneipe in der Potse, und da erzählte er mir, das ist die Kneipe, wo er immer mit dem - nicht immer . - wo er mal reingegangen ist und gesagt hat, er sei von der Lebensmittelkontrolle, zeigte ihnen einen Ausweis und ging hinter die Theke, nachschmecken, ob auch in jeder Flasche das Richtige drinnen ist. Da hat er alles ausprobiert, bis er auf dem Boden lag. Solche Geschichten hat er gedreht, das war ja auch ganz wichtig, aber . ich habe ihn nie erlebt, wenn er dann wirklich auf dem Boden lag.«4
Gut erfunden oder echt und ehrlich erlebt? Oder eben so nebenbei erzählt, Dichter in den Städten? »Das Leben ist immer da. Hier ist es und hier und hier«, wie die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung feststellte (»Die 25 besten deutschsprachigen Bücher der letzten 20 Jahre«). Nicht weggestopft und vergessen: »Der Rohstoff, das Leben, die Wirklichkeit. Muß nur abgeschrieben werden.«5 Nur das: abgeschrieben. Und das dann so: »Ich glaube, das hat alles mit Diebstahl zu tun. Man stiehlt vom Leben was und setzt das um - und das ist dann, wenn's gut wird, etwas Eigenes, etwas Neues, Frisches. Aber der Schriftsteller ist eine Art Tourist im Leben . ein diebischer Tourist. Ja.«6
Harry Gelb in Rohstoff war »am Beginn Junkie und am Ende Alkoholiker«.7 Drogen-Poet, Junk-Autor, Heroin-Dichter. »Ein Junkie war Fauser nicht, obwohl er die Drogenszene aus erster Hand kannte - etwa von 1964 bis 1970 rauchte, schnupperte, spritzte er alles, was Gott verboten hatte.«8 Gebrochen, voller Widersprüche, am Ende immer wieder - wie in Rohstoff - am Boden. Aber nicht geschlagen.
Dass Fauser der Mensch kaum zu unterscheiden ist von Fauser als Rohstoff-Autor und der kaum zu unterscheiden von Harry Gelb, wird gerne untersucht, wurde es auch schon von Jonathan Woolley, der diagnostizierte, dass jedes Resultat - egal von wem und aus welcher Perspektive - im Grunde belegt, dass es keine plausible, klare oder stringente Antwort gibt. Autofiktion hin oder her, Fauser schrieb nicht mit der Germanistik im Hinterkopf, ganz bestimmt nicht fürs Proseminar in Philologie. Trotzdem darf er - oder Harry Gelb - unters Mikroskop gelegt werden, logisch.
Der Erzählfigur in Rohstoff geht es um das Rohe und nicht um irgendwelche Konzepte des Hipsters oder von Pop. Er theoretisiert nicht gern und sucht auch in der Literatur nach dem prallen Leben - und schließt damit an den Sozialtypus Hipster an, wie er den amerikanischen Beats vor Augen stand: autodestruktiv, exzessiv, >faustisch< (Mailer 1992, 357).9
Eine Lektorin, mit der er eng zusammengearbeitet hat: »Hinter seiner Art, jeden zu verschrecken, zeigte sich Hilf?losigkeit, das war wüst, er kam da angesaust wie ein Stier. Das machte ja auch seine Faszination aus. Aber der, der reinkam, um zu arbeiten, konnte auch herrlich schimpfen, war aber ein anständiger Kerl, ungeheuer gebildet, mit enormem Gedächtnis, mehrgleisig talentiert - der aber auch viel kaputtgemacht hat. Gleichzeitig war er sehr interessiert, mit einer Wachheit gegenüber allem ausgestattet. Er hatte das Zeug zu einem ganz großen Schriftsteller - und eine Menge Masken.«
»Alle wahren Junkies sind Experten im Manipulieren und im Täuschen ihrer Umwelt«, so eine langjährige Geliebte. »Das gehört zum Metier, es liegt darin eine Art Gesetzmäßigkeit. JCF war darin eher besser als mancher andere, er besaß noch ausreichend Freiraum für ein Arsenal an Alternativrollen, derer er sich notfalls bedienen konnte. Maskieren kann man es auch nennen.«
1968, Aussteiger und Rebellierende in Batikhemd, Fauser im Nadelstreifen. Abgehoben, verkleidet wie nach einer Nacht auf Speed, im eigenen Leben nur ein Besucher. Grundmotiv des Lebens von einem, der als Kind-Darsteller erstes Geld verdiente, ewiger Spieler - und das in mehrerlei Hinsicht: des Gamblers, des Schauspielers, der Rollen wechselt, sein Leben aufs Spiel setzt, sich wünscht, er »wäre ein Stein« - wie seine Mutter nie vergessen hat. Einschätzung eines Saufkumpans etlicher nächtlicher Touren, an deren Details sich keiner erinnert: »Reserviert, fast schüchtern - was oft missinterpretiert wurde als Arroganz, arrogante Maske! Im Streitgespräch konnte er Leute killen, besonders, wenn er getrunken hatte. Aber auf gutem Niveau. Aber die Opfer sind schon mal weinend vom Tisch gegangen.«
Jörg Fauser war schillernd und nicht zu fassen, auch wegen seiner Haltung. Einen Moment lang zahm und zart und verletzlich, dann brüllend, er bräuchte jetzt eine Knarre, um Baader zu befreien.
»Ein Bürgerschreck, der sich weder nach rechts noch nach links anpassen wollte«, resümierte ein befreundeter Schriftsteller, nachdem er die posthum erschienenen Briefe an die Eltern las.10
Das Anarchische, das ehrliche Interesse für den >kleinen Mann<, die Liebe zum Leben als Lesen - oder umgekehrt -, in seinem Schreiben diese Wirklichkeitsnähe, ein Vorreiter der Popliteratur . oder alles zusammen: Er passte in keine Schublade. Ob Fauser, hätte er länger gelebt, geschätzt worden wäre: Kaffeesatz. Reine Spekulation. Schulkameradinnen wie Eva Demski oder Ulrike Heider veröffentlichten bis zu ihrem 43. Geburtstag vier Romane oder zwei Bücher, Brüder im Geist wie Bukowski keine Handvoll Gedichtbände, Robert Stone saß noch an seinem dritten Roman, Chandler hatte drei Dutzend komplett vergessener Gedichte und Artikel untergebracht - und ein halbes Jahr nach seinem 43. Geburtstag die erste Story in Black Mask. In dem Alter hatte Joseph Conrad von seinen neunzehn Romanen erst vier veröffentlicht, von Fontane fangen wir gar nicht erst an . Frank McCourt debütierte mit über 60.
Und Fauser - treu in der Untreue zu Schubladen, relativ zuverlässig auch mit dem Rohmaterial seiner Protagonisten Harry Gelb, Johnny Tristano, Blum oder Harder mit seinem Fimmel fürs Rotlicht, Harry Lipschitz (in Miramare, Wenn er fällt, dann schreit er, Machs noch mal, Harry bis zum unvollendeten letzten Roman . »eine meiner...
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