Schweitzer Fachinformationen
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An einem dunstigen Sonntagmorgen Ende August fahre ich unter den Yorckbrücken hindurch zur Arbeit, dünne Lichtstreifen fallen quer über die verschattete Straße.
In Rot hat jemand Caro, ich liebe dich auf eine Brückenbrüstung geschrieben, auf einer anderen steht in Weiß Freiheit für alle Gefangenen, Sterne aus Dreiecken vor und hinter den Worten.
Um elf eine Matinee, danach das Tagesprogramm, die Spätvorstellung endet weit nach Mitternacht. Vier lange Schichten im Monat, und ich habe fast das Geld zusammen, das ich fürs Notwendigste brauche.
Während die Filme laufen, lese ich, mache mir Notizen, denke über das Buch nach, das ich schreiben will. Was ein Roman wäre. Manchmal verpasse ich die Blende, man hört dann, wie das lose Ende der Filmrolle gegen den Projektor schlägt, der Ton setzt aus.
In jenem Sommer, zwei Jahre später.
Es gibt kein Zurück, das muss man sich immer wieder ins Gedächtnis rufen. Nichts dauert ewig, selbst der Schmerz vergeht.
Plötzlich vorbei, und man kann nur noch davon erzählen. Man weiß nicht genau, warum, und auch nicht, warum jetzt, so lange danach. Vielleicht, weil man erstaunt ist, dass einem Dinge im Leben zwei Mal passieren, und man versuchen will, das erste Mal zu verstehen. Als würde sich daraus ableiten lassen, wie es weiterging, irgendein Muster. So deutlich mir aber manches immer noch erscheint, bleibt in meiner Erinnerung eine seltsame Fremdheit zurück, die nicht mehr abzustreifen ist. Und zugleich das nagende Gefühl, nichts sei zu Ende, nichts gelöst.
Wann fing es an? Mit Nils, mit Leonore? Ohne ihn hätte die Geschichte eine andere Wendung genommen. Ohne sie auch. Doch zu glauben, Ereignisse ließen sich streng voneinander trennen, ist eine Illusion. Selbst wenn die Reihenfolge halbwegs klar ist, erst dies, dann das, Nils tritt auf den Plan. Er trug einen schweren Silberohrring, dessen Loch er mit einer Nietenzange vor dem Spiegel selbst ausgestanzt hatte. Wir würden mehr als ein Jahr lang unzertrennlich sein.
I was happy to fall / So happy to fall
Wie fing es an? Es war, daran ist kein Zweifel möglich, im alten Dschungel, nach dem Konzert von Joe Jackson, als ich bei Karla am Tresen stand, und unablässig über ihre Schulter zu dem Ecktisch starrte, wo eine Frau allein vor einem fast leeren Bier saß. Dabei trug Karla einen ultrakurzen Rock und schwarze Strumpfhosen, zu allem bereit . aber nein, erst versenge ich ihr mit meiner Zigarette die Strümpfe, dann bin ich wie ein Schlafwandler quer durch den Raum gegangen und habe zu der Frau irgendwas gesagt, worauf sie erwiderte, ich solle nicht soviel reden, sondern ihr lieber ein neues Bier bestellen. Als ich nicht zurückkam, ist Karla abgehauen, hat sich monatelang nicht mehr gemeldet.
Alles nur, weil Leonore ein Buch bei mir vergessen hatte, in dem mit Kuli ihr Nachname stand, L. Rother, im Telefonbuch fand ich die Nummer. Es war Rom, Blicke, eingeklemmt zwischen Matratze und Wand. Vergessen? Wahrscheinlich ist verloren das bessere Wort, wie Schal, Mantel, Pullover, Schuhe, Hose, die ich auf der Treppe hinter ihr einsammelte, bis sie im vierten Stock vor meiner Wohnungstür beinah schon ganz ausgezogen war.
Es hatte zu schneien begonnen, als wir in der Nacht zu mir liefen, betrunken, eng umschlungen, nach Flocken schnappend, und es schneite weiter, hörte überhaupt nicht mehr auf, Dezember, Januar, den Dreck, das Grau der Stadt, immer wieder in ein märchenhaft glitzerndes Weiß hüllend.
Winter genug, die noch kommen würden, schlimmere, mildere. Andere Menschen, andere Orte, Wohnungen, Zimmer, Hotels, es ist unmöglich geworden, eine durchgehende Linie durch die Zeit ziehen. Du warst das, du bist das, muss man sich zuflüstern, fast wie eine Beschwörung.
Pläne, irgendwelche Ziele, die im Leben zu erreichen wären, hatte ich nie. Ich dachte nicht darüber nach, über die Zukunft, fragte mich aber manchmal, was aus mir werden würde. Wo ich sein würde in zehn Jahren, in zwanzig, als was, ohne eine mögliche Antwort auf diese Frage mit einem Traum oder einer Hoffnung verbinden zu können.
Alles immer sehr vage gewesen, jeder Appell an sich selber eine Stunde später vergessen.
Als ich Céline und Julie fahren Boot gesehen hatte, bin ich kurz darauf und mitten im Semester nach Paris. Ein verranztes Hotel am Gare de Lyon, Schnellrestaurants, billige Bars, deren Boden von Zuckertütchen und Lotteriescheinen übersät war, ein nächtliches Schwirren französischer und arabischer Stimmen im Licht von Neonreklamen, grell, bunt. War das das Leben?
Acht Tage ungefähr, dann hatte ich kein Geld mehr, bin zurück nach Berlin gefahren. Und habe mit den anderen weitergemacht, Vor-Diplom, Delegiertenrat. Der Mensch ist das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Ich kaufte mir eine Polaroid-Kamera und fing an, Freunde und Bekannte zu fotografieren, Straßen, Gebäude. Und immer wieder mich selber, was ich seitdem nie mehr getan habe. Was würde dadurch schon dokumentiert? Wo ich physiognomisch gelandet bin? Wo überhaupt?
Als ich beim Umsteigen nach Avignon Zeit hatte, vor ein paar Jahren, bin ich um den Bahnhof herumgestreunt, um nichts mehr von dem zu finden, was mich hätte an etwas erinnern können, an, sagen wir, meine eigene Vergangenheit, wie ausgelöscht. Mit Sandstrahlgebläsen die Fassaden poliert, jede Tür gesichert durch Zahlencodes, die man eintippen muss. Das war die Gegenwart, kein Entrinnen, wie auch? Den Wunsch, etwas zurückzuholen, habe ich nicht. Allerdings . verpasste Gelegenheiten . aussätzig, am Fuß einer von der Sonne zernagten Mauer.
Mit Kamm und Nagelschere hatte ich mir eines Nachts in der Küche meine Haare immer weiter abgeschnitten, bis sie raspelkurz waren. Ein Zimmer, Innenklo, Hinterhaus. Am nächsten Tag zersägte ich das Holzregal und reihte die Bücher längs der Wände auf dem Boden auf. Ein Tapeziertisch, den ich schwarz sprayte, ein Stuhl, Matratze auf zwei Paletten, die ich von einer Baustelle mitgenommen hatte, Plattenspieler und Platten, mehr war zu viel. Über dem Tisch eine Neonröhre, schattenloses Licht. Für den Rest, Sachen zum Anziehen, hatte ich im Flur einen schmalen Stahlspind, der kaum die Treppen hochzutragen war. Hartwig half mir. Er hatte sein Studium abgebrochen und arbeitete in einem Kino, wo mehrmals in der Woche Konzerte stattfanden. The Mo-dettes, Gang of Four. Ich kam umsonst rein, hing da häufig rum, saß dann hinter der Kasse, weil meine Halbwaisenrente auslief. Mit dreiundzwanzig, ich werde also dreiundzwanzig gewesen sein, nicht viel älter. Meine Tage verbrachte ich . ich ging in ein Seminar bei den Soziologen, traf mich mit einer Gruppe, die sich »Wir sorgen für Strom« nannte . Es funktioniert überall, bald rastlos, dann wieder mit Unterbrechungen. Es atmet, wärmt, ißt. Es scheißt, es fickt. Das Es . aber sonst? Im Bett liegen bleiben, weil ich Kopfschmerzen hatte, ein dröhnender, hämmernder Schmerz, der nur nachließ, wenn man nach dem Erwachen sofort ein Bier trank. Später dann Kaffee, dann Stirn und Schläfen und das Gesicht unter den Wasserhahn halten. Ich hab's nicht gezählt, oft nach Abenden und Nächten im Shizzo. Mit Stiften beschmierte Wände, zwei, drei Stehtische, ein Flipper. Dazu immer die neueste Musik in erheblicher Lautstärke. Schlau sein, dabei sein. Die richtigen Namen wissen, sich keine Blöße geben, keine Therapiegespräche. Pia, die ich beim Flippern kennengelernt hatte, verrieb am nächsten Tag vor dem Spiegel in meiner Küche Nivea-Creme in ihren schwarz gefärbten Haaren, um sie dann in die entsprechende Wirrnis zu bringen. Siouxsie and the Banshees. Wochen danach habe ich sie wiedergesehen, im Café Central, das gerade eröffnet hatte, doch da war sie in Begleitung.
Gespenster, alle, wie sie immer in der Cafeteria des Instituts zusammengluckten. Das war nicht länger zu ertragen gewesen und möglicherweise ein Fehler von Anfang an. Psychologie zu studieren, die gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung, soziale Bedürfnisse und Affektstruktur, Denken und Sprechen, Statistik . wo die Arbeiterklasse benachteiligt wird. Eine Welt aus Verboten und erzieherischen Maßnahmen, Fußnoten zu Fußnoten, Anmerkungen, bis man plötzlich beginnt, jeder und jede, sich zur Analytikerin, zum Analytiker, ausbilden zu lassen. Oder was anderes, dynamische Meditation, Pilgerreisen nach Fernost. Ganz ohne Sinn für das Jetzt, für die Schönheit einer flüchtigen Geste, eines kurzen schnellen Songs, von dem man auf der Stelle mitgerissen wird. Aus sich heraus, und nach drei Minuten ist nichts mehr wie zuvor.
Hartwig, der in einem völlig rotten Haus auf der Liegnitzer Straße wohnte, zweiter Hinterhof, Außenklo mit Kerzenbeleuchtung, hatte sein Zimmer bis auf eine Matratze ganz leer geräumt, selbst die Platten von früher bei einem Trödler verscherbelt und mit schwarzem Autolack It's a rat trap and we've been caught auf eine der tapetenlosen Wände gesprayt. Ob er noch las? Bis heute besitze ich ein dünnes Paperback von The Waste Land And Other Poems, das ich ihm nie zurückgegeben habe, keinen Schimmer mehr, wann genau er mir's geliehen hat, aber mir scheint, es muss um diese Zeit herum gewesen sein. Als wir eines Nachmittags beschlossen, nach Hamburg zu fahren, die ganze Nacht von Lokal zu Lokal zogen, in einer Absteige auf St. Georg den Vormittag verdämmerten, um uns dann wieder auf den Rückweg zu machen. Mit dem letzten Geld, gerade Benzin genug im Tank für die Transitstrecke....
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