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Ein kluger Roman über Sehnsucht, Mut und Hoffnung
Journalistin Olive träumt von der ganz großen Geschichte - und davon, endlich ein Zuhause zu finden. Zwar ist sie in einer liebevollen Familie aufgewachsen, aber sie wird das Gefühl nicht los, dass ihr etwas fehlt, um wirklich glücklich zu sein. Können ausgerechnet die Nachforschungen zu dem alten, scheinbar wertlosen Kompass ihrer Großmutter Olive aus ihrer Einsamkeit führen?
Zwanzig Jahre zuvor führt Claire ein Leben auf der Überholspur. Aber die Nachricht vom Tod ihrer Schwester Iris wirft sie aus der Bahn. Sie flieht Hals über Kopf auf die kleine Felsinsel, auf der Iris lebte. Dort findet Claire haufenweise Zeichnungen - darunter auch eine von einem alten, scheinbar wertlosen Kompass ...
Die Steine waren glatt und warm unter ihren Füßen, einladend fast, als hätten sie sich den ganzen Winter danach gesehnt, berührt zu werden. Mathilde kannte diese Sehnsucht.
Ihr Winter dauerte bald sieben Jahre.
Sie ging in die Knie und legte ihre Hand auf den Felsen, als wäre er ein schlafendes Tier, ein wunder Körper, der seinen letzten Atemzug unter ihren Fingern tat. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie seinen Puls noch spüren.
Auch Steine hatten ein Gedächtnis, das hatten Einsamkeit und Stille sie gelehrt. So wie ein Baum mit dem Wind wuchs und sich vom Boden nährte, trug auch ein Stein die Spuren der Zeit und unzählige Geschichten in sich, konserviert für die Ewigkeit, geschliffen von Wasser und Sturm. Ein stummer Zeuge der Unendlichkeit.
Nichts und niemand ging auf dieser Welt jemals verloren.
War dieser Umstand tröstlich oder grausam?
Mathilde wusste es nicht, aber allein der Gedanke brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie konnte sich kein Wanken leisten, ihr Entschluss war gefasst. Nach Jahren der Aussichtslosigkeit endlich ein Weg. Dafür musste sie mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen. Hatte sie ihre Schuhe und Strümpfe nicht deshalb schon oben an der Straße abgestreift, dort, wo auch ihr Fahrrad lag?
Das Fahrrad. Mathilde spürte einen Stich bei dem Gedanken an Mrs Fitzgerald. Sie hatte ihr das Rad vor einem Jahr geschenkt, genau wie Rock und Mantel. Die alte Dame war immer gütig und großzügig gewesen, hatte ihr ein Dach über dem Kopf und Arbeit geboten, ein Zusammensein. Aber Mathilde konnte ihr nicht ersetzen, was sie im Krieg verloren hatte. Nicht jeder Mensch taugte dazu, Lücken zu schließen. Mathilde war ja selbst eine.
Trotzdem hoffte sie, dass jemand das Fahrrad finden und nach St Just zurückbringen würde. Nach allem, was Mrs Fitzgerald für sie getan hatte, wollte Mathilde unter keinen Umständen, dass sie sie für undankbar hielt.
Viel zu schnell richtete sie sich aus der Hocke auf und ließ die Augen geschlossen, bis sich der aufkommende Schwindel verflüchtigt hatte.
Als sie die Lider wieder öffnete, war ihr Blick verschleiert. Schlieren vor dem Grau und Blau, als hätte jemand mit einem Pinsel über Himmel und Meer gemalt, um die Grenzen zu verwischen.
Agnes hatte das oft getan. Die Grenzen unter ihren Pinselstrichen aufgelöst. Blumen verwuchsen mit Zaunlatten, Boote mit dem Wasser, das sie trug. Ein Strich, und aus zwei Menschen wurde einer, aus dem Möglichen eine Wirklichkeit.
Die gerade Linie ist seelenlos. Das hatte Agnes gesagt, als Mathilde angemerkt hatte, dass sich selbst der Horizont unter den Borsten ihres Pinsels krümmte. Gott begegnest du nur auf gewundenen Pfaden.
In Mathildes Kehle begann es zu brennen. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper, doch Halt fand sie nicht. An einen Gott glaubte sie schon lange nicht mehr, aber die Erinnerung an ihre Großmutter schmerzte. Was hätte sie dafür gegeben, noch einmal zwischen Agnes' Staffeleien zu stehen, noch ein weiteres Mal über die hartnäckigen Ölfarben zu schimpfen und Trost zu finden im Geruch der Lösungsmittel. Erstaunlich, wie selbst das Lästige Sehnsüchte wecken konnte, eine Ahnung von Zuhause und Sicherheit.
Beides hatte Mathilde vor langer Zeit verloren, so wie sie auch ihre Großmutter verloren hatte und all die anderen, die sie geliebt hatte. Es gab keinen Weg zurück, und nach den vielen Jahren, in denen sie davongelaufen war, hatte sie nun endlich erkannt, dass es auch nur noch einen einzigen gab, der vor ihr lag.
Man konnte vor vielen Dingen fliehen, aber niemals vor sich selbst.
Sie hatte es versucht, natürlich. Hatte alles abgestreift, was ein Mensch nur abstreifen konnte. Hatte ihren Namen abgelegt wie einen alten Hut. War aus ihrer Vergangenheit geschlüpft wie aus einem Nachthemd, genau wie ihre Großmutter es ihr in der verhängnisvollen Nacht geraten hatte. Mit Bürste und Seife hatte sie versucht, sich Blut und Erinnerung von der Haut zu kratzen, bis die Tränen selbst unter ihren Fingernägeln brannten. Aber von dem Schmerz in ihrem Inneren konnte sie damit nur kurz ablenken. Er wuchs wie ein Geschwür, genährt aus Kummer und Schuld, ihre Seele zerfurcht wie ein Acker, trocken und unfruchtbar. Wie sollte so ein Mensch noch einmal blühen?
Mathilde kannte die Antwort. Entschlossen rieb sie sich den Schleier von den Augen. Kein Pinselstrich würde ihr die Sache erleichtern. Sie musste selbst dafür sorgen, sich zwischen Himmel und Hölle aufzulösen, und dafür brauchte sie einen klaren Blick und einen wachen Verstand.
Die See wirkte ruhig, friedlich sogar. Ein graublauer Spiegel aus Licht und Versöhnung, der Stoff, auf dem sich Hoffnung betten ließ. Aber Mathilde wusste, dass der Schein trog. Unter dem Licht lag der Abgrund, so tief und dunkel, dass er sich jeder Vorstellungskraft entzog.
Wie viele Seelen waren der Einladung des Meeres schon gefolgt? Wie viele hatte es mit Trost und Abenteuer gelockt, mit der Aussicht auf einen Neubeginn, und dann ohne viel Aufsehen verschluckt?
Mathilde kannte ihre Geschichten, und als sie nun ein weiteres Mal die Augen schloss, mischten sich die Schreie all derer, die das Glück ebenso betrogen hatte, mit dem Kreischen der Möwen über ihrem Kopf. Hilflosigkeit und Wut schwollen hinter ihrer Stirn zu einem Lärm an, der kaum zu ertragen war. Sie riss die Augen erst wieder auf, als sie selbst das Bedürfnis verspürte, zu schreien.
Man musste nicht ertrinken, um unterzugehen.
Trotzdem tasteten sich ihre Füße weiter vor zum Wasser.
In den endlosen Sommern ihrer Kindheit hatte sie sich am Öresund immer davor gefürchtet, auf den dunklen Felsen am Ufer von Agnes' Garten auszurutschen. Doch heute, da sie den Ausgang der Geschichte kannte, fürchtete sie sich nicht mehr zu fallen. Angst büßte ihren Schrecken ein, wenn sie jenen gegenüberstand, die nichts mehr zu verlieren hatten. Sie war nur noch ein müdes Gespenst, zahnlos und lahm, seit Mathilde bereit war, in das Gedächtnis der Steine überzugehen, ihr Leben ein kurzes, wenn auch schweres Kapitel von Verlust und Schuld.
Ein Luftstoß zog vom Wasser hoch und löste ein Zittern in ihrem Körper aus. Von den Fingerspitzen kroch es die Arme hinauf, tastete sich über ihre schmalen Schultern und umschlang ihren Brustkorb, bis schließlich auch ihr Atem flatterte, als wären ihre Lungen die Flügel eines Kolibris.
Instinktiv tastete Mathilde nach dem Kompass in ihrer Manteltasche und verschaffte sich Gewissheit. Einen Wellenschlag entfernt .
Ein bitteres Lachen drängte sich ihre Kehle hinauf. Nicht mal echte Wellen gab es heute, und doch musste sie darauf vertrauen, dass ihr letztes Erinnerungsstück an das, was hätte sein können, nicht log. Zuhause lag nur einen Wellenschlag entfernt, Glück. Frieden.
Die Zeit davonzulaufen war vorbei. Kein Flügelausstrecken, kein Kolibri. Sie konnte ihre Geschichte nicht neu schreiben. Alles, was ihr blieb, war, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Das Semikolon gegen einen Punkt austauschen, und ihre nackten Füße fassten die letzten Zeilen in Stein.
Mathilde streifte ihren Mantel ab, ließ ihn auf die Felsen gleiten und machte einen Schritt ins kalte Grau. Mit leisem Schwappen griffen die Finger des Ozeans nach ihren Knöcheln.
Nie hatte Mathilde nachvollziehen können, warum sich so viele Menschen nach dem Meer sehnten. Es mochte schön aussehen, aber seine Gleichgültigkeit war grausam. Die See interessierte sich nicht für das Schicksal des Einzelnen. Es war ihr egal, ob eine Seele geliebt oder gelebt hatte, ob es an der Zeit war oder nicht. Vor dem Meer waren alle Menschen gleich. Vor dem Meer waren alle Menschen nichtig und die Schuld, die sie auf sich geladen hatten, nur eine Nebensächlichkeit. Das immerhin war ein tröstlicher Gedanke.
Mathilde presste die Zähne aufeinander und zwang sich zu einem weiteren Schritt. Wenn sie Glück hatte, würde die Kälte sie bald taub machen gegen jede Art von Gefühl oder Zweifel. Hatte Ib nicht erzählt, dass die meisten Schiffbrüchigen nicht ertranken, sondern erfroren?
Ib. Ib und . Die schlimmste aller Erinnerungen.
Mathildes Herz zog sich zusammen wie eine kleine, harte Faust. Sie hätte gerne noch ein letztes Mal geweint, aber seit einigen Wochen hatte sie nicht mal mehr Tränen. Der Jahreswechsel war ihre letzte Hoffnung gewesen, ein Grashalm, an den sie sich hatte klammern wollen, immerhin läutete er ein neues Jahrzehnt ein. Aufbruch, wohin das Auge reichte, Zuversicht. Der Krieg in Europa gehörte der Vergangenheit an.
Doch der Krieg in ihrem Inneren tat es nicht.
Entschlossen drängte Mathilde weiter ins Nichts und raffte ihren Rock nach oben. Er war mohnblumenrot und schwang weit, wenn sie sich drehte, vor ein paar Jahren hatte er noch Mrs Fitzgeralds Tochter zum Leuchten gebracht. Jetzt würde er untergehen mit einer jungen Frau, die selbst fast noch ein Kind war und gleichwohl die Schuld eines hundertjährigen Lebens auf dem Rücken trug.
Unter dieser Last schleppte Mathilde sich voran.
Sie war noch immer keine routinierte Schwimmerin, und trotzdem ärgerte sie sich, dass Ib ihr das Schwimmen beigebracht hatte. Der Weg, der vor ihr lag, wäre einfacher gewesen, wenn sie nicht gewusst hätte, sich über Wasser zu halten.
Die ersten sechzehn Jahre ihres Lebens hatte sie jede Art von Gewässer gemieden, nicht mal ihre Zehen hatte sie freiwillig in Seen oder Flüsse hineingehalten. In ihren Sommern bei Agnes hatte manchmal schon das Salz in...
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