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Normalerweise diskutierten die Dienstagsfrauen einen ganzen Abend, um sich auf einen Urlaubsort für den jährlichen Ausflug zu einigen. Das Ziel war diesmal nicht das Problem, dafür benötigten sie ein geschlagenes halbes Jahr, um einen gemeinsamen Termin zu finden.
»Andere bekommen in der Zeit ein Kind«, übertrieb Judith. Fakt war, dass sie in den vergangenen Monaten oft die Einzige gewesen war, die am ersten Dienstag im Monat Zeit hatte. »Es bleibt alles beim Alten«, hatten sich die Dienstagsfrauen am Umzugstag versprochen. Und dann war alles anders geworden. Fast unmerklich war die Runde auseinandergefallen. Caroline war in einem spektakulären Entführungsfall zur Pflichtverteidigerin ernannt worden, Estelle rund um die Uhr damit beschäftigt, ihren Mann aufzubauen, der nach einem Schwächeanfall kürzertreten musste, und Eva ruderte an allen Fronten. Eine SMS von Kiki gab letztendlich den Anstoß, Nägel mit Köpfen zu machen: »Wenn ihr zufällig Zeit habt, ich könnte ein paar helfende Hände gebrauchen. Schnell.« Eva kannte Kiki seit ihrem achtzehnten Lebensjahr. Kiki hatte das unschätzbare Talent, in allen und allem immer nur das Beste zu sehen. So eine SMS bedeutete: Land unter. Und zwar ganz akut.
Plötzlich ging alles ganz schnell. Die Woche vor Pfingsten wurde als Reisetermin festgelegt, am Freitag wollten sie aufbrechen. Eva freute sich, dass es endlich losging. Sie hatte alles so weit unter Kontrolle, dass sie dem Ausflug der Dienstagsfrauen gelassen entgegensehen konnte. Ihre Ältesten, David und Lene, waren inzwischen siebzehn und sechzehn, Frido jr. vierzehn und die Kleinste, Anna, auch schon zwölf. Die Kinder waren vorgewarnt, Ehemann Frido räumte bereits den Supermarkt leer, um Vorräte für eine Woche ohne Eva zu horten, und ihre Mutter Regine, die Eva gerne für sich vereinnahmte, übte sich auf Lanzarote mit einem indischen Guru in schamanischer Zupfmassage. Nach Dienstende wollte Eva mit Estelle und Judith im Gartencenter ein paar grüne Mitbringsel kaufen. Dann war alles geregelt. Nichts sollte mehr dazwischenkommen. Nichts außer einem Anruf vom Erzbischöflichen Gymnasium. Er ereilte sie im Krankenhaus, zehn Minuten vor Dienstende. Ihre vier Kinder besuchten alle die gleiche Schule. Allein der Anblick der Nummer auf dem Display des Telefons setzte Evas Fantasie in Gang. Die Bandbreite der Schreckensmeldungen, die bei solchen Telefonaten auf sie zukamen, variierte von »Wir brauchen jemanden, der beim Sommerfest hilft« über »Ihr Kind hat den Elternbeitrag zur Klassenfahrt nicht bezahlt« bis zu »Es gab da ein Unglück beim Sportunterricht«. Heute war es besonders schlimm. Heute fehlte die Angabe von Gründen. Am anderen Ende der Leitung wartete die Schulsekretärin mit der nüchternen Mitteilung auf, dass Herr Krüger sie am Nachmittag zu einem Termin bat. Eva kannte den neuen Rektor des Gymnasiums nur von einem Vortrag, bei dem er über den »3-D-Cyber-Classroom« der Zukunft doziert hatte. Worum es konkret ging, wollte die Sekretärin nicht enthüllen, nur das eine: »Es ist dringend. Sehr dringend.« Frido hatte wie üblich keine Zeit. Sie durfte sich Krüger alleine stellen.
»Was ist in der Schule los?«, schrieb Eva in einer SMS an alle vier Kinder. Die Straßenbahn zuckelte gemächlich durch die Stadt Richtung Gymnasium und gab ihren mütterlichen Schuldgefühlen ausreichend Zeit, sich zur Stelle zu melden. Eva klickte durch ihre Mails. Außer Einladungen zu Klassenabenden, Elternstammtischen und der pädagogischen Gesprächsrunde des Elternbeirats gab es keine Mail, die etwas mit Schule zu tun hatte. In Evas Kopf mahlte es. Auswahl an Themen gab es reichlich: David hatte zwei Verweise wegen chronischen Zuspätkommens kassiert, Lenes Leistungen bewegten sich, seit sie einen Freund hatte, in den unteren Kellerregionen, ihre Jüngste, Anna, lag im offenen Clinch mit der Mathelehrerin, und Frido jr. brachte mit seiner Besserwisserei das ganze Lehrerkollegium auf die Palme. Dass er tatsächlich vieles besser wusste als seine studierten Lehrer, machte die Sache nicht einfacher.
Wie lange brauchte die Straßenbahn bloß für die kurze Strecke? Auf der Suche nach Ablenkung wanderte Eva auf ihrem Smartphone zu Kikis Blog, der mit der kecken Überschrift »Bauruine gesucht und gefunden« versehen war. »41 Fenster, 19 Räume und große Pläne« stand in Kikis erstem Beitrag. »Strom, Gas und Wasser lassen wir vom Fachmann machen, der Rest wird Eigenleistung.«
Eva wurde schummrig angesichts der Bilder von entkernten Räumen, schiefen Decken, fehlenden Fußböden und lose im Raum hängenden Leitungen. Stil Dresden 1945 lautete die selbstironische Bildunterschrift. Uns geht es großartig.
»Das heißt gar nichts«, hatte Estelle den Eintrag bei einem der Dienstagstreffen kommentiert. »Kiki fände es selbst auf der Titanic großartig. Wann begegnet man schon mal einem Eisberg?«
Neue Einträge und Fotos gab es schon lange nicht mehr. Nach den euphorischen Posts über den Anfang der Renovierungsarbeiten blieb es still in Mecklenburg-Vorpommern. Der Satz »Hast du was von Kiki gehört?« war längst zum Mantra der Dienstagsfrauen geworden. Jedes Telefonat, jede zufällige Begegnung, jedes Treffen begann und endete bei der Freundin. Wann immer Eva Kiki angerufen hatte, musste Greta gerade ins Bett, in die Badewanne oder zum Kinderarzt. Noch öfter war was mit der Telefonverbindung, Mauern mussten mit Lehm verputzt werden, Decken verkleidet, Wände gestrichen, Fußböden ausgesucht und verlegt, feuchte Stellen bekämpft oder ein Etappenabschnitt gefeiert werden. Es war höchste Zeit, persönlich in Birkow nach dem Rechten zu sehen. Wenn sie nur schon diesen Termin in der Schule hinter sich gebracht hätte.
Eva war bereits ein Nervenbündel, als sie die imposante Eingangshalle der Schule betrat. Statt des typischen Schulgeruchs, einer Melange aus Reinigungsmitteln, Holzbänken, nassen Kinderjacken und muffigen Hausschuhen, die ihre eigene Schulzeit geprägt hatte, empfing sie eine moderne Eingangshalle mit einer digitalen Anzeigetafel. »Alle Zugänge zum Schulcomputer bleiben bis auf Weiteres gesperrt«, blinkte es dort in großen Lettern. Krügers neue Technik schien nicht ohne Tücken zu sein.
»Sie wissen, warum ich Sie einbestellt habe?«, schrie der Rektor sie an. Er musste laut werden, denn im Speichergeschoss kümmerten sich Handwerker geräuschvoll darum, die Klimaanlage vor dem Sommer einer längst fälligen Generalüberholung zu unterziehen. Eva konnte wahrlich Kühlung gebrauchen. Nach drei Treppen und tausend Schreckgespenstern im Kopf rann ihr der Schweiß in einem kleinen Bächlein den Rücken herunter. Wenn sie wenigstens den dicken Tweedblazer ausziehen könnte. Doch das ging leider nicht. In der morgendlichen Hektik hatte sie es gerade mal geschafft, die Vorderseite ihrer Bluse aufzubügeln. Sie ahnte, dass dieser Tag nicht zu retten war. »Einbestellt«, das Wort alleine.
Eva versuchte, einen möglichst kompetenten und gelassenen Gesichtsausdruck aufzusetzen, der vermitteln sollte, dass sie das Familienleben, ihre Teilzeitstelle im Krankenhaus, die vier Kinder und die Bügelwäsche im Griff hatte. Wieso ließ sie sich von jemandem beeindrucken, der ihr Sohn hätte sein können? Der Mann, der ihr an einem schweren Holzschreibtisch gegenübersaß, war mindestens zwanzig Jahre jünger als sie. Mit exaktem Scheitel im lockigen Haar, Sechzigerjahre-Brille und einem Anzugensemble aus schlammfarbenem Cord wirkte er, als hätte er sich nur als Schulleiter verkleidet. Vielleicht mischte er deswegen seiner voluminösen Stimme diese Prise väterlichen Tadels bei, die Eva bei Lehrern so hasste. Noch bevor das Vergehen bekannt war, fühlte man sich bereits als Delinquent.
»Um was geht es eigentlich?«, fragte Eva ungehalten.
»Ihr Sohn hat noch nicht mit Ihnen gesprochen?«, setzte Krüger seine Quizshow fort.
Der 50:50-Joker: Anna und Lene schieden also als potenzielle Übeltäter aus. Blieben David oder Frido jr. Welchem ihrer Söhne hatte sie diesen Auftritt zu verdanken? Der Rektor legte eine Kunstpause ein, um ihr Gelegenheit zu geben, zu beweisen, wie gut sie mit ihren Teenagern kommunizierte. Eva schielte auf ihr Handy. Ihre elektronische Rundfrage, was sie in der Schule zu erwarten hätte, war unbeantwortet geblieben. Kein Wunder. SMS schreiben fanden ihre Kids so was von 2010. Heute kommunizierte man über WhatsApp. Wenn man in der Lage war, sich diese App herunterzuladen. War sie aber nicht.
»David ist heute Morgen wieder zu spät gekommen«, riet Eva, nur um eine Sekunde später festzustellen, dass sie die falsche Antwort gegeben hatte. Bis zu ihrer vorschnellen Bemerkung hatte der übereifrige Herr Krüger Davids schriftliches Attest auf dem Briefpapier des Krankenhauses für ein Original gehalten. Genauso wie Evas unleserliche Unterschrift. Eva fühlte sich mit einem Schlag unendlich müde. Viele Paare wünschten sich Kinder. Keiner wünschte sich Teenager. Am allerwenigsten Eva. Wenn es stimmte, dass Gehirne von Halbwüchsigen in der Pubertät umgebaut wurden, lebte Eva auf einer familiären Großbaustelle. Eines ihrer vier Kinder fand sich immer bereit, das Wohnzimmer zu vermüllen, den letzten Hausschlüssel zu verlieren, mit den vierzehn besten Freunden den Kühlschrank zu leeren oder Schulatteste zu fälschen. Sie nahm sich vor, gleich heute Abend das Elternbuch über die Pubertät zur Hand zu nehmen, das ihre wohlmeinende Mutter Regine ihr mitgebracht hatte. Vielleicht verriet der Ratgeber, wie man Tage wie diese überlebte. Wenn sie wenigstens etwas im Magen hätte. Schon beim Frühstück im Hause Kerkhoff...
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