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Zwischen Schweigen und Sprechen entsteht in Offenes Wasser ein poetisches und weitläufiges Bild von Trauer und Glück, von Tod und Geburt. Mit erzählerischer Schärfe nähert sich Daniel Pedersen dieser Gleichzeitigkeit des Lebens.
Die Nachricht trifft den Erzähler wie ein Schock: Sein Vater wurde im Wasser gefunden, ein Freitod. Er versucht zu verarbeiten, zu verstehen, was seinen geliebten Vater zu diesem Schritt trieb. Was für ein Mensch war er, was bewegte ihn? Was für ein Sohn war er selbst? Im Umgang mit dem Tod kommt er durch Erinnerungen, Briefe und Dokumente dem Vater ein letztes Mal nah. Und gleichzeitig wird die Trauer durchbrochen durch ein neues Glück: Er wird selbst Vater einer Tochter. Doch wie Vater werden, wie Vater sein, wenn man den eigenen gerade verloren hat?
I
Der Ort ist Västerbotten, die Zeit Frühling. Ein altes Haus steht an einem Fluss. Die Erde befreit sich allmählich vom Schnee, es tropft von den Dächern, es rieselt und rauscht vor Aufbruch. Ein Mann sitzt zwischen Umzugskartons an einem Küchentisch, er trauert, er trauert nicht. Es ist die Zeit des Abschieds, ein Mensch wurde beerdigt. Er verlässt diesen Ort, um nach Süden zu ziehen, in Gedanken folgt er den Straßen von der Küste ins Landesinnere, hinauf in die Berge. Jetzt lässt er die Toten zurück, nimmt die Lebenden mit sich.
Er ist ich.
Vor mir liegen zwei Zeitungsnotizen.
Die eine teilt knapp mit, dass ein Mann um die 65 vermisst wird und die Polizei den Auslaufkanal eines Wasserkraftwerks nach ihm absucht. Zwischen den Zeilen steht, dass der Mann tot ist, alles andere wäre ein Verstoß gegen die natürliche Ordnung. In Anbetracht der Umstände müssen Kampftaucher der Marine herangezogen werden, die aber nur eine Stunde lang tauchen können, solange die Turbinen gestoppt sind. Mehr Zeit gibt es nicht. Die Bewegung ist unaufhaltsam, von den Bergen, den Wolken, den Fjälls ist der Zustrom konstant. Die aufgestaute Wassermasse übt einen solchen Druck auf den Damm aus, dass er zu bersten droht.
Die andere beschreibt ein Ereignis, das 60 Jahre zurückliegt:
Ein Augenzeuge berichtet, dass Frau P ihre Tochter K in den Armen hielt. Als man durchs Fenster in den Schienenbus sah, fand man Frau P leblos auf der Sitzbank mit den Armen um ihre weinende kleine Tochter. Frau P starb, ohne das Bewusstsein zu erlangen noch am Unfallort.
Was fehlt, ist die Information, dass die Mutter zwei Kinder hatte, nämlich noch einen älteren Sohn, der nicht auf der Reise dabei war. Dieser Sohn wird jetzt vermisst. Mein Vater.
Die Zeitungsnotiz vor Augen habe ich das dringende Gefühl, ich hätte schon früher wieder mit dem Schreiben anfangen sollen. Die Zeit hat mich diesem Tod gegenüber verstummen lassen. Jedes Wort, das ich schreibe, ist dem Schweigen abgerungen. Noch nie war ich so um Worte verlegen wie jetzt. Es fühlt sich an, als würde ich die Trauer eines anderen Menschen rekonstruieren. Wie anders war es damals, in den ersten Wochen nach seinem Verschwinden. Ich konnte gar nicht aufhören zu schreiben, jeden Tag brachte ich tausende Worte zu Papier, wie eine besessene Sprachtherapie. Die belanglosesten Dinge vor meinen Augen mussten registriert, verlebendigt werden. Mit Sprache zum Leben erweckt. Oder die Worte einfach so rasch aus dem Bewusstsein geschöpft, dass ich nicht über ihre Bedeutung nachdenken musste.
Hörte nicht auf zu erzählen, teilte Fremden beinahe erregt Informationen über das Verschwinden meines Vaters mit, wollte die Reaktionen in ihren Gesichtern sehen, wie sie verstummten, weil es nichts zu sagen gab. Ich wollte seine Abwesenheit in der Welt mit der Anwesenheit von Worten füllen, wollte, dass wir viele wären, die an ihn dachten, dass die Gedanken eine Kraft bildeten. Aber wer kann schon so um einen Menschen trauern, wie er es verdient. Dass ein Leben verloren gegangen ist. Vielleicht können nur Eltern so trauern. Die Last der Trauer erdrückt den Trauernden, und die Welt ist niemandem Tränen schuldig. Obwohl ich das wusste, hatte ich das kindische Bedürfnis, in meiner Verzweiflung gesehen zu werden. Wünschte, jemand würde rufen: »dieser Mann leidet«, und mich vorführen wie eine seltene Art. Ich wollte etwas, für das ich mich auf der Stelle hätte schämen müssen.
Der unbändige Drang zu erzählen endete augenblicklich ein paar Tage nach seinem Verschwinden, als das Kind kam. Es füllte ganz die Konturen des Mannes aus, der mein Vater gewesen war, und bald hatte ich das Gefühl, ihn schützen zu müssen, weil der Rhythmus, den es uns aufzwang, die Stationen einer Reise markierte, auf der er Gefahr lief, zunichte zu werden. Das Kind lehrte mich, wie ausgeliefert man dem Menschen ist, den man bedingungslos liebt.
In meiner Vorstellung kamen beide vom selben Ort, und sosehr ich versuchte, jeden Zusammenhang zu leugnen, empfand ich die Ankunft meiner Tochter als eine Rückkehr von den Toten.
In ihren meertrüben Augen suchte ich anfangs Botschaften von der anderen Seite. Waren sie einander im Vorhof begegnet, dem Transitort, an dem Seelen in beide Richtungen reisen?
Seitdem hat sich alles verändert. Jahre später ist es, als würden die Wörter zerbröckeln, unwirklich werden, und ich bin meinem eigenen Tod näher als meiner Geburt, alles, was ich über ihn schreibe, verlässt meinen Körper und löscht die Erinnerung an ihn. Jeder Federstrich verwischt seine Konturen, und in die Schrift geworfen ist er nicht mehr der Mensch, der er war, sondern jemand, den ich erschaffe. Ich lüge über ihn, um die Erinnerung an einen Menschen zu wahren, den es nie gab. Ich glaube, ich weiß, wer er war, aber ich weiß nicht recht, wen ich beschreibe.
Ich war eine Art Vampir geworden, der nährenden Schmerz aus meinem Blut saugen wollte, die Zwangsgedanken in Worte verwandeln. Aber alle Versuche, seine Nähe zu extrahieren wie eine Substanz, misslangen. Ich musste einsehen, dass die Textur der Trauer bei Tageslicht grau und schäbig wird und das, was ich so gern hätte vermitteln wollen, schon verschwunden war, eins geworden mit meinem Gesicht, meinem Wesen.
Nach seinem Verschwinden war ich fasziniert davon, welche weitreichenden Konsequenzen der Tod eines Menschen für die Natur und die Umgebung hatte. Andererseits war es irgendwie auch stimmig: Mein Vater hatte sein Leben der Maschinenindustrie gewidmet, er war mehr für Fertiggerichte zu haben als für Essen, das in einem Lokal »zusammengeköchelt« wurde. Jetzt war er tatsächlich eins mit der Ära der Naturbeherrschung geworden, die sein ganzes Leben geprägt hatte. Die Energien der riesigen Turbinen, der Druck der Wassermassen, die Kräfte, die im Spiel waren, wenn eine gigantische Konstruktion plötzlich vor dem tiefsten Dunkel eines einzelnen Menschen in einer Februarnacht Halt machen musste. Der See oberhalb erstreckt sich viele Kilometer landeinwärts, schmiegt sich um kleine Inseln mit Sommerhäusern, sogar weiter noch, bis zu den Bächen des Fjälls. Als die Suche plötzlich in eine rein technische Operation umschlug, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen, denn ich wusste, mein Vater gehörte zu der Generation, die von der Hybris des Menschen fasziniert war. Und je mehr ich von der Konstruktion des Damms, dem Druck auf den Turbinen und dem in den Fels gesprengten Kanal erfuhr, desto besser verstand ich, wie schwierig es war, das Kraftwerk einfach anzuhalten. Flüchtig und trügerisch ist die Macht über die Natur.
Der Tod eines Menschen konnte nicht verhindern, dass Schnee fiel, Eis fror und Wasser floss. Es hatte etwas Beruhigendes, dass die Welt nicht stehenblieb, nur weil eine Familie zerbrochen, dass der Schmerz des Einzelnen nicht der Schmerz aller war. Ich horchte in meiner Einsamkeit auf den Gesang des Eises am Ufer, wenn der steigende Druck die riesige Scholle hob und kapillarfeine Risse einen Blutkreislauf formten, wie Steine, die am Wasserrand gegeneinanderrieben, klagende Laute aussandten, die vom Flussboden abprallten und eine Sekunde lang vielleicht einen Fisch auf Futterjagd interessierten, nur um dann zu verhallen. Das war das Totenlied meines Vaters in der Natur. Mehr nicht, kein Mensch hatte es gehört, und eine Stunde später, als die Taucher an Land waren, wurden die Turbinen wieder in Gang gesetzt. Damit war das Lied vorbei, stattdessen nichts als das kopfschmerzdröhnende Tosen der Turbinen und die Vibrationen unter Wasser.
Der üppige Zustrom aus den Fjälls hört nie auf, und durch Nebenflüsse und Bäche, Flussgabelungen und Kanäle war er für einen kurzen Moment mit der ganzen Landschaft verbunden, hatte seine Füße in den Bergen, seine toten Finger im Meer.
Die nächsten Phasen der Suche hätten ihn ebenso fasziniert, da bin ich mir sicher. Der Zeitfaktor, wie schnell sich die Lunge mit Wasser füllte. Sank er sofort auf den Grund, oder hatte ein Rest Luft in der Lunge gereicht, um ihn mit der Strömung treiben zu lassen? Völlig aufgeregt, eine Lösung für dieses praktische Problem gefunden zu haben, schlug ich der Polizei vor, ein paar Kilometer stromabwärts ein Netz zu spannen, an einer Flussenge, an der, wie mein Vater oft erzählt hatte, einmal ein amerikanischer Tourist ertrunken war....
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